13.09.2018

»Das Verstehen als sinn­li­ches Vergnügen«

Helmut Merker – ein leidenschaftlicher Cineast ist soeben mit 76 gestorben

Von Josef Schnelle

Helmut Merker war mein Redakteur beim Radio und beim Fernsehen des WDR. Und ein guter Freund. Er lebte damals im von ihm unge­liebten Köln, das er nach seiner Pensio­nie­rung sehr schnell in Richtung Berlin verließ. Trotzdem traf ich ihn regel­mäßig wieder bei den großen Film­fes­ti­vals in Berlin (natürlich), in Cannes und Venedig. Und er war stets stolz, wenn er in sein kleines Büchlein, in das er die gesehenen Filme eintrug, endlich bei den letzten Filmen eine 5 vorweg setzen konnte. Ein fleißiger Liebhaber des Films also. Viele Filme hat er immer gerne gesehen und leiden­schaft­lich für seine Lieb­lings­filme gekämpft, als Redakteur der Film­re­dak­tion des WDR, deren Programm mindes­tens eine ganze Genera­tion von Film­lieb­ha­bern geprägt hat. Helmut war auch für das Plakat für die „Kinozeit“ zuständig und war stets auf der Jagd nach dem einen ganz beson­deren Aufma­cher­bild zu einem der beson­deren Filme dieser Reihe für deren Beschaf­fung die Redak­teure Wilfried Reichart, Roland Johannes, Werner Dütsch und eben Helmut Merker damals tatsäch­lich noch um die Welt – und ja (!) auch nach Hollywood – reisen durften. Die künst­liche Trennung zwischen Autoren­kino und Main­stream­film exis­tierte für ihn ja nie. Es gab allein gute und schlechte Filme.

Am 4. Januar 1978 startete unter der Regie von Helmut Merker selbst zu François Truffauts Der Mann, der die Frauen liebte eine film­kund­liche Reihe, die bis heute von anderen Fern­seh­for­maten uner­reichte Maßstäbe setzen sollte. Dabei fing der „Filmtip“ (der sich auch nach der Schreib­re­form von 1996 konse­quent dem neuen Doppel-P verwei­gerte) als fast unsicht­bare Pira­ten­ak­tion an. Wegen unter­schied­li­cher Film­lauf­zeiten blieb manchmal nach dem Ende des Spiel­films am Abend im WDR Fernsehen eine Rest­lauf­zeit, die irgendwie gefüllt werden musste. Das hätte man auch mit belie­bigen Programm­trai­lern, Schrift­ta­feln oder Test­bil­dern machen können. Statt­dessen entstand quasi „klamm­heim­lich“ eine neue Form der Ausein­an­der­set­zung mit Filmen im Fernsehen mit strenger Form und eisernen Prin­zi­pien. Zunächst bekamen die Autoren, oft die Crème de la Crème der damaligen deutschen Film­kritik, immer den gesamten Film als Material gestellt. Es wurde also nicht mit den von PR-Agenturen stets ange­bo­tenen Trailern oder Elec­tronic Press Kits (EPKs) gear­beitet, sondern grund­sätz­lich der gesamte Film analy­siert und damit in einer Montage von frei­ste­henden Ausschnitten und betex­teten und von den Autoren mit analy­ti­schem Blick über­spro­chenen Stand­photos gear­beitet, die auf Kame­ra­ein­stel­lungen, Licht und Schat­ten­spiele oder besondere Schau­spie­ler­leis­tungen überprüft worden waren, getreu der Devise von Jacques Rivette: »Die einzig wahre Kritik eines Films kann nur ein anderer Film sein«, versuchten die Autoren, wie André Bazin es einmal ausge­drückt hatte, »den Schock des Kunst­werks zu verlän­gern«. Seinen program­ma­ti­schen Text zum 300. Filmtip betitelte Helmut Merker 2007 „Das Verstehen als sinn­li­ches Vergnügen“. 2007 war auch das Jahr, in dem Merker als letzter der legen­dären Film­re­dak­tion in Rente ging.

Er hat sich auch danach im „Tages­spiegel“ und in der „TAZ“ immer wieder zu aktuellen Filmen geäußert, besonders wenn es um seine große Liebe, um das asia­ti­sche Kino ging, und war gern gesehener Gast bei allen Debatten um das Kino.
Der hagere Einzel­gänger stach heraus und wenn er eine Tendenz oder einen Stil nicht mochte, konnte seine Leiden­schaft ihn auch zu heftiger Ablehnung verleiten. Mit der Reihe „Filmtip“, zu der auch ich zwei Dutzend Beiträge beisteuern durfte, und einigen größeren film­kund­li­chen Sendungen wie zum Beispiel „Das Kino bittet zu Tisch“ (Autor: Michael Althen. 1996 ausge­zeichnet mit dem Adolf Grimme Preis) und „Das Kino von Null auf 2000“ von Rainer Gansera, Norbert Grob, Anke Leweke, Katja Nicodemus und Josef Schnelle wird Helmut Merker unver­gessen bleiben.

Zu meinen Lieb­lings­texten von Kurt Tucholsky gehört die Feuil­le­ton­reihe „Danach“. Da sitzen immer zwei soeben Verstor­bene auf einer Wolke und lassen die Beine baumeln. Kritisch, manchmal sogar böse schauen sie auf das Geschehen bei den noch Lebenden unten auf der Erde hinunter. Manchmal aber schmun­zeln sie auch, wenn sie sehen, dass etwas zurück­ge­blieben ist von dem, wofür sie sich ihr ganzes Leben lang abge­stram­pelt haben. So möchte ich mir gerne auch Helmut Merker vorstellen, wie er auf die deutsche Film­kritik und das Kino hinab­schaut und viel­leicht den einen oder anderen Filmtip (meinet­wegen auch mit zwei p) entdeckt, der ihm gefallen würde. Und sieht, wie das Stück Rasen vom Aufstiegs­spiel seiner geliebten Arminia Bielefeld, das er auf seiner Kölner Terrasse ange­pflanzt hatte, langsam wieder anwächst im Stadion. Fußball und Film sind ja doch untrennbar und die Liebe zum Kino hört nicht einfach auf durch einen bedau­er­lich frühen Tod eines der ganz großen Cineasten. Und viel­leicht gibt’s auf Wolke 8 ja doch noch ein Kino, in dem man mit Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau, Alfred Hitchcock, John Ford, Federico Fellini und Akira Kurosawa die neuesten Filme anschauen kann und anschließend darüber redet. Schön wär’s. »Niemals geht man so ganz«, besonders wenn so eine eifer­süch­tige Geliebte wie das Kino im Spiel ist. Filmtips immerzu auch im Nirgendwo.

Josef Schnelle lebt und arbeitet in Köln. Zwischen 1983 und dem Ende der Reihe 2007 war Schnelle als Autor für 45 von 346 Filmtips verant­wort­lich – damit ist Schnelle der am zweit­häu­figsten einge­setzte Filmtip-Autor (nach Rainer Gansera mit 55 Beiträgen).