12.11.2020

Lobende Erwähnung!

The Circle
In nur 15 Minuten volle Komplexität: The Circle von Lanre Malalou
(Foto: 19. doxs!)

Preisgekrönte Kinderfilme beim 19. doxs! Duisburg

Von Christel Strobel

In diesem Jahr war – wie schon bei so vielen Film­fes­ti­vals – auch in Duisburg alles anders, wobei die letzte Entschei­dung dann doch absolut kurz­fristig notwendig wurde. Bereits seit April wurde an alter­na­tiven Konzepten gear­beitet, die nach dem Wunsch des Festival-Teams »auch im Falle eines erneuten Anstiegs der Corona-Fall­zahlen dem jungen Publikum ermö­g­li­chen sollten, die Filme zu sehen und mit den Film­schaf­fenden darüber direkt ins Gespräch zu kommen«. Die Hoffnung, dass Schul­klassen alle 18 ausge­wählten Doku­men­tar­filme aus elf euro­päi­schen Ländern zusammen mit den inter­na­tio­nalen Gästen im Kino, auf der Kino­lein­wand sowohl in Duisburg als auch im Rahmen von »doxs! ruhr« in Bochum, Bottrop, Dortmund, Essen, Gelsen­kir­chen und Moers erleben können, erfüllte sich nicht. Nachdem auf Anweisung von Bund und Ländern ab 2. November – dem ersten Tag der Duis­burger Filmwoche – der zweite Lockdown in Kraft trat, der auch die Schließung aller Kinos umfasst, musste das gesamte Programm als Online-Festival durch­ge­führt werden. Außer der Sichtung auf einer Online-Plattform boten mode­rierte Video­kon­fe­renzen mit den Film­schaf­fenden für die Schüler*innen die Möglich­keit zum Film­ge­spräch.

Auch die beiden Preis­ver­lei­hungen, bei denen in diesem Jahr ein Jubiläum zu feiern war, fanden in digitaler Form statt.

Die GROSSE KLAPPE, gestiftet von der Bundes­zen­trale für poli­ti­sche Bildung, mit 5000 Euro dotiert und von einer Jugend­jury (14 Mitglieder von 14 bis 17 J.) vergeben, wurde zum zehnten Mal verliehen. Preis­träger 2020 ist:

The Circle
(Regie: Lanre Malalou, UK 2019, 15 Min., Alters­s­emp­feh­lung ab 16 J.)

Es ist beein­dru­ckend, wie dieser 15-minütige Doku­men­tar­film ein komplexes wie brisantes Thema spannend und einfühlsam vermit­telt. »Schwarz und aus Hackney – für die meisten ist damit alles klar. Der Londoner Stadtteil steht für Krimi­na­lität, Drogen und Banden­kriege.«

Für die beiden Brüder David und Sanchez ist Hackney der einzige Ort, den sie kennen, und der ist sowohl der »liebens­wer­teste Ort« als auch einer, aus dem sie einfach nur weg wollen, denn sie wissen, dass es ein besseres Leben außerhalb gibt. Trotz aller rassis­ti­schen Anfein­dungen haben sie die Zuver­sicht, etwas aus ihrem Leben machen zu können: »Wir machen das schritt­weise und das kriegen wir hin.« Aber sie sprechen auch über schmerz­liche Erfah­rungen: »Es tut weh, wenn Leute um dich herum sterben, auch wenn man das nicht zeigt.« So wie der Bruder eines Freundes, der für David wie ein Mentor war und durch eine Messer­ste­cherei ums Leben gekommen ist. Sie reflek­tieren über Vorur­teile, so erzählt Sanchez von einer Situation, als er einen Anzug trug, aber »das ändert nicht, wie sie mich sehen. Wenn ich eine andere Hautfarbe hätte, würde ich anders behandelt werden. Das ist schwer zu verstehen.« Es macht sie psychisch krank, wenn sie immer wieder mit Ablehnung, mit Hass und Gewalt konfron­tiert werden, Aber es gab auch Männer, die wie eine Vater­figur für David waren, sein Fußball­trainer, Leute beim Jugend­treff und »Leute da draußen, die auf mich aufpassten.« Und natürlich bedeutet ihm die Mutter alles. »Jeder könnte aufhören, mich zu lieben und mich zu hassen, aber solange meine Mutter mich liebt, wäre mir alles egal.«

Diese sehr persön­li­chen Aussagen der Brüder David und Sanchez Smith sind mit teils beklem­menden, teils befrei­enden Choreo­gra­fien visua­li­siert. Der Film hat die Jugend­jury auch deshalb überzeugt, in ihrer Begrün­dung heißt es u.a.:

»…Im Kontrast zu den gravie­renden und aktuellen Proble­ma­tiken, die der Film anspricht, stehen die beein­dru­ckenden Choreo­gra­fien, die die verschie­denen Themen unter­malen und die Gedanken- und Gefühls­welt der Prot­ago­nisten in physische Bewe­gungen umwandeln. Bemer­kens­wert hierbei fanden wir, dass die Choreo­gra­fien von einer lokalen Tanz­gruppe umgesetzt wurden. Dadurch, dass Prot­ago­nist*innen aus Hackney eine Bühne geboten wird, wirkt der Film extrem authen­tisch.«

The Circle entstand in Zusam­men­ar­beit mit dem Young Actors Theatre und dem Jugend­zen­trum Quest in Hackney. Der Regisseur und Choreo­graf Lanre Malalou, selbst in Hackney aufge­wachsen, ist für Theater und Film in London tätig und verbindet in seinen Werken Texte, Hip-Hop, zeit­genös­si­schen Tanz und Bewe­gungs­theater, um soziale und poli­ti­sche Gege­ben­heiten zu hinter­fragen.

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Die Jugend­jury vergab noch eine Lobende Erwähnung an:

MEZERY / Spaces
(Regie: Nora Štrbová. CZ 2020, 8 Min., ab 15 J.)

mit der Begrün­dung: »…Der Film thema­ti­siert den Krank­heits­ver­lauf des Bruders der Regis­seurin. Besonders erwäh­nens­wert sind Bild und Tonebene, welche sowohl Inhalt als auch Stimmung des Films gelungen reprä­sen­tieren. Vor allem die Variation in Zeichen­stil und Geräusch­ku­lisse beein­dru­cken uns sehr und verdeut­li­chen die Origi­na­lität des Films.«

Die in Bratis­lava geborene Regis­seurin lebt in Prag und studierte dort an der berühmten FAMU (Film- und Fern­seh­fa­kultät der Akademie der Musischen Künste) mit Schwer­punkt Animation und Doku­men­tar­film. Dementspre­chend arbeitet sie gern doku­men­ta­risch und widmet sich der expe­ri­men­tellen Animation, wofür Mezery ein gelun­genes Beispiel ist.

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Ein über­zeu­gendes Beispiel für Realfilm mit Anima­ti­ons­ele­menten zum Thema Tod ist auch WOLKENZUSJE / Wolken­schwester
(Regie: Sara Kolster. NL 2019, 16 Min., ab 12)

Hier geht es um das Mädchen Kess, dessen große Schwester gestorben ist, als Kess fünf Jahre alt war. Sie spricht eigent­lich nicht gern darüber, höchstens privat mit ganz guten Freun­dinnen, und befürchtet die Frage, ob sie Geschwister hat, wenn sie demnächst auf eine neue Schule kommt. Kess will es nicht vor der ganzen Klasse sagen, möchte kein Mitleid. Der nieder­län­di­schen Künst­lerin und Filme­ma­cherin Sara Kolster ist mit der Verbin­dung der beiden Ebenen – Realfilm und Animation – eine sensible Reflek­tion über ein immer wieder berüh­rendes Thema gelungen.

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Ein ganz anderes Problem beschäf­tigt eine Elfjäh­rige in dem Film:

Aïcha
(Regie: Laura Bleck und Faraz Shariat, DE 2020, 20 Min., ab 12)

Eine Mädchen­gruppe, mehr­heit­lich auslän­di­scher Herkunft, disku­tiert lebhaft über Namen: »Jeder Name hat eine Bedeutung – mein Name bedeutet Sonnen­schein – meiner die Freund­liche«… Aϊcha weist selbst­be­wusst auf »das i mit zwei Punkten« in ihrem Namen hin. Zu Hause ist gerade ein Brief ange­kommen: Der Einbür­ge­rungs­be­scheid löst große Freude bei der Mutter aus, Aϊcha schaut sich den genauer an und stellt fest: »Mama, da ist ein Fehler in meinem Namen!« und auf die Frage der Mutter: »Der zweite Punkt ist nicht da!« Nach deren Erklärung stellt die Tochter sie streng zur Rede, warum sie ihren Namen in Aicha geändert habe und lässt auch deren Erklärung, dass man manche Namen hier in Deutsch­land anders schreibt, nicht gelten. Aϊcha beharrt, dass ihr Namen mit zwei Punkten auf dem i geschrieben wird und nicht anders!

Was als amüsanter Disput erscheinen mag, ist nicht zuletzt ein ernst­hafter Beitrag zur Diskus­sion über Identität, Selbst­ver­ständnis und Anpassung.

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Von einem Land, das allgemein nicht gerade für musi­ka­li­sche Akti­vi­täten bekannt ist, berichtet:

ORCHESTER Z KRAJINY TICHA / Orchester aus dem Land der Stille
(Regie: Lucia Kašov, SK 2020, 30 Min., ab 14 J.)

Kabul, Afgha­ni­stan 2019 – Der Film beginnt mit einem Vorwort: »Denen, die Musik hören, wird am Tag der Aufer­ste­hung geschmol­zenes Blei in die Ohren gegossen. Hadith veröf­fent­licht von der Taliban in 1994 (Regie­rende Partei in Afgha­ni­stan 1996 – 2001)«

Und so wuchs Marzia mit dem Gebot ihres Vaters auf: »Gute Muslime machen keine Musik«, also erklang auch nie Musik, nicht mal auf Hoch­zeiten. Im Dorf hatte sie ein hartes Leben, konnte nie spielen, weil sie arbeiten und auch in ihrer Freizeit Haus­ar­beiten machen musste. Sie erzählt, dass es anderen Mädchen noch viel schlimmer geht, weil sie verhei­ratet sind, Kinder haben und zusätz­lich noch arbeiten müssen.

Marzia aber hatte die Kraft zum Weggang nach Kabul, wurde dort im Zohra Ensemble aufge­nommen, dem ersten und einzigen Frau­en­or­chester Afgha­ni­stans. Nachdem sie schon sieben Jahre an der Musik­schule in Kabul studiert hat, rief ihre Mutter an, dass sie dort aufhören soll – ihr Dorf wird von der Taliban kontrol­liert und die Familie fürchtet Anschläge. Der Lehrerin jedoch gelingt es, dass Marzia im Orchester bleibt und schließ­lich auf Einladung mit zum »Festival Pohadka« in die Slowakei fährt. Dort werden die Musi­ke­rinnen jubelnd empfangen, und auch das Interesse an Infor­ma­tionen aus erster Hand über das wenig bekannte kultu­relle Leben ist sichtlich groß. Der Orches­ter­leiter erinnert an die Zeit in Afgha­ni­stan, wo keine Mädchen die Schule besuchen durften – heute sind über 9 Mio. Kinder einge­schult und 40 % davon sind Mädchen. Er erinnert auch an den Anschlag eines Selbst­mord­at­ten­tä­ters auf das Orchester in 2014, wobei er sein Hörver­mögen verlor und erst nach mehreren OPs seine Arbeit im Orchester wieder aufnehmen konnte. »Wir tun unser Bestes, diese Gegner zu schlagen mit der Schönheit der Musik.«

Und am Ende ist Marzia zu hören mit ihrem Wunsch, eine Diri­gentin zu werden und in ihrem Dorf eine Schule zu bauen, um den Menschen dort zu helfen. Die Stärke des Doku­men­tar­films Orchester aus dem Land der Stille liegt in der Vermitt­lung eines anderen Bildes, was in der Bericht­erstat­tung übli­cher­weise kaum beachtet wird.

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Wellen aus Licht
Wellen aus Licht (Foto: 19. doxs!)

Die ECFA-Jury (European Children’s Film Asso­cia­tion) vergab zum fünften Mal (was auch ein kleines Jubiläum war) den ECFA Docu­men­tary Award.Nominiert waren sechs Filme und die in diesem Jahr online beratende Jury (Linda Paulsen, Hamburg; Anna Pedroli, Amsterdam; Claudia Schmid, Luzern) entschied sich für

Wellen aus Licht
(Samuel Schwarz, DE 2019, 16 Min. ab 10 J.)

Frida, 12 Jahre, tastet mit ihrer Hand über ein Kunstwerk. Sie ist auf dem linken Auge fast und auf dem rechten Auge komplett blind und wir erleben mit ihr die unter­schied­li­chen Wahr­neh­mungen und Eindrücke ihrer Umgebung, die sie klar formu­liert. Am liebsten hat sie den Wald, wo sie durch das gleich­mäßige Rauschen der Bäume und die Gerüche der Natur zur Ruhe kommt. Die Stadt mit ihren lauten Geräu­schen und spürbaren Hektik dagegen ist anstren­gend, bringt sie aus dem Gleich­ge­wicht.

Frida denkt viel nach und kommt zu verblüf­fenden Erkennt­nissen. Unver­mit­telt auf einem ihrer Wald­spa­zier­gänge sagt sie »ich glaube nicht an Engel, ich glaube auch nicht an Gott. Aber an die Energie, die wir in uns haben. Wir machen ja dauernd was und da werden wir ja ange­trieben. Wir bleiben ja, wenn wir ein Ziel wollen, mit dem Ziel nicht einfach stehen, sondern machen weiter. Wenn wir wirklich wollen, bringen wir die Dinge zu Ende, von denen wir geglaubt haben, dass wir sie zu Ende bringen können. … Und an diese Energie glaube ich und schließt mit schöner Selbst­ver­ständ­lich­keit „und an mich.“«

Wellen aus Licht vermit­telt das – auch formal durch­dachte und mit Anima­ti­ons­teilen gestal­tete – beein­dru­ckende Bild eines nach­denk­li­chen wie starken und selbst­be­wussten Mädchens – ein Film, der auch mein Favorit des dies­jäh­rigen Programms war.

Der Film entstand an der Film­uni­ver­sität Babels­berg Konrad Wolf, wo Samuel Schwarz (Jg. 1996) nach Abschluss in Kunst­ge­schichte und Thea­ter­wis­sen­schaft ein Regie­stu­dium begann und als Autor und Regisseur tätig ist.

Karla und Nordahl
(Regie: Elisabeth Aspelin, NO 2019, 19 Min., ab 6 J.)

Nordahl, der große Bruder, hat Epilepsie und seine kleine Schwester Karla ist die wich­tigste Bezugs­person für ihn. Karla ist geduldig, spielt mit ihm, hilft beim Anziehen und ist zärtlich zu ihm – meistens jeden­falls. Nur manchmal spricht sie über ihre Situation, denn sie muss auch immer wieder mal ihre Inter­essen zurück­ste­cken, zum Beispiel: Karla will ein Spiel auf ihrem Tablett machen, aber Nordahl will mit ihr und seiner Kuschel-Stoff­biene spielen… Diese nicht ganz konflikt­freie Geschwis­ter­be­zie­hung ist aber einge­bettet in eine gelassen-heitere Grund­stim­mung ihrer Umgebung. So ist Karla und Nordahl ein sympa­thi­sches Regie­debüt von Elisabeth Aspelin, die dabei auch für Kamera, Montage und Ton verant­wort­lich war.

Circus Zonder Tent / Zeitloser Zirkus
(Regie: Nina Landau, BE 2020, 16 Min., ab 8 J.)

»Meine Familie ist ein Zirkus« kann die zwölf­jäh­rige Romy sagen, denn sechs Monate im Jahr treten sie – Vater, Mutter, Bruder und sie – in einem Verg­nü­gungs­park in Frank­reich auf, wohnen während­dessen in einem großen Campingbus, dennoch eng zusammen, müssen zwischen den Vorstel­lungen immer wieder hart trai­nieren, was Romy manchmal an die Schmerz­grenze bringt, genießen zum Ausgleich den Abend zwischen Achter­bahn und Trampolin, wenn alle Besucher weg und sie die einzigen Menschen dort sind. Das Zirkus­leben bedeutet für Romy aber auch immer wieder einen traurigen Abschied von der Schul­klasse in Belgien, die sie in der mehr­mo­na­tigen »Zirkus­pause« besucht. Nina Landau hat mit »Zeitloser Zirkus« einen rasanten Doku­men­tar­film gedreht, der einen Blick hinter die Zirkus-Kulissen wirft und für die meisten Kinder vor der Leinwand ein seltenes Vergnügen sein dürfte.

Schau in meine Welt: DANCING ABDULLAH
(Regie: Marco Giaco­puzzi, DE 2019, 26 Min., ab 10 J.)

Der Junge Abdullah tanzt, wo er kann – zu Hause im Wohn­zimmer, im Bad, im Hof… Er bewegt sich geschmeidig und rhyth­misch stimmig zum HipHop. Er ist mit seiner Familie aus Syrien nach Deutsch­land gekommen, die erste Zeit war schwer. Es hat ihm wehgetan, wenn er als »Kanake« beschimpft wurde. Abdullah ist ein hübscher Junge mit einem feinen Gesicht und wilden dunklen Locken. Mit dem Trainer der Tanz­gruppe verbindet ihn eine Freund­schaft und in diesem Jahr fährt er mit ihm ins englische Blackpool zur Welt­meis­ter­schaft. Abdullah kommt sogar ins Finale, schafft es aber nicht weiter. So hat er sich zum Ziel gesetzt, im nächsten Jahr wieder teil­zu­nehmen und den 1. Platz zu gewinnen…!

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Aus diesen Film­vor­stel­lungen geht schon das inhalt­liche und formale Spektrum der dies­jäh­rigen doxs!-Ausgabe hervor und für das Team war es eine enorme Leistung, unter den gegebenen Umständen so kurz­fristig das Festival als komplette Online-Ausgabe durch­zu­führen. Was natürlich fehlte, war der persön­liche Austausch über die Filme und über die Arbeit und Pläne der anderen Fach­be­su­cher, die man sonst in Duisburg regel­mäßig trifft. Bei so einem Festival der kurzen Wege, das zudem immer in einer ange­nehmen wie kommu­ni­ka­tiven Atmo­s­phäre stattfand, war das ein beson­derer Wert der Duis­burger Filmwoche. So aber bleibt die Hoffnung auf ein »physi­sches Wieder­sehen« im nächsten Jahr!