Flatness und Komplexität |
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Sommersprossen, kindliche Unschuld. Claudia Heindel zeigt in Lucky Seven außerdem eine herausragende Kameraarbeit |
Von Dieter Wieczorek
Das Festival in Oberhausen ist von allen gewünscht. Das bekunden vor allem die einführenden Reden der Vertreter von Stadt und Land, der stolzen und zufriedenen neuen und alten Partner. Und in der Tat, was wäre Oberhausen ohne sein Festival? Das Örtchen würde wieder in der ruhrigen Anonymität verschwinden. Und da Oberhausen gewollt ist als experimentierfreudiges Festival, das gefordert ist, Risiken auf sich zu nehmen, kann eigentlich nichts mehr falsch gemacht werden. Je schräger ein Film, je größer das »Risiko«, je besser für den Ruf des Festivals. Dieses Konzept erlaubt und ermöglicht eigentlich alles. Nur eine Wiederholung wäre fatal.
Nach Jahren der historischen Selbstspiegelung war es nun mit den Worten des Festivaldirektors Lars Henrik Gass an der Zeit, der »Retrofalle« zu entkommen und zu reflektieren auf den Stand der Dinge: die Herausforderung des Films durch neue Plattformen und andere Wahrnehmungsbedingungen. Dies prägte das Wort von der Flatness, flache Bilder, im ästhetischen wie konzeptuellen Sinne, schnell konsumierbare, widerstandslose Bilder, die Oberflächen bedienen. Dagegen liesse sich halten, wo immer ein Film gezeigt wird, ob auf der Kinoleinwand, im TV oder auf dem Computer, die Kriterien seiner Wertes, kulturellen Bedeutung und Chance auf eine kulturelle Signifikanz sind die gleichen geblieben. Sitzt man vor seinem 19-Inch Bildschirm am Schreibtisch entspricht das etwa der Reihe 7 Mitte im Kino. Der Sound über Köpfhörer ist oft klarer und analytischer als im hustigen Kinosaal. Kurz, es gibt keinen Grund von der Not der Flachheit zu sprechen, oder sie gar als Kunst zu stilisieren. Das eigentliche Problem der neuen Perzeptionsformen ist der Mangel an Kommunikation in der isolierten Wahrnehmungssituation. Nichts kann das Gespräch mit anderen Zuschauern, oder gar mit dem Filmemacher ersetzen, unmittelbar nach dem Film, wenn die Gedanken und Gefühle noch ungeordnet sind.
Dieses Jahr ehrte das Festival in Sonderprogrammen Helga Fanderl (Deutschland), Ho Tzu Nyen (Singapur), Luther Price (USA), Laure Prevost (Frankreich – siehe auch unten), Peter Krelja (Mazedonien), Krsto Papic (Montenegro) und Zoran Tadic (Bosnien und Herzegowina).
Im internationalen Wettbewerb fiel durch seine schlichte ästhetische Schönheit und meditative Anlage Lois Patinos' (Spanien) Montagna in Sombra (Berge im Schatten) aus dem Rahmen, der die alte Technik der fast geschlossenen Blende nutzte, um eine nächtliche Atmosphäre zu schaffen, in der sich in einer harschen, hochkontrastierten Berglandschaft miniaturhafte Gestalten in der Ferne bewegen. Ein ästhetischer Kommentar zur Absurdität des Anthropozentrismus, oder auch nur ein Moment anmutigen Demut angesichts der sublimen Natur.
In nur zwei Minuten passiert Susanna Wallin (Grossbritanien) in Echo Park die heiklen Gefühlszonen zwischen Vergnügungen und Ängsten in einem Vergnügungspark. Spezialist infantiler Bewusstseinslagen bietet Wallin hier wieder einmal eine minuziöse Situationserfassung, situiert in einem sich noch suchenden, halbbewussten Begehren.
Zwei erotische Arbeiten völlig unterschiedlicher Art fanden sich weiterhin im internationalen Wettbewerbsprogramm. In ein leicht aufgeheitertes Marquis-De-Sade Ambiente versetzt die Griechin Athina Rachel Tsangari in The Capsule (Die Kapsel) den Zuschauer. Er wird zum Zeugen merkwürdiger, stark von sexueller Spannung geprägter Rituale in einer abgelegenen Schlossanlage. Doch weniger freie Lust, als die kristalline Hierarchie der Macht gibt den Ton an. Zuweilen transformieren sich die Szenen surreale, phantastische Bildfolgen. Dagegen lässt sich die Französin Laure Prevost ein auf rein sinnliche Ausschweifung, in Ton und Bild, vermischt Naturverzückung und die erotische Verlockung einer hauchenden Stimme. Sie überschreitet in Swallow (Aufblasen) unbeschwert die kleinen Tabus der Hochkultur, gibt sich preis, um mit reiner Lust und Begehrlichkeit zu spielen. Ihr Film wirkt wie ein Vitamininput in einer zuweilen lebensunfrohen experimentellen Kulturlandschaft. Die Rumänin Alina Pintilie leuchtet in Diary #2 (Tagebuch #2) die Existenz einer vereinsamten Frau aus, die versucht, aus ihrer unsinnlichen, frustrierten Existenz auszubrechen. Die Kamera verfolgt sie aus Beobachteroptik bei ihrem Versuch, sich einem auf ihrem Bett eingeschlafenen Mann anzunähern, um seinen Körpergeruch zu erkunden. Ein eindringliches Memorium der zunehmend entkörperlichten und entsinnlichten Existenzform, die das Leben von zunehmend mehr Bewohnern der Sicherheitszivilisation bestimmt. Die aus Nairobi stammende Ng'endo Mukii reflektiert in Yellow Fever (Gelbes Fieber) das kulturelle Phänomen der Weißbleichung der Haut, das von vielen Afrikanerinnen bis heute praktiziert wird. Trotz der erheblichen gesundheitlichen Risiken ist die innere Kolonialisierung nach wie vor derart mächtig, dass Afrikanerinnen sich ihrer Schwärze schämen und die Stereotypen der weisen Publicity-Kultur nachzuahmen versuchen. Larissa Sansour (Israel) entwirft eine absurde Vision der friedlichen Koexistenz der künftigen Weltgemeinschaft. In Nation Estate (Staatsnation) zeigt sich einen Hightech Wolkenkratzer, in dem jede Etage ein anderes kulturelles Milieu beherbergt. Selbst die entsprechende Nahrung wird durch Aufzugsschächte auf Anfrage automatisch geliefert wird. Der Fensterblick ist durch einen Großbildschirm ersetzt, der den Blick auf eine vertraute Landschaft oder ein Monument der eignen Kultur eröffnet. Sansour folgt einer schwangeren Palästinenserin, die mit ihrem Fluggepäck hier eintrifft und auf Knopfdruck den Blick auf die große Moschee in Jerusalem geboten bekommt.
Die aus Litauen stammende Emilija Škarnulyté bringt ein sensibles Porträt der an den Folgen des Tscherobyl-Outfall erblindeten Grossmutter Aldona nach Oberhausen. Sie folgt der alten Dame in den Park, wo sie die pompösen Skulpturen der Sowjetära ertastet, als ob sie so verstehen wollte, was ihr geschah. Über diese einfache Frau ist Macht der opferfreudigen Energietechnik schlicht hinweggefegt. Es bedarf des Talents und Engagements sensibler Filmemacher, um diesen sprach- und schutzlosen Existenzen Sichtbarkeit zu verschaffen. Auch Toxic Camera (Vergiftete Kamera) handelt von Radioaktivität. Jane und Louise Wilson liessen sich von Vladimir Shevchenkos Aufzeichnungen inspirieren, der beobachtete, dass sein Filmmaterial über Tschernobyl Gau selbst von Radioaktivät befallen und löcherig wurde.
Die überraschende hohe Anzahl weiblicher Filmemacher unten den erwähnten Filmen ist ein starkes Plädoyer für eine spezifisch weibliche Sensibilität, politischen Fragestellungen mit ästethischer Innovationslust in Form assoziativer Panoramen zu behandeln. Weniger konzeptuell, dagegen vital, provozierend und schlicht originell, dies waren offensichtlich die Qualitätskriterien, die das Oberhausener Auswahlkomitee diesmal zu überzeugen vermochten.
In dem in diesem Jahr ebenfalls beeindruckenden Nordrhein-Westfalen Wettbewerb verblüffte vor allem Schneesturm von Julia Weissenberg. Sie folgt einer Memorisierungskünstlerin bei der Arbeit und zeigt mit ruhiger Kamera deren unglaubliche Leistung, seitenlange binäre Codes aus der Erinnerung zu reproduzieren. Das Werk hält die Schwebe zwischen Fiktion und Dokumentation, doch der Fall ist einfach zu gut, um nicht wahr zu sein. Man möchte daran
glauben. Die Spannung entsteht hier ganz durch der Beobachtung des Unwahrnehmbaren, des Memorisierens und der damit einhergehenden Anspannung. Ähnlich uneindeutig ist das zwischen Traum und Wirklichkeit schwebende Szenarium Kerstin Neuwirths in Anfang Juni, das um eine Kindheitserfahrung kreist, ohne sich zu einer narrativen Linie zu verdichten. Enigmatische Ferne und der scheinbare Stillstand der Zeit erzeugen eine sich nicht auflösende
Spannung. Das Begehren des Unerreichbaren verdichtet sich hier in Bild und Ton.
Ein mitreissendes Porträt der quicklebendigen jungen aus Afrika stammenden Kaddhi, die zwischen ihrer ursprünglichen und der deutschen Kultur mit ihren Emotionen hin und her pendelt, schafft Britta Wandaogo in Krokodile ohne Sattel. Die lebensfrohen Kommentare, das fröhliches Selbstbewusstsein, aber auch die Tränen Kaddhis, wenn es um Einsamkeit geht, prägen sich dem
Betrachter ein. Wandaogo gelingt das wohl eindringlichste Porträt dieses Festivals.
Die Oberhausener Programmauswahl hat eine politische, soziale und verspielte Dimension zurückgewonnen. Folglich lohnt sich die Rückkehr.