06.10.2011

Herr Haber­lander schweift ab – Heute: Poesie der Werbung

Visuelle Abschweifung
… und man in Mährchen und Gedichten, erkennt die wahren Weltgeschichten

Teil 2 unseres artechock-Extras »Herr Haberlander schweift ab«, zusammengestellt aus Texten von Michael Haberlander, die er auf seinem Blog traurigschönewelt – Das Leben ist komplex schreibt

Von Michael Haberlander

Vor einigen Wochen saß ich im Kino und sah zum ersten Mal einen neuen Werbespot, der sich nicht auf Anhieb einem bestimmten Produkt zuordnen ließ. Zu einem gelun­genen Mix aus ernsten, schönen, aktuellen, histo­ri­schen, traurigen, berühmten, realis­ti­schen und künst­le­ri­schen Bildern rezitiert eine Frau­en­stimme ein Gedicht, das dazu auffor­dert, sich die eigene Neugierde zu lassen, nicht die Augen zu verschließen um nur das Schöne zu sehen und das schließ­lich darum bittet, dass uns doch bitte jemand zeige möge, wie alles auf der Welt zusam­men­hängt. Ein gelun­gener Werbespot und gerade weil er so gelungen ist, habe ich mit großen Befürch­tungen dem Ende entge­gen­ge­sehen. Befürchtet habe ich das Produkt, das hier beworben wird. Kommt leider immer wieder vor, dass man vor einer so künst­le­ri­schen Werbung sitzt, die schwer ins Poetische tendiert, die die großen Themen wie Liebe, Leben, Schönheit, Wahrheit, Freiheit behandelt, die scheinbar nur schön sein will ohne etwas verkaufen zu wollen und am Schluss steht dann das Logo eines unglaub­lich profanen und / oder ärger­li­chen Produktes bzw. einer wider­li­chen Firma.

So war dann auch in diesem Fall meine Befürch­tung, dass die bild­ge­wal­tige Auffor­de­rung zur Neugierde und Welter­klä­rung für eine Bank, einen Ener­gie­kon­zern oder für Turn­schuhe werben sollte (wenn Sie jetzt fragen: »Was hätte denn eine solche Werbung mit einer Bank oder einem Ener­gie­kon­zern oder Turn­schuhen zu tun?«, dann haben sie das eigent­liche Wesen der Werbung nicht verstanden). Erleich­tert nahm ich zur Kenntnis, dass es die Süddeut­sche Zeitung ist, die derart auf sich aufmerksam macht. Dieses Produkt mit solchen Mitteln zu bewerben erscheint mir akzep­tabel und ange­messen. Wer den Spot sehen möchte, findet ihn u.a. auf der Homepage der verant­wort­li­chen Münchener Werbe­agentur Wunder­haus.

Vergan­genes Woche­n­ende bin ich wieder im Kino, es läuft wieder der besagte Werbespot und obwohl ich ihn nun schon mehrfach gesehen habe, finde ich ihn immer noch gut und bin ich immer noch froh darüber, dass er die SZ und kein Wasch­mittel oder eine über­flüs­sige Software bewirbt. Prompt folgt eine andere, mir bisher nicht bekannte Werbung, wieder rezitiert man (diesmal auf Englisch) ein Gedicht, es geht um die Selbst­be­stim­mung, dass man sich nicht von den Zwängen und dunklen Mächten der Welt unter­kriegen lassen soll, dass man sich selbst annehmen soll. Und wieder inter­es­sante, schöne Bilder, diesmal von jungen Menschen in typischen Szenen eines jugend­li­chen Lebens und wieder zittere ich, doch diesmal gibt es keine gutes Ende, sondern den Hinweis auf einen (wenn auch „legen­dären“ so doch nur) Jeans-Hosen-Hersteller (der Spot findet sich im Internet unter Levi’s Legacy bzw. Go Forth 2011). Als ich heraus­finde, dass das verwen­dete (bzw. geschän­dete) Gedicht The laughing heart heißt und von Charles Bukowski stammt, empfinde ich das als arge und ärger­liche Frechheit. Als ich mir aber klar mache, dass in der Werbung laufend die feinste und schönste Musik verwurstet wird und dass ich mich darüber schon lange nicht mehr aufrege, erscheint es mir schnell unsinnig, die kommer­zi­elle Ausbeu­tung von guter Lyrik anders hand­zu­haben. Dass mit Lyrik (im Gegensatz zur Musik) so verfahren wird, kommt (leider oder zum Glück?) zu selten vor, als dass man sich / ich mich daran gewöhnt hätte.

Das Gedicht aus dem SZ-Spot konnte ich im Netz erstaun­li­cher­weise nicht ausfindig machen. Entweder handelt es sich dabei um ein kaum bekanntes, gut verstecktes Werk der Welt­li­te­ratur oder es wurde extra für diesen Werbe­zweck erschaffen. Im zweiten Fall gebührt der Süddeut­schen weiterer Respekt dafür, bestehende Kunst nicht für die eigenen kommer­zi­ellen Inter­essen auszu­nutzen.
Ich war bei der obigen Bild­un­ter­schrift nicht ganz so edel und habe mich schamlos bei Novalis bedient.