13.04.2017

»It’s not bad, but a bit too dramatic«

THE FATHER CARE PIECE PIECE
Bleibt schön auf dem Teppich: THE FATHER CARE PIECE PIECE, Highlight des Festivals (Foto: Freischwimmer)

Freischwimmer, das Festival der Freien Szene, gastiert zum ersten Mal in München

Von Dunja Bialas

Die gute Nachricht zuerst. Seit diesem Jahr hat die freie Tanz- und Thea­ter­szene Münchens die Möglich­keit, bei den Kammer­spielen Förder­gelder zu bean­tragen. Intendant Matthias Lili­en­thal, der sich in der Vergan­gen­heit durch perfor­ma­tive Stücke in die tradi­tio­nellen Hoheits­ge­biete der freien Szene hinaus­wagte und sich dadurch Schimpfe (seitens der Abon­nenten) und Unmut (seitens der freien Szene) einge­han­delt hat, hat aus seinem städ­ti­schen Etat von 23 Millionen Euro nun 500.000 Euro frei­ge­macht.

Dies war die große Über­ra­schung des Podiums, das im Rahmen des »Frei­schwimmer«-Festivals in den Münchner Kammer­spielen abge­halten wurde. Versam­melt hatten sich die Reprä­sen­tanten der Häuser, die das erstmals in München gastie­rende Festival der freien Szene zeigten: das Pathos-Theater (Angelika Fink), das letztes Jahr in den Räumen des ehema­ligen i-camp eröffnete HochX (Ute Gröbel) und die Münchner Kammer­spiele (Christoph Gurk). Neben den Leitern der stadt­ei­genen Festivals »Spielart« (Tilmann Broszat) und »Rodeo« (Sarah Israel) war auch Mathias Pees vom Frank­furter Mouson­turm zugegen, der seit 2009 beim Festival dabei ist und die Beson­der­heit von »Frei­schwimmer« erklärte: Alle gezeigten Stücke sind neue Projekte, die in einem Open Call einge­reicht und von Abspiel­häu­sern der freien Szene co-produ­ziert werden, was eine einzig­ar­tige Konstel­la­tion sei. Die Produk­tionen touren dann in allen mitwir­kenden Häusern, so dass es zu einem regen über­re­gio­nalen Austausch der freien Tanz-, Theater- und Perfor­mance-Szene kommen kann.

Es verwun­dert, dass München noch nie mitge­wirkt hat. Die Einladung von »Frei­schwimmer« als Gastspiel kann wie die frei­ge­machten 500.000 Euro der Kammer­spiele gedeutet werden, dass jemand in München erkannt haben muss, dass mehr für die hiesige Szene, die im Süden der Bundes­re­pu­blik ein relativ isoliertes Dasein fristet, getan werden muss. München ist nunmal nicht bekannt für »die Szene«, die großen Häuser des bürger­li­chen Theaters scheinen da über­re­gional wichtiger. Insofern ist es natürlich ein Glücks­fall, dass Matthias Lili­en­thal mit seiner Intendanz den Aufmerk­sam­keits­fokus ordent­lich durch­ein­ander bringt.

Harfen-Choreo­gra­phie

Die bei »Frei­schwimmer« präsen­tierten Stücke aus dem deutsch­spra­chigen Raum (co-produ­ziert von Sophi­en­saele Berlin, Mouson­turm Frankfurt, dem FFT Düssel­dorf, dem brut Wien und der Gess­ne­rallee Zürich) waren unter­schied­liche Forma­tionen der Perfor­mance-Kunst, die selbst nicht alle an die Idee der »Bühne« gebunden sind. Abgesehen von dem eher furcht­ein­flößenden physi­schen Workshop-Theater LOVE FICTION – HUMAN PROCESS INTERVENTIONS BY RYLON, das den Teil­neh­menden empfahl, eine »comfy Kleidung und eine basale emotio­nale Elas­ti­zität« mitzu­bringen, und dem »Wir bauen eine Stadt«-Selfmade-by-Spec­ta­tors-Theater WIE WIR ES WOLLEN, das die Besucher qua Mitwir­kende etwas ratlos zurück­ließ, stachen zwei Produk­tionen heraus, die perfor­ma­tive Vielfalt zeigten. DAME GOTHEL… IT HURTS TO BE BEAUTIFUL von Anna Natt (Sophi­en­saele Berlin) war ein Stück ohne Worte, das ganz auf seine bilder­starke Bühnen­sprache vertrauen konnte und sich in kleinen Perfor­mance-Vignetten vollzog. Anna Natt, ausge­bil­dete Flamen­co­tän­zerin, setzte musi­ka­lisch-physi­ka­lisch an, um ihre Asso­zia­tionen zum Rapunzel-Märchen und dem Schön­heits­diktat mitzu­teilen. In haut­far­benen Latex gezurrt, zog sie sich eine blonde Rapunzel-lass-dein-Haar-herunter-Perücke über und sprang wie eine aufge­zo­gene Puppe über den Bühnen­raum. An einer Seite waren, sehr geheim­nis­voll, drei Harfe­nis­tinnen mit ihren Instru­menten geparkt, die immer wieder zu einem Percus­sion-moder­ni­sierten und auch disso­nanten Harfen­spiel anhoben, einmal auch, ein sehr starkes Bild, zu einem Live-Playback mit Anna Natt, die in einem Licht­kegel Harfen­spiel simu­lierte, während ihr Haar gülden leuchtete. Die Harfen und ihre Spie­le­rinnen wuchsen während des Stücks zu den eigent­li­chen Prot­ago­nis­tinnen heran, eroberten in einem eindrucks­voll choreo­gra­phierten Gang die Bühne, indem sie abwech­selnd die Instru­mente bewegten, wie in einer buchs­täb­lich genom­menen Poesis. Das Finale gab der groteske Walk von Anna Natt auf zwei gigan­ti­schen High-Heels-Prothesen. Allein mit Asso­zia­tionen schaffte DAME GOTHEL… einen bilder­starken, dabei wohltuend ereig­nis­losen und keines­falls auser­zählten Gedan­ken­raum.

Mumble­core-Leich­tig­keit

Glanz­stück des »Frei­schwimmer«-Festivals war Veza María Fernández Ramos’ (brut Wien) ganz und gar leichtes, wie impro­vi­siert wirkendes, dabei in jedem Fall gesta­getes THE FATHER CARE PIECE PIECE ODER: KEINE ANGST, PAPA SPIELT THEATER! Ihr Ansatz erinnerte stark an das ameri­ka­ni­sche Mumble­core à la Mike Ott (Cali­fornia Dreams): Immer wieder wird die vierte Wand durch­bro­chen, der Zuschauer direkt ange­spro­chen, das Bühnen­ge­schehen in Frage gestellt. Anders als das bemühte Workshop-Theater aber entfal­tete sich hier zwischen den Darstel­lern ein leicht­sin­niges und befreites Spiel, dem auch großer Ernst anhaftete. Grob gesagt ging es um eine junge Frau und drei Vater­mo­delle, dem Lieb­lings­vater, dem künst­le­ri­schen Vater, dem leib­li­chen Vater, freu­dia­ni­sche Inter­pre­ta­tionen und Asso­zia­tionen inbe­griffen. Die Spanierin Fernández Ramos hielt hier die Fäden in der Hand, zeigte sich als heitere Domp­teurin der Vater-alten Männer. Von der Off-Balance wechselte die Modern-Dance-Perfor­merin zu Hebe­fi­guren eines gewagten »Freudian hug«, nahm sich eine Gitarre und sang mit einem ihrer Wahl-Väter in spie­le­ri­scher Impro­vi­sa­ti­ons­leich­tig­keit »This is a father’s song«. Immer wieder gab es auch Meta-Talking, in dem das eigene Spiel in Frage gestellt wurde: »I’m a very cheap actress. I just can play myself«, hieß es einmal, ein anderes Mal: »This is not bad, but a bit too dramatic.« Zwischen­durch raufte man sich auf einem Perser­tep­pich und nutzte die Zentri­fu­gal­kraft von Stühlen, indem man sich mit ihnen drehte. Am Ende domi­nierte melan­cho­li­sche Happiness. Im Programm­heft war über das leichte Stück übrigens zu lesen: »Im Mikro­kosmos der inzes­tuösen Thea­ter­fa­milie werden drängende gesell­schaft­liche Fragen nach alter­na­tiven Arbeits­struk­turen und Konstel­la­tionen bear­beitet, denn viel­leicht besteht ja die Möglich­keit eines Zusam­men­le­bens jenseits von Rollen­bil­dern!«

Frei­schwimmer 2016/17. Neues aus Theater, Perfor­mance und Live-Art. Thema: Family Affairs.