13.12.2018

Proust bei der Feuerwehr

Jihlava
Western, Famille et Communisme konnte nachhaltig beeindrucken
(Foto: Ji.hlava)

Aggregatzustände des Dokumentarfilms: Ein Streifzug durch das diesjährige »Ji.hlava« Dokumentarfilmfestival

Von Michael Hack

Schon seit Jahren ist die Autobahn von Prag nach Brünn nur einge­schränkt befahrbar – so sehr, dass der Fahrer, der die bunt zusam­men­ge­wür­felte japanisch-tsche­chisch-britisch-deutsche Reise­gruppe nach Jihlava bringen soll, dem Stau für einige Kilometer auf Feldwege auswei­chen muss. Die Reise nach Jihlava, auf halber Strecke zwischen den beiden größten Städten Tsche­chiens gelegen, mutet daher nach einer größeren Expe­di­tion an, als es die Entfer­nung eigent­lich geböte – was aber ganz und gar dem Gefühl der Entle­gen­heit entspricht, das sich bei der Ankunft einstellt.
»Ji.hlava«, wie das größte tsche­chi­sche Doku­men­tar­film­fes­tival korrekt heißt, ist eine Ausnah­me­erschei­nung: Vor über zwanzig Jahren von einer Gruppe Studenten gegründet – sie leitet es noch heute –, an einem Ort, den man gemeinhin als Provinz bezeichnen würde, hat es sich zu einer wage­mu­tigen Veran­stal­tung entwi­ckelt, die zu den Grün­dungs­mit­glie­dern der »Doc.Alliance« zählt, dem Verbund der großen euro­päi­schen Doku­men­tar­film­fes­ti­vals.

Dabei hat »Ji.hlava« einigen Versu­chungen wider­standen, denen Festivals auf einem solchen Weg regel­mäßig begegnen – zuvör­derst derje­nigen, Bedeutung durch eine vermeint­liche Popu­la­ri­sie­rung des Programms zu erreichen. Der Wett­be­werb des Festivals folgt konse­quent der Lust am Expe­ri­ment. Talking Heads sucht man hier vergeb­lich. Seine Preis-Jury besteht aus einer einzigen Person, in diesem Jahr dem polni­schen Regisseur und Produ­zenten Krysztof Zanussi.

Viele der Filme scheinen Versuchs­an­ord­nungen an der in der Doku­men­tar­film­szene zur Zeit viel beschwo­renen Grenze zur Fiktion. Da wäre zum Beispiel Albertine a disparu, von Véronique Aubouy, in dem die Regis­seurin der Crew einer fran­zö­si­schen Feuer­wehr­sta­tion Sätze aus Prousts »Suche nach der verlo­renen Zeit« in den Mund legt. Die Irri­ta­tion funk­tio­niert anfangs tatsäch­lich erstaun­lich gut. Das Alter Ego des Erzählers rutscht eine Feuer­wehr­stange herunter und erzählt seinen empfindsam zuhö­renden Kolle­ginnen vom Verdacht der homo­ero­ti­schen Umtriebe seiner Lebens­ge­fährtin, der Geschichte des fünften Bands des großen Roman­werks. Die Laien rezi­tieren zudem wort­si­cher. Dieses Moment der Irri­ta­tion verschleift sich aller­dings recht schnell, und spätes­tens als Proust-Bände und -Memo­ra­bilia im Regal des Feuer­wehr­hauses auftau­chen, ist er einer glatt ablau­fenden Rezi­ta­ti­ons­rou­tine gewichen.

Wesent­lich inter­es­santer und plas­ti­scher tritt diese Grenze in Sanaz Azaris Faites sortir les figurants in Erschei­nung. Azari begleitet darin mehrere Gruppen von Statisten zu Filmsets. Der Film beginnt mit prägnanten, aber nicht unge­wöhn­li­chen Beob­ach­tungen von Dreh­ar­beiten: Aufbau, Kostüme, Maske, dann Warten, kurze Dreh­ar­beiten, fertig. Doch langsam nehmen dieje­nigen, die im Film keine Persön­lich­keiten haben, Konturen an. Nicht nur lauschen wir Gesprächen über die Gründe, die sie an dieses Set gebracht haben, die Statisten kommen­tieren auch das Film­ge­schehen. Das wird besonders prägnant in den Szenen, in denen die migran­ti­schen Komparsen sich darüber austau­schen, welches Bild von sich sie vor der Kamera (der anderen) verkör­pern sollen. Azari stellt der glatt laufenden Maschine der Bilder­pro­duk­tion gleichsam einen Chor zur Seite und damit die über­kom­menen Kate­go­rien in Frage – hier die doku­men­ta­risch gefilmten Schau­spieler am Set, dort das Kunstwerk Film –, indem sie sie gleichsam essay­is­tisch in einen Dialog bringt, ohne dazu freilich eines erläu­ternden Kommen­tars zu bedürfen, wie es in diesem Genre sonst oft üblich ist.

Auch Western, Famille et Commu­nisme von Lauren Krief kreist um die Fiktion, die Herstel­lung von Bildern. Die Frau des Regis­seurs hat den Auftrag zu einer künst­le­ri­schen Fotoserie aus dem Iran bekommen und reist nun mit der Familie in einem Wohnmobil durch das Land. Das Ganze hat den Charakter eines visuellen Notiz­buchs, in dem sich poli­ti­sche Refle­xionen mit Alltags­be­ob­ach­tungen und insze­nierten Sequenzen abwech­seln. Das macht zunächst einmal große Lust beim Zuschauen: lange verweilt Krief bei einer Schaf­herde, die mit dem Wasser­schlauch ihrer Tränke spielt und dann von einem fußlahmen Hund durch die Step­pen­land­schaft geführt wird. Man beob­achtet seine Frau dabei, wie sie die Tochter in einem unter­ir­di­schen Raum, der nur von einem konzen­trierten Licht­strahl erleuchtet wird, foto­gra­fieren will. Während der Vater mit den Töchtern in der kargen Wüsten­land­schaft des Orients Western­se­quenzen nach­spielt. Der Stil der Bilder wechselt von beiläufig aufge­nom­menen Alltags­be­ob­ach­tungen bis hin zu spie­le­risch stili­sierten Sequenzen mit Über- oder Unter­be­lich­tungen. Die Betrach­tungen eines irani­schen Freunds über die Verfasst­heit und die Zwänge der irani­schen Gesell­schaft geben dem Bilder­reigen einen weiteren poli­ti­schen Reso­nanz­raum. So entsteht langsam ein Fami­li­en­por­trait, das im Kern zeigt, wie Erfah­rungen zu Erin­ne­rungen werden, wobei die Spannung zwischen Foto­grafie und Film als Metapher für die verschie­denen Aggre­gat­zu­stände dient. Die Gerinnung gelebten Lebens ist dabei ein lust­voller Prozess, der letztlich auch auf die Erfahrung des Kino­zu­schauers verweist. Notwen­di­ger­weise bleiben bei einem solchen Tage­buch­film viele Stränge offen, notwen­di­ger­weise hat er auch immer eine esote­ri­sche Seite. Aller­dings irritiert Kriefs Verweben der irani­schen Erzählung mit immer wieder einge­streuten Frag­menten von Demons­tra­ti­ons­zügen in Paris, die eine Bedeu­tungs­ebene sugge­riert, die wir nie verorten können. Dennoch bleibt sein Beitrag einer der Höhe­punkte des Wett­be­werbs.

Das gilt auch für Jacques Percontes Albâtre. Hier geht es nicht mehr um die Herstel­lung von Bildern, um Fiktion oder Narration, es geht um ihre Auflösung. Entstanden als Auftrags­werk in Zusam­men­ar­beit mit dem Kompo­nisten Carlos Grätzer, kostet Perconte hier das Inein­an­der­fließen orga­ni­scher und digitaler Struk­turen aus. Albâtre beginnt mit der Aufnahme der Brandung, deren sich kräu­selnde Wellen und Schaum­kronen sich durch Kompres­sion langsam in digitale Artefakte verwan­deln. Wie das Kommen und Gehen der Wellen zieht sich diese Kompres­sion und Dekom­pres­sion durch den ganzen Film. Bilder werden über­ein­an­der­ge­la­gert, verschwimmen – Wortspiel beab­sich­tigt – inein­ander, wobei die Bewe­gungen von Vögeln oder Schiffen oftmals als Auslöser der Trans­for­ma­tionen dienen, indem sie Schneisen in das digitale Rauschen schneiden. Albâtre ist nicht nur eine Medi­ta­tion über die mate­ri­elle Beschaf­fen­heit des Bildes im digitalen Zeitalter, sondern auch eine über unsere Natur­bilder, über die Naivität, die unseren visuellen Allge­mein­plätzen idyl­li­scher Land­schaften inne­wohnen. Unver­mit­telt musste ich an das schöne Gedicht »Mistral« von Eugenio Montale denken, das mit den Versen endet: »Schau: / Unter dem gedrängten Blau / des Himmels zieht ein Meeres­vogel dahin / und er steht nie still, denn in allen Bildern steht geschrieben / 'weiter fort'«.

Auch in »Ji.hlava« setzt man beim Wett­be­werb freilich auf Welt- oder inter­na­tio­nale Premieren, was die Auswahl vermut­lich etwas einschränkt. So wird aus vielen sehr sehens­werten Beiträgen nicht wirklich ein Ganzes; sehr freie Beiträge wie der genannte Albâtre etwa stehen neben etwas ungelenk sich an narra­tiver Doku­men­ta­tion versu­chenden Filmen wie dem knackig beti­telten »Until Porn Do Us Part« und Komplett­aus­fällen wie dem fran­zö­si­schen Nu, einem uner­trä­g­lich kitschigen Reigen klischee­be­la­dener Bilder mensch­li­cher Eingriffe in die »unbe­las­sene Natur«, die von einem nicht minder pathe­ti­schen und intel­lek­tuell dürftigen Voice-Over begleitet werden.

Auch jenseits des Wett­be­werbs hielt »Ji.hlava« viel Inter­es­santes bereit, eine Reihe zum liba­ne­si­schen Essayfilm etwa oder eine sorg­fältig kura­tierte Retro­spek­tive zum Direct Cinema. Beim Durch­stö­bern des gewal­tigen Katalogs wird aber schnell klar: einer Versu­chung hat das Festival nicht wider­standen – dem Aufblähen des Programms. Neben dem Haupt­wett­be­werb steht einer für Erst­lings­werke, einer für mittel- und osteu­ro­päi­sche, einer für tsche­chi­sche Arbeiten, einer für Hoch­schul­filme und für Kurzfilme. Ganz zu schweigen von drei thema­ti­schen Reihen zu Wissen, Natur und Politik. Dazu kommen Master­classes, Diskus­si­ons­ver­an­stal­tungen, sowie Sektionen zu VR und Video­kunst. Das kann, wie ein Blick auf die eher lieblos präsen­tierten Video­ar­beiten zeigt, nicht immer auf hohem Niveau geschehen.

Wer die Suche und das Risiko nicht scheut, kann in »Ji.hlava« Entde­ckungen unkon­ven­tio­neller Arbeiten machen, die anderswo durch das Raster fallen würden. Und in jedem Fall eine pitto­reske Stadt entdecken, die sich für sechs Tage voll­s­tändig in den Dienst einer ganz und gar nicht provin­zi­ellen Sicht­weise auf das Kino stellt.

Trans­pa­renz-Mittei­lung:
Der Autor wurde für die Mode­ra­tion eines Panels im Rahmen des Industry-Programms vom Festival einge­laden
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