17.01.2013

Abschied aus der Väterwelt

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
Marion Cotillard in Jacques Audiards Rust and Bone

Ein Regisseur der kleinen Gesten: Das Kino des Jacques Audiard

Von Rüdiger Suchsland

Eine Frau, die man leicht übersieht, und an der nur auffällt, dass sie taubstumm ist, wird plötzlich inter­es­sant, weil sie einer richtig anguckt. Da fühlt sie plötzlich ihre Attrak­ti­vität und in diesem Moment wird sie tatsäch­lich attrak­tiver für die Welt um sie herum. Ein Gangster, der nicht lesen kann. Ein grober Schläger, der sein Geld damit verdient, dass er für einen Immo­bi­li­enhai die Schmutz­ar­beit macht, erinnert sich daran, dass er einst vor vielen Jahren ein begabter Pianist gewesen ist, und erweckt, halb aus unbe­wusstem Entschluss dieses verschüt­tete Talent wieder zum Leben. Der Takt des Klaviers wird zum Herz­schlag des Kinos, doch immer bleiben die Faust­schläge, zu denen diese zärt­li­chen Finger fähig sind, im Gedächtnis des Zuschauers präsent...

Es sind solche körper­li­chen Merkmale, die eher unschein­baren Gesten und die kleinen Wider­sprüche, über die Jacques Audiard alles über seine Figuren erzählt.

Und es sind die großen Momente, die seine Filme ausmachen. Etwa dieser: Malik, die Haupt­figur von Audiards Gefäng­nis­film Un prophète, ein Häftling, der für sechs Jahre in Haft sitzt, muss dort auf Druck der Knast­mafia seinen ersten Mord begehen. Er muss ausge­rechnet den einen töten, der nett zu ihm ist, den Freund­li­chen der ihm erklärt, warum er unbedingt Lesen lernen sollte. Er will das nicht tun. Aber der Druck auf ihm ist gewaltig, und alles Sträuben hilft nichts. Diese Mordszene ist eine der fürch­ter­lichsten des Kinos, weil der Regisseur zeigt, wie schwer das ist, einen Menschen mit einer Rasier­klinge zu töten, wie lang das dauert, weil er das Blut zeigt, das liter­weise ausläuft und den Dreck, diese ganze Mate­ria­lität des Tötens, und weil er in diese Anstren­gung auch den inneren Druck legt, der auf Malik lastet, weil der Zuschauer diesen Druck teilt, denn er weiß ja, dass Malik nur diese Chance hat, und will darum ja, dass der Mord gelingt, aber..., aber...

Oder die Szene, in der Carla, die Haupt­figur des von Hitchcock inspi­rierten Suspense-Thrillers Sur mes lèvres, eine taub­stumme Büro­an­ge­stellte, die abends oft das Kind ihrer allein­er­zie­henden Freundin hütet, während diese das Nacht­leben genießt, mit dieser Freundin zusam­men­trifft. Noch bevor diese auch nur den Mund aufmacht, um von ihren neuesten eroti­schen Erfah­rungen zu erzählen, wissen wir schon alles über sie. Wir wissen es, weil wir die Gesten sehen, mit denen sie sich bewegt, weil wir ihren Gesichts­aus­druck sehen, als sie zum Sprechen ansetzt, und weil wir den Pullover sehen, den sie anhat.

Oder in Audiards neuestem Film, Rust and Bone (Original: De rouille et d’os, dt.: Der Geschmack von Rost und Knochen): Etwa nach 25 Minuten verweilt die Kamera erstmals eine Weile bei Stephanie, der zweiten Haupt­figur des Films. Die hübsche, keines­wegs zerbrech­lich wirkende junge Frau arbeitet in der Wal-Show eine Frei­zeit­parks, und diese Minuten, in denen Audiard die Show zeigt, gehören zu den besten des ganzen Films: Man guckt einfach zu bei den Übungen, sieht die riesigen Tiere und ihre Kunst­stücke, sieht und spürt Stepha­nies geradezu zärt­li­ches Verhältnis zu ihnen, spürt auch die Gefahr, die dabei immer in diesen „Killer­walen“ liegt. Es ist wirklich einfach nur großartig gemacht, wie hier die Gefahr ange­deutet wird, wie wir hier unter­gründig ahnen was geschieht, bevor es geschieht und wie der Regisseur die Aufgabe meistert, dass es uns dann doch enorm scho­ckiert, als plötzlich einer der Wale aus dem Bassin schießt, die Plattform auf der die Dresseure stehen, zerschmet­tert, und Stephanie plötzlich im Wasser schwimmt, und Blut darin...

Väter und Söhne

Wenn man sich mit Jacques Audiard näher beschäf­tigt, ist man zunächst vor allem über­rascht: Kaum zu glauben, dass dieser fran­zö­si­sche Regisseur, von dem man erst vor gut zehn Jahren zum ersten Mal wirklich aufmerksam wurde, als er mit seinem Film Sur mes lèvres in der »Panorama«-Sektion der Berlinale vertreten war, bereits Ende April 60 Jahre alt wurde. Noch über­raschter ist man, wenn man ihm gar zum persön­li­chen Gespräch begegnet: Er sieht jünger aus, eher wie Ende 40, höchstens Anfang 50, hat eine helle, fast jugend­lich klingende Stimme und bösartige Zungen würden jetzt wohl die Vermutung anstellen, dass das alles auch daran liegen könnte, dass er lange, viel­leicht zu lange nicht mehr gewesen ist, als der Sohn. Der Sohn nämlich des berühmten Dreh­buch­au­tors Michel Audiard (1920-1985), der eine riesige Menge erfolg­rei­cher Dreh­bücher schrieb, unter anderem ein gutes Dutzend erfolg­rei­cher Star­ve­hikel für Jean-Paul Belmondo. Zunächst wollte Jacques nichts mit dem Beruf seines Vaters zu tun haben und studierte Philo­so­phie an der Sorbonne, und las neben den seiner­zeit aktuellen Struk­tu­ra­listen auch die Werke von Hegel. Später holte ihn das Film­ge­schäft dann doch noch ein, und er arbeitete zunächst als Cutter und Regie­as­sis­tent, und schrieb später dann Dreh­bücher. Sein erstes, das er gemeinsam mit dem Vater verfasste, wurde gleich ein moderner Klassiker: Das Auge von Claude Miller.

Das Kino sei kein mythi­scher, sondern ein sehr prosai­scher Ort, das habe ihm sein Vater beige­bracht, sagt Audiard – ganz im Gegensatz zu dem, was scheinbar seine Filme erzählen. Vierzehn Jahre und über zehn Dreh­bücher später führte Audiard 1994 dann zum ersten Mal Regie bei Regarde les hommes tomber (Wenn Männer fallen). Es folgten Un héros très discret und Sur mes lèvres, sein Durch­bruch. Enorm viel Beifall gab es dann für Der wilde Schlag meines Herzens, ein Remake von James Tobacks Film Fingers aus dem Jahr 1978. Diesen Stoff hat er stark verändert. Es sollte, so erzählte Audiard seiner­zeit in einem Interview, ihm selbst nahe stehen, »ein Leben führen, das ich irgendwie nach­voll­ziehen kann«. Und abgesehen von dem großen Kontrast, den eine Figur in sich trägt, die gleich­zeitig mit dem Knüppel arme Familien aus Wohnungen vertreibt, und im nächsten Moment dann eine Bach-Sonate spielt, über den Kontrast zwischen Schönheit und Häss­lich­keit, zwischen einer schönen Vergan­gen­heit und einer bösen Zukunft, den die Haupt­figur dann umdreht, und am Ende ein Impres­sario des bürger­li­chen Musik­be­triebs ist, der mit den Traumata seiner Vergan­gen­heit zu kämpfen hat, kommt einem auch hier wieder das Verhältnis zwischen Vater und Sohn in den Sinn.

Solche Verhält­nisse trifft man immer wieder in den letzten Filmen Audiards, sie sind offen­sicht­lich sein Thema. Mal direkt, wie in »Der wilde Schlag meines Herzens« in dem der Sohn eine Art brutale Fürsorge für seinen Vater übernimmt, die auch über dessen Tod hinaus reicht, als er seine Ermordung an deren Draht­zieher rächt, Oder jetzt in Rust and Bone, in dem der Vater ziemlich alles, vor allem seine körper­liche Gesund­heit dafür riskiert, dass er dem Sohn ein besseres Leben verschafft, oder ihm auch ganz einfach das Leben rettet. Imaginärer, abgrün­diger findet man dieses Verhältnis in »Un Prophet«, in dem die Rolle des bösen Vaters von dem korsi­schen Paten Luciano besetzt ist, der im Gefängnis ein alttes­ta­men­ta­risch-brutales Regime führt.

Den zweiten Fixpunkt in Audiards Geschichten bildet die bürger­liche Gesell­schaft, oder noch konkreter das bürger­liche Leben. Audiard zeigt oft Deklas­sierte, die am Ende in der Regel in die Gesell­schaft zurück­kehren. Fast ein bisschen zu schlicht und zu idyllisch ist dies gezeichnet: Das Flug­ti­cket nach Johan­nis­burg, mit dem das Paar aus Sur mes lèvres aus der fran­zö­si­schen Ange­stell­ten­welt flieht, in der es sich kennen­lernte. Der Betrieb der klas­si­schen Musik­kon­zerte, in der das Paar aus Der wilde Schlag meines Herzens zum Schluss des Films lebt. Oder die Welt des Profi­bo­xens und der Luxus­ho­tels, in der Rust and Bone endet.

Das Kino als Bildungs­roman und Gesell­schafts­spiegel

In diesen Filmen erleben Audiards Figuren immer Lern­pro­zesse; Audiard selbst spricht, das deutsche Wort verwen­dend, von »Bildungs­roman«. Am Ende ihrer Reise, die sie durch Abgründe und Prüfungen führen wird, kehren diese Figuren gewis­ser­maßen ins Leben zurück, sie verlassen die Welt, die ihnen ihre Väter hinter­lassen haben – denn diese Väterwelt ist keine gute. Man muss sie verlassen, um sich zu reso­zia­li­sieren. So müssen Stephanie und Ali beide lernen, was Liebe überhaupt ist, bevor sie sich lieben können: Sie hat Liebe nie erfahren, er kennt selbst die Worte dafür nicht.

Kino bei Audiard ist pysisch und direkt, eine Form der Welt­be­zie­hung. Darum ist es auch überaus politisch, aber nie plakativ. »Ich mache Kino, kein Fernsehen«, antwortet Audiard hierzu so knapp wie klar. Kino sei eine realis­ti­sche Kunst. Aber heute stehe es vor anderen Fragen, es brauche die Realität nicht mehr so nötig wie früher. »Das Kino von Renoir zeigt mir die Spätphase der Dritten Republik. Neore­laismus gibt mir eine Vorstel­lung von der italie­ni­schen Gesell­schaft zwischen 1945 und 1960. Und der neue deutsche Film von einem guten Jahrzehnt Bundes­re­pu­blik. Kino wenn es gut ist, ist immer eine Quelle für Fakten.«

Wie wird man mit ähnlichem Blick einst Audiards Filme wieder­sehen? Sind es die Welten der jungen Männer mit ihrer Grobheit und Tapsig­keit, aus der der es kein Entrinnen gibt? Oder der Prag­ma­tismus der Frauen, ihre Hand­fes­tig­keit, mit der sie das Tier im Manne zu zähmen wissen – sie alle auf ihre Domp­teusen und Versehrte: Eine Witwe, eine Taub­stumme, eine Verkrüp­pelte, und eine, die als Chinesin kein Wirt Fran­zö­sisch spricht, aber auf dem Klavier jeden Misston hört.

Audiard ist wie gesagt eher ein Regisseur der kleinen Gesten. Des nervösen Zitterns, des Herz­schlags. Aber dessen Pochen vergisst man nicht, sein Bild brennt sich ein ins Hirn des Betrach­ters. Seine Zukunft als Regisseur erscheint Audiard daher, jenseits aller Melan­cholie, völlig unklar. Denn kann man im Zeitalter digitaler Bilder­ma­lerei noch wie einst im Kino Wahr­haf­tig­keit finden? Die stärkste Inspi­ra­tion findet er heute in Asien. »Aber warum? Weil das dortige Kino eine sehr exakte Form ist, über diese Gesell­schaften und Menschen und Welten zu sprechen.«