30.05.2013

Flatness und Komple­xität

Sommersprossen, kindliche Unschuld. Claudia Heindel zeigt in Lucky Seven außerdem eine herausragende Kameraarbeit

Flatness und Komple­xität

Die Kurzfilmtage Oberhausen im Zeitalter medialer Herausforderung

Von Dieter Wieczorek

Das Festival in Ober­hausen ist von allen gewünscht. Das bekunden vor allem die einfüh­renden Reden der Vertreter von Stadt und Land, der stolzen und zufrie­denen neuen und alten Partner. Und in der Tat, was wäre Ober­hausen ohne sein Festival? Das Örtchen würde wieder in der ruhrigen Anony­mität verschwinden. Und da Ober­hausen gewollt ist als expe­ri­men­tier­freu­diges Festival, das gefordert ist, Risiken auf sich zu nehmen, kann eigent­lich nichts mehr falsch gemacht werden. Je schräger ein Film, je größer das »Risiko«, je besser für den Ruf des Festivals. Dieses Konzept erlaubt und ermög­licht eigent­lich alles. Nur eine Wieder­ho­lung wäre fatal.

Nach Jahren der histo­ri­schen Selbst­spie­ge­lung war es nun mit den Worten des Festi­val­di­rek­tors Lars Henrik Gass an der Zeit, der »Retro­falle« zu entkommen und zu reflek­tieren auf den Stand der Dinge: die Heraus­for­de­rung des Films durch neue Platt­formen und andere Wahr­neh­mungs­be­din­gungen. Dies prägte das Wort von der Flatness, flache Bilder, im ästhe­ti­schen wie konzep­tu­ellen Sinne, schnell konsu­mier­bare, wider­stands­lose Bilder, die Ober­flächen bedienen. Dagegen liesse sich halten, wo immer ein Film gezeigt wird, ob auf der Kino­lein­wand, im TV oder auf dem Computer, die Kriterien seiner Wertes, kultu­rellen Bedeutung und Chance auf eine kultu­relle Signi­fi­kanz sind die gleichen geblieben. Sitzt man vor seinem 19-Inch Bild­schirm am Schreib­tisch entspricht das etwa der Reihe 7 Mitte im Kino. Der Sound über Köpfhörer ist oft klarer und analy­ti­scher als im hustigen Kinosaal. Kurz, es gibt keinen Grund von der Not der Flachheit zu sprechen, oder sie gar als Kunst zu stili­sieren. Das eigent­liche Problem der neuen Perzep­ti­ons­formen ist der Mangel an Kommu­ni­ka­tion in der isolierten Wahr­neh­mungs­si­tua­tion. Nichts kann das Gespräch mit anderen Zuschauern, oder gar mit dem Filme­ma­cher ersetzen, unmit­telbar nach dem Film, wenn die Gedanken und Gefühle noch unge­ordnet sind.

Dieses Jahr ehrte das Festival in Sonder­pro­grammen Helga Fanderl (Deutsch­land), Ho Tzu Nyen (Singapur), Luther Price (USA), Laure Prevost (Frank­reich – siehe auch unten), Peter Krelja (Maze­do­nien), Krsto Papic (Monte­negro) und Zoran Tadic (Bosnien und Herze­go­wina).

Im inter­na­tio­nalen Wett­be­werb fiel durch seine schlichte ästhe­ti­sche Schönheit und medi­ta­tive Anlage Lois Patinos' (Spanien) Montagna in Sombra (Berge im Schatten) aus dem Rahmen, der die alte Technik der fast geschlos­senen Blende nutzte, um eine nächt­liche Atmo­sphäre zu schaffen, in der sich in einer harschen, hoch­kon­tras­tierten Berg­land­schaft minia­tur­hafte Gestalten in der Ferne bewegen. Ein ästhe­ti­scher Kommentar zur Absur­dität des Anthro­po­zen­trismus, oder auch nur ein Moment anmutigen Demut ange­sichts der sublimen Natur.

In nur zwei Minuten passiert Susanna Wallin (Gross­bri­ta­nien) in Echo Park die heiklen Gefühls­zonen zwischen Vergnü­gungen und Ängsten in einem Vergnü­gungs­park. Spezia­list infan­tiler Bewusst­seins­lagen bietet Wallin hier wieder einmal eine minuziöse Situa­ti­ons­er­fas­sung, situiert in einem sich noch suchenden, halb­be­wussten Begehren.

Zwei erotische Arbeiten völlig unter­schied­li­cher Art fanden sich weiterhin im inter­na­tio­nalen Wett­be­werbs­pro­gramm. In ein leicht aufge­hei­tertes Marquis-De-Sade Ambiente versetzt die Griechin Athina Rachel Tsangari in The Capsule (Die Kapsel) den Zuschauer. Er wird zum Zeugen merk­wür­diger, stark von sexueller Spannung geprägter Rituale in einer abge­le­genen Schloss­an­lage. Doch weniger freie Lust, als die kris­tal­line Hier­ar­chie der Macht gibt den Ton an. Zuweilen trans­for­mieren sich die Szenen surreale, phan­tas­ti­sche Bild­folgen. Dagegen lässt sich die Französin Laure Prevost ein auf rein sinnliche Ausschwei­fung, in Ton und Bild, vermischt Natur­ver­zü­ckung und die erotische Verlo­ckung einer hauchenden Stimme. Sie über­schreitet in Swallow (Aufblasen) unbe­schwert die kleinen Tabus der Hoch­kultur, gibt sich preis, um mit reiner Lust und Begehr­lich­keit zu spielen. Ihr Film wirkt wie ein Vitami­ninput in einer zuweilen lebens­un­frohen expe­ri­men­tellen Kultur­land­schaft. Die Rumänin Alina Pintilie leuchtet in Diary #2 (Tagebuch #2) die Existenz einer verein­samten Frau aus, die versucht, aus ihrer unsinn­li­chen, frus­trierten Existenz auszu­bre­chen. Die Kamera verfolgt sie aus Beob­ach­ter­optik bei ihrem Versuch, sich einem auf ihrem Bett einge­schla­fenen Mann anzu­n­ähern, um seinen Körper­ge­ruch zu erkunden. Ein eindring­li­ches Memorium der zunehmend entkör­per­lichten und entsinn­lichten Exis­tenz­form, die das Leben von zunehmend mehr Bewohnern der Sicher­heits­zi­vi­li­sa­tion bestimmt. Die aus Nairobi stammende Ng'endo Mukii reflek­tiert in Yellow Fever (Gelbes Fieber) das kultu­relle Phänomen der Weiß­b­lei­chung der Haut, das von vielen Afri­ka­ne­rinnen bis heute prak­ti­ziert wird. Trotz der erheb­li­chen gesund­heit­li­chen Risiken ist die innere Kolo­nia­li­sie­rung nach wie vor derart mächtig, dass Afri­ka­ne­rinnen sich ihrer Schwärze schämen und die Stereo­typen der weisen Publicity-Kultur nach­zu­ahmen versuchen. Larissa Sansour (Israel) entwirft eine absurde Vision der fried­li­chen Koexis­tenz der künftigen Welt­ge­mein­schaft. In Nation Estate (Staats­na­tion) zeigt sich einen Hightech Wolken­kratzer, in dem jede Etage ein anderes kultu­relles Milieu beher­bergt. Selbst die entspre­chende Nahrung wird durch Aufzugs­schächte auf Anfrage auto­ma­tisch geliefert wird. Der Fens­ter­blick ist durch einen Groß­bild­schirm ersetzt, der den Blick auf eine vertraute Land­schaft oder ein Monument der eignen Kultur eröffnet. Sansour folgt einer schwan­geren Paläs­ti­nen­serin, die mit ihrem Flug­ge­päck hier eintrifft und auf Knopf­druck den Blick auf die große Moschee in Jerusalem geboten bekommt.

Die aus Litauen stammende Emilija Škar­nu­lyté bringt ein sensibles Porträt der an den Folgen des Tscher­obyl-Outfall erblin­deten Gross­mutter Aldona nach Ober­hausen. Sie folgt der alten Dame in den Park, wo sie die pompösen Skulp­turen der Sowjetära ertastet, als ob sie so verstehen wollte, was ihr geschah. Über diese einfache Frau ist Macht der opfer­freu­digen Ener­gie­technik schlicht hinweg­ge­fegt. Es bedarf des Talents und Enga­ge­ments sensibler Filme­ma­cher, um diesen sprach- und schutz­losen Exis­tenzen Sicht­bar­keit zu verschaffen. Auch Toxic Camera (Vergif­tete Kamera) handelt von Radio­ak­ti­vität. Jane und Louise Wilson liessen sich von Vladimir Shev­chenkos Aufzeich­nungen inspi­rieren, der beob­ach­tete, dass sein Film­ma­te­rial über Tscher­nobyl Gau selbst von Radio­ak­tivät befallen und löcherig wurde.

Die über­ra­schende hohe Anzahl weib­li­cher Filme­ma­cher unten den erwähnten Filmen ist ein starkes Plädoyer für eine spezi­fisch weibliche Sensi­bi­lität, poli­ti­schen Frage­stel­lungen mit ästethi­scher Inno­va­ti­ons­lust in Form asso­zia­tiver Panoramen zu behandeln. Weniger konzep­tuell, dagegen vital, provo­zie­rend und schlicht originell, dies waren offen­sicht­lich die Quali­täts­kri­te­rien, die das Ober­hau­sener Auswahl­ko­mitee diesmal zu über­zeugen vermochten.

In dem in diesem Jahr ebenfalls beein­dru­ckenden Nordrhein-Westfalen Wett­be­werb verblüffte vor allem Schnee­sturm von Julia Weis­sen­berg. Sie folgt einer Memo­ri­sie­rungs­künst­lerin bei der Arbeit und zeigt mit ruhiger Kamera deren unglaub­liche Leistung, seiten­lange binäre Codes aus der Erin­ne­rung zu repro­du­zieren. Das Werk hält die Schwebe zwischen Fiktion und Doku­men­ta­tion, doch der Fall ist einfach zu gut, um nicht wahr zu sein. Man möchte daran glauben. Die Spannung entsteht hier ganz durch der Beob­ach­tung des Unwahr­nehm­baren, des Memo­ri­sie­rens und der damit einher­ge­henden Anspan­nung. Ähnlich unein­deutig ist das zwischen Traum und Wirk­lich­keit schwe­bende Szenarium Kerstin Neuwirths in Anfang Juni, das um eine Kind­heits­er­fah­rung kreist, ohne sich zu einer narra­tiven Linie zu verdichten. Enig­ma­ti­sche Ferne und der schein­bare Still­stand der Zeit erzeugen eine sich nicht auflö­sende Spannung. Das Begehren des Uner­reich­baren verdichtet sich hier in Bild und Ton.
Ein mitreis­sendes Porträt der quick­le­ben­digen jungen aus Afrika stam­menden Kaddhi, die zwischen ihrer ursprüng­li­chen und der deutschen Kultur mit ihren Emotionen hin und her pendelt, schafft Britta Wandaogo in Krokodile ohne Sattel. Die lebens­frohen Kommen­tare, das fröh­li­ches Selbst­be­wusst­sein, aber auch die Tränen Kaddhis, wenn es um Einsam­keit geht, prägen sich dem Betrachter ein. Wandaogo gelingt das wohl eindring­lichste Porträt dieses Festivals.

Die Ober­hau­sener Programm­aus­wahl hat eine poli­ti­sche, soziale und verspielte Dimension zurück­ge­wonnen. Folglich lohnt sich die Rückkehr.