12.07.2012

Trau­ma­ti­sie­rungen

Heidi Specognas Esther und die Geister
Heidi Specognas Esther und die Geister
war einer der beklemmenden Höhepunkte beim diesjährigen Festival von Nyon

Nyons Dokumentarfestival »Vision du Réel« scheut nicht den Blick in den Abgrund

Von Dieter Wieczorek

Etwa 900 Tage dauerte die Bela­ge­rung Stalin­grads. Seither hat sich besonders die russi­schen Seite um die Mysti­fi­zie­rung des hier geleis­teten »Wider­standes« bemüht, über den die Behörden bis heute ein Sprech­verbot erließen. Eine Fülle an Medaillen wurde ausge­schüttet an die wenigen Über­le­benden, bis heute werden Dankes­be­kun­dungen laut für die heroi­schen Taten, Schul­klassen in die Privat­räume der »Kämpfer« geführt, um sich über die Vater­lands­ge­schichte zu infor­mieren. Nur die Betrof­fenen selbst ziehen es vor, über ihre Erin­ne­rungen zu schweigen, egal ob immer noch stalingläubig oder nicht.

Denn was wirklich geschah in diesen Kälte- und Hunger­tagen geht an die Grenze des Vorstel­lungs­ver­mö­gens. In Jessica Gortners nieder­län­disch-russi­scher Kopro­duk­tion 900 Dagen kommen Zeugen zu Wort. Das Abschlachten der eigenen geliebten Hauskatze gehört dabei noch zu den Harm­lo­sig­keiten. An anderen Ende der Skala ist das Ausscharren von Fried­hofs­lei­chen zu Zwecken der Verspei­sung oder das Ausweiden von auf der Straße liegender Kadaver zu verzeichnen. Gortners Kamera bleibt auf den Gesichter der Ehren­fest­gäste stehen, die den Reden ohne große Emotionen folgen. Sie besucht die Veteranen in ihren Wohnungen oder bei ihren gemein­samen Vete­ra­nen­treffen, um Segmente der Wahrheit zu rekon­stru­ieren. Ihr Beitrag ist von schlichter anthro­po­lo­gi­scher Klarheit: der Über­le­bens­wille kennt weder Grenzen noch Tabus.

Die emotio­nalen Verkrus­tungen eines Lebens in einer tota­litären Diktatur wie die Ceau­sescus eruiert die Film­ma­cherin Vanina Vignals in der rumänisch-fran­zö­si­schen Kopro­duk­tion Après le silence ce qui n'est pas dit n'existe pas? (Nach dem Schweigen – Was nicht gesagt ist, existiert nicht?) im Gespräch mit ihrer rumä­ni­schen Freundin Ioana. Die auf den ersten Blick in der Norma­lität ange­kom­mene, selbst­be­wusste Frau, erweist sich auf den zweiten als eine, der bereits ange­sichts der Naivität ihrer die Inter­na­tio­nale singende Freundin in Tränen ausbricht. Opfer der andau­ernden Erfahrung der Ausge­schlos­sen­heit als Tochter eines inhaf­tierten Unan­ge­passten verlief ihre Kindheit wie ein endloser Spieß­ru­ten­lauf ohne Schutz­raum, da die Lebens­lüge auch in der eigenen Familie aufrecht erhalten blieb. Das Schicksal des eigenen Vaters war Tabu. Sich Anderen anzu­ver­trauen war ausge­schlossen. Das fast private Gespräch zwischen den Freun­dinnen wird zum Echoraum einer Gene­ra­tion in Dauer­t­rau­ma­ti­sie­rung.

In Comme des lions de pierre à l’entrée de la nuit (Wie Stein­löwen am Eingang der Nacht) geht Olivier Zuchuat dem anti­kom­mu­nis­ti­schen Zwangs- und Folter­la­gern auf der grie­chi­schen Insel Makro­nissos nach. Dort wurden zwischen 1948 bis 1951 neben den rein Poli­ti­schen auch eine Vielzahl von Intel­lek­tu­ellen, Schrift­stel­lern und Dichtern, insgesamt 80.000, inhaf­tiert. Zuchuat beschränkt sich in seiner Kame­ra­füh­rung auf das Entlang­gleiten an den Gefäng­nis­ruine zur Tages- und Nachtzeit. Selbst unter diesen martia­li­schen Umständen entstanden im Verbor­genen Texte, die nun im Off erklingen, unter­bro­chen von metal­lisch klin­genden Laut­spre­cher­an­sagen, die die histo­risch doku­men­tierten Propa­ganda- und Einschüch­te­rungs­se­quenzen in einem nicht zu über­tref­fenden ästhe­ti­schen Kontrast zu den geheimen Aufzeich­nungen repro­du­zieren. In dieser Extrem­si­tua­tion erscheint die Fähigkeit, die trau­ma­ti­sche Erfahrung in Wort zu fassen wie eine Wider­stands­kraft. Die Texte wurden in der Erde verscharrt und nach der durch inter­na­tio­nalen Druck schließ­lich erfolgten Schließung der Lager wieder­ge­funden.

Im Kurzfilm-Wett­be­werb zeigt Heidi Specogna in der deutschen Produk­tion Esther und die Geister eine 17-Jährige, die in Zentral­afrika das Abschlachten ihres Vaters und die Verge­wal­ti­gung aller weib­li­chen Fami­li­en­mit­glieder durch­lebte. Durch dieses Erleiden entehrt, fühlt Ester sich bis heute von Geistern verfolgt, die sie nicht schlafen lassen. Ihre Ängste hindern sie oft sogar, auf die Straße zu treten. Der dezent vorge­henden Filme­ma­cherin vertraut die junge Frau ihre verbor­genen, ganz naiven Wünsche und Zukunfts­vor­stel­lungen an, etwa eine eigene Familie zu gründen und ein neues Leben zu beginnen. Specogna beob­achtet Esther und ihre Schwester auch bei ihren vertrauten Gesprächen und begleitet sie auf ihren (seltenen) Ausflügen. Während der Massa­ker­ver­ant­wort­liche Jean-Pierre Bemba auf Verzö­ge­rungs­technik vor dem Inter­na­tio­nalen Gerichtshof setzt, wirken die Folgen seiner Taten mit gleich­blei­bender Inten­sität nach.

Vorweg­ge­nom­mene Trau­ma­ti­sie­rung oder die Macht der Tech­no­lo­gie­schocks kommt bei dem Belgier Jérôme Le Maire in Le Thé ou l 'électri­cité (Tee oder Elek­tri­zität) zum Tragen. Ein abge­schie­denes, von der Elek­tri­zität abge­schnit­tenes Dorf im hohen Atlas von Marokko wird mit der Instal­lie­rung einer elek­tri­schen Leitung konfron­tiert, ein Angebot, das nicht abge­schlagen werden kann, und permanent Kosten aufwirft, ist die Anlage erst einmal instal­liert. In Folge verarmen einige Familien gänzlich, da selbst nach baldiger Wieder­ab­schal­tung der Strom­zu­fuhr das Abon­ne­ment nach wie vor zu bezahlen ist. Einschnei­dender noch ist, als die Fernseher eintreffen und mit ihnen die Infil­tra­tion des Dorfes durch die um Luxus orien­tierte Konsum­welt. Wie in Hypnose gebannt sieht man die Fami­li­en­mit­glieder ungläubig vor den emotional mächtigen Bildern aushar­rend. Die gesamte Sozi­al­struktur des Ortes verändert sich von da an; unter Konsum­zwang trans­for­miert sich alles in käufliche Dimen­sionen. Der Kultur­schock durch den Tech­no­lo­gie­transfer verdichtet sich bei Le Maire zu inten­siven Bildern, wie die Nahauf­nahmen von den Kinder­augen, die in den TV-Schirm glotzen.

Massen­hafte Trau­ma­ti­sie­rungen all der namenlos Exilierten, Migranten und Flücht­linge: Auch die ebenfalls aus Belgien kommende Mary Jimenez thema­ti­siert dies in Héros sans visage (Helden ohne Gesicht). Illegale Einwan­derer in Brüssel, die bis zum Tod hunger­streiken, liba­ne­si­sche Flücht­linge, die mit letzter Kraft in Tunesien eintreffen, oder ein junger Mann, der auf einem aufge­pumpten Lkw-Reifen das Mittel­meer überquert und nur mit Hilfe von Delphinen überleben konnte, und dann kein Asyl fand, sind die Prot­ago­nisten dieses unheim­li­ches Werks: Die Trau­ma­ti­sie­rung der Welt schreitet voran.