Das komplexe Gesicht einer nationalen Krise |
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Die Angst einer ganzen Generation in: Casa Grande |
Von Axel Timo Purr
Es ist noch gar nicht so lange her, da erfüllte Brasilien so ziemlich alle Erwartungen, die an ein Land gestellt werden, das sich auf dem Weg vom Schwellenland zum Wohlstandsstaat befindet. Doch dann kam alles anders. Erst die WM-Schmach gegen Deutschland, dann die immer stärker stotternde Wirtschaft und nun, in den letzten Monaten alles auf einmal: der brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff droht wegen manipulierten Haushaltsbüchern ein Amtsenthebungsverfahren, über das ausgerechnet Parlamentspräsident Eduardo Cunha entscheiden soll, der gerade selbst in einen Schmiergeldskandal verwickelt ist. Das auch dies nur die medial am spektakulärsten aufbereiteten Spitzen eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen des einstigen Vorzeigekinds der Schwellenländer sind, dass es darunter noch viel erheblichere Verwerfungen und Facetten gibt, zeigte bereits die brasilianische Sektion auf dem dem letzten Münchner Filmfest und und dann auch brasilianische Filme, die es bereits ins reguläre Kinoprogramm geschafft haben. So wie etwa der hervorragende, die sozialen Ungleichheiten Brasiliens thematisierende Sommer mit Mamã.
Noch erheblich tiefere Einblicke in das komplexe Gesicht einer nationalen Krise lassen sich auf den 2. Brasilianischen Filmtagen gewinnen. Das Programm erweitert das auf dem Münchner Filmfest gezeigten Ouevre deutlich, es fokussiert aber ganz ähnlich nicht nur auf den Topos der »Krise«, sondern bietet auch Einblicke in völlig normale Alltags- und Beziehungsprozeduren und bietet auch eskapistische Momente.
Die aktuelle Krise am prägnantesten verdeutlicht gleich der Festivalauftakt, Fellipe Barbosas Casa Grande (22.10., 20.00 Uhr), in dem in Paar aus der privilegierten und dekadenten Oberschicht Rio de Janeiros portätiert wird. Der soziale Abstieg der Familie beginnt deutlich zu werden, als sie, um Ausgaben zu kürzen, ihren langjährigen Chauffeur Severino entlassen müssen. Die finanziellen Probleme der Eltern beeinflussen allmählich auch den Alltag der bislang verwöhnten Kinder.
Dass jedwede Art von Krise immer auch banale Alltäglichkeit reproduziert, zeigt Leonarda Laccas wunderbar subtil fotografierter Permanência (23.10., 20 Uhr), der bereits auf dem Münchner Filmfest lief. Laccas fokusiert in seinem Film auf einen Fotografen, der seine erste eigene Ausstellung nach São Paulo reist und dort seine Ex-Freundin Rita trifft.
Ein Amalgam aus aktueller Krise und normalem Alltag stellt Miguel Falabellas bereits 2009 erschienener No Meu Lugar (24.10., 18.00 Uhr) (dar. Falabella verknüpft dafür verschiedene Erzählebenen: die Geschichte eines Polizeieinsatzes in einem Haus der oberen Mittelschicht im Stadtteil Laranjeiras in Rio de Janeiro; die Geschichte ?eines suspendierten Polizisten, der versucht, ein ganz normales Leben mit seiner Tochter und seinen Freunden zu führen, dort aber von seiner Ex-Frau überrascht wird, die nach fünf Jahren zusammen mit ihrem neuen Mann und zwei Kindern in das Haus zurückkehrt, um es zu verkaufen und schließlich die Geschichte eines Liefermanns eines Supermarktes, der seine große Liebe findet.)
Das Programm wird um Filme erweitert, die sich komödiantisch mit dem Alltag von Frauen im mittleren Alter auseinandersetzen (Polaróides Urbanas – 24.10.; 20.00 Uhr), einem animierten Science Fiction, der sich um ein vollständig (vor-) programmiertes Leben dreht (Garoto Cósmico – 25.10.; 16.00 Uhr), einen Dokumentarfilm, der anhand des Wasserhaushaltsgesetzes (New Forest-Code) die Kontroversen, Konzeptionen und Umsetzungen neuer Gesetze in Brasilien verdeutlicht (A Lei da Água – 25.10.; 18.00 Uhr) und schließlich der düsteren Geschichte von Joli, einer Ex-Drogenabhängigen, die nach ihrer Therapie nach Recife zurückkehrt und dort den Konflikt mit ihrem Vater sucht, der gerade für das Bürgermeisteramt kandidiert (Prometo um dia deixar essa cidade – 25.10.; 20.00 Uhr)
Variiert wird dieses thematische Panoptikum ein weiteres Mal in einer Crazy Short Night (24.10.; 22.00 Uhr), in der vier Kurzfilme zwischen acht und 20 Minuten Länge präsentiert werden.
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2. Brasilianische Filmtage – 22. bis 26. Oktober 2015, KiM Kino, Einsteinstr. 42, München. Weitere Informationen unter Facebook: Cinema Brasileiro em Munique und KiM-Kino.