08.06.2017

Geschichte wie Faust­schläge in die Magen­grube

Jules und Jim
Arrangement vor Auto im Iran zu Zeiten der British Petrol: The Host (2015)

Die britische Filmemacherin, Tänzerin und visuelle Anthropologin Miranda Pennell ist zu Gast bei der UNDERDOX Halbzeit

Von Dunja Bialas

»Morgen werde ich nicht in die Straßen gehen können, um zu demons­trieren. Ich werde das verpassen. Aber ich habe schon vor zwei Wochen per Brief gewählt.« Miranda Pennell sitzt im Fraun­hofer Wirtshaus in München. Es ist ein Tag vor den von Theresa May so plötzlich einbe­ru­fenen Neuwahlen. Sie will Konso­li­die­rung ihrer Brexit-Politik – die Mehrheit des in den Großs­tädten lebenden inter­na­tio­nalen Melting-Pots aus Intel­lek­tu­ellen, Arbeitern, Künstlern, Aufge­schlos­senen hofft auf den Linken Jeremy Corbyn aus dem Labour-Lager. »I never voted with hope before«, schreibt George Monbiot vor einem Tag im Guardian, »Jeremy Corbyn has changed that.« Aller Hoffnung zum Trotz wird der heutige Donnerstag wohl zum May Day, nicht aber zum Tag der Arbeit, sondern zum Tag Theresas. Und Miranda Pennell wird nicht demons­trieren gehen können.

Pennell ist Filme­ma­cherin aus dem Londoner East End, die nach München gekommen ist, um zur »Halbzeit« des UNDERDOX Film­fes­ti­vals zwei Lectures zu geben. Am Vormittag als Perfor­mance in der Hoch­schule für Fernsehen und Film in der Klasse des dem Expe­ri­men­tal­films sehr aufge­schlos­senen Doku­men­tar­film­do­zenten Daniel Lang, und am Abend im Münchner Film­mu­seum als Lecture entlang ihres filmi­schen Werkes. Als sie für den Halbzeit-Termin angefragt wurde, war die Entwick­lung in England noch nicht absehbar. Auch dass es sie auf der Insel so durch­schüt­teln würde: Erst Ende Mai das Attentat in Manchester, jetzt, vor wenigen Tagen, die Attentate auf der London Bridge.

Pennell ist visuelle Anthro­po­login, die sich in ihren Arbeiten für die gesell­schaft­li­chen Rituale inter­es­siert. Diese findet sie in allen möglichen Facetten des Lebens: als Initia­tionen in der Jugend, schlag­zeug­spie­lend in Drum Room (2007), mit Kopf­hö­rern singend in Human Radio (2002), schlitt­schuh­lau­fend in Magnetic North (2003). Als abrufbare Hand­lungs­ab­folge im militä­ri­schen Drill in Tattoo (2001). Oder als Konven­tionen, die gesell­schaft­liche Anlässe mit sich bringen, so gesehen auf den Photo­gra­phien, die sie in ihrem jüngsten Film The Host (2015) zum Essay colla­giert. Ausgehend von ihrer Ausbil­dung als Tänzerin und Choreo­gra­phin geht sie dabei stets vom Körper aus. Deshalb auch: auf die Straße gehen. Revo­lu­tion oder Protest ist nicht ohne die Präsenz des Körpers denkbar.

Seit Why Colonel Bunny Was Killed (2010) hat Pennell sich von der unmit­tel­baren Präsenz der Körper vor ihrer Kamera abge­wendet. Sie begreift den Körper jetzt mehr als eine sprach­liche Mani­fes­ta­tion, die sich in Arran­ge­ments ablesen lässt, wie sie in Archiven oder Fami­li­en­alben, den privaten Archiven, zu finden sind. Wie ist die Aufstel­lung von Vater, Mutter, Kind? Wird vor oder hinter dem Auto posiert, und wer ist zu sehen? Wie ist die Sitz­ord­nung bei einem histo­ri­schen Meeting? Wer gibt den Ton an, erkennbar durch eine heraus­ge­ho­bene Position? Wer ist schmü­ckendes Beiwerk? Besonders in den Fokus nimmt Miranda Pennell die Kolo­ni­al­ge­schichte der Briten, die die Insel mit heutigen Brenn­punkt-Ländern verbindet. Die Geschichte von British Petrol im Iran zum Beispiel, der sie in The Host nachgeht, invol­viert sie selbst als Tochter von Eltern, die bei der BP ange­stellt waren. Gestern gab es zwei Attentate im irani­schen Parlament. Auf den ersten Blick hat dies keinen Zusam­men­hang mit der Kolo­ni­al­ge­schichte. Aber viel­leicht doch?

Pennell ist beun­ru­higt. In ihren Perfor­mances wird sie ihre poli­ti­sche Sorge einfließen lassen, wird von den Räumen zwischen den Bildern sprechen und den körper­li­chen Ritualen, die Krieg oder lieber doch Frieden bringen können. Noch hat sie ein wie von Licht durch­flu­tetes Gemüt. Aber immer wieder zwischen­durch, in unbe­ob­ach­teten Momenten, wird sie ernst, und es ist, als würden Geschichte und Politik direkt durch ihren Körper gehen, Faust­schläge verteilen wie die kämp­fenden Trinker in ihrem vor genau zehn Jahren entstan­denen Fisti­cuffs. Mit dem sie noch auf die harmlose Folgen­lo­sig­keit von Western abzielte: Nach jedem Schlag konnte man wieder aufstehen und einfach weiter­ma­chen. Viel­leicht gelingt ihr und den Briten das ja auch.

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Die Autorin leitet zusammen mit Bernd Brehmer das seit 12 Jahren bestehende UNDERDOX Film­fes­tival in München.

Mehr Infor­ma­tionen zu Miranda Pennell und ihren Filmen.

Lecture Perfor­mance, Donnerstag, 8.6., 11 Uhr, HFF München (Kino Rot), Eintritt frei
Film Lecture, Donnerstag, 8.6., 19 Uhr, Film­mu­seum München, Eintritt: 5 / 4 Euro

Website des Festivals: www.underdox-festival.de