16.06.2011
artechock präsentiert

Wie der Kino­be­such mit einem guten Freund

Die Artechocken (vl.n.r.):
Rüdiger Suchsland (unterm Arm), Anna Edelmann, Thomas Willmann, Axel Timo Purr (als Anstecker), Stefanie Schulte-Krude, Claus Schotten, Nani Fux, Anna Woll, Dunja Bialas, Irene Nana Kullmer

»artechock« wird 15! Das Münchner Kinomagazin, dessen Wirkungsgrad weit über München hinausweist, wurde 1996 gegründet und feiert am Samstag, den 18.6.2011, seinen 15. Geburtstag. Hier verraten wir unseren Lesern, was sich hinter »artechock« verbirgt

Von Redaktion

1. Wieso eigent­lich »artechock«?

»artechock« ist ein Worthy­brid, zusam­men­ge­setzt von ital. arte + dem Benjamin'schen »Chock«. Walter Benjamin schrieb 1939 in seinem berühmt gewor­denen Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner tech­ni­schen Repro­du­zier­bar­keit«:

»'Ich kann schon nicht mehr denken, was ich denken will. Die beweg­li­chen Bilder haben sich an den Platz meiner Gedanken gesetzt.' In der Tat wird der Asso­zia­ti­ons­ab­lauf dessen, der diese (Film-)Bilder betrachtet, sofort durch ihre Verän­de­rung unter­bro­chen. Darauf beruht die CHOCK-Wirkung des Films, die wie jede Chock­wir­kung durch gestei­gerte Geis­tes­ge­gen­wart aufge­fangen sein will.«

Treffend charak­te­ri­siert Benjamin im selben Aufsatz Film als »die der gestei­gerten Lebens­ge­fahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entspre­chende Kunstform«. »Das Bedürfnis«, so Benjamin weiter, »sich Chock­wir­kungen auszu­setzen, ist ein Anpassung der Menschen an die sie bedro­henden Gefahren. Der Film enspricht tief­grei­fenden Verän­de­rungen des Apper­zep­ti­ons­ppa­rates – Verän­de­rungen, wie sie im Maßstab der Privat­exis­tenz jeder Passant im Groß­stadt­ver­kehr, wie sie im geschicht­li­chen Maßstab jeder heutige Staats­bürger erlebt.«

Der Film­kri­tiker ist also nach Benjamin derjenige, der »schon nicht mehr denken kann«, ange­sichts des rasanten Wechsels der Bilder. Auge in Auge mit dem Film, blickt er der allge­mei­neren Lebens­ge­fahr ins Gesicht, zu vergessen, was soeben noch so greifbar und klar war. Film­kritik ist also auch: das Anschreiben gegen das Vergessen, der Film­kri­tiker derjenige, der mit »gestei­gerter Geis­tes­ge­gen­wart« dem Film begegnet.

»artechock« erinnert natürlich auch verball­hornt an die »Arti­schocke«, dieses wider­spens­tige Distel­ge­wächs, innen durch und durch wohl­schme­ckend, bei der man aber wissen muss, wie man sie genießt. Will heißen: Kritik à la »artechock« ist eine komplexe Pflanze, präziös, aber nicht anbie­dernd, mit Gehalt und Substanz.

2. Wie der Kino­be­such mit einem guten Freund

Wozu aber überhaupt Film­kritik, warum ein Magazin wie »artechock«, das immer nur zwei Maus­klicks von dreißig anderen Homepages und Blogs zum gleichen Thema entfernt ist, warum die Mühe einer kriti­schen Ausein­an­der­set­zung, die über banales Info­tain­ment hinaus­geht?

Wenn gewisse Regis­seure (Vilsmaier und Co.) auf die mäßigen Zuschau­er­zahlen ihres letzten Films ange­spro­chen werden, erklären sie dies manchmal damit, dass ihr Werk von der Film­kritik »kaputt­ge­schrieben« wurden. Kaputt­schreiben heißt in diesem Fall, dass an einem schönen, soliden, eigent­lich publi­kums­wirk­samen Film von der Kritik so lange rumge­mäkelt wird, bis keiner mehr Lust hat, ihn anzu­schauen. Die abge­ho­benen, welt­fremden und verkopften Spaß­bremsen der Film­kritik haben dem unbe­darften Publikum mal wieder ihre Meinung aufge­zwungen.

Ein schlichter Blick auf die wöchent­li­chen Kino­charts zeigt aber jedem, dass die Realität anders aussieht, dass etwa die Filme, mit den meisten Zuschauern sicher nicht die mit den besten Kritiken sind (eher im Gegenteil), dass sogar solche, die von der Kritik einhellig abgelehnt werden (weil sie dumm, schlecht gemacht und mit einer verwerf­li­chen Botschaft sind) immer noch mehrere 100.000 Zuschauer finden, dass dagegen die, die von der Kritik ebenso einhellig gelobt und mit Preisen bedacht werden, kaum über 10.000 Zuschauer hinaus­kommen. Den offen­sicht­li­chen Wider­spruch, dass manche ihrer schlecht bespro­chenen Film sehr erfolg­reich sind, erklären die Regis­seure (wenn überhaupt) mit dem wenig schlüs­sigen Argument, dass in diesem Fall das Publikum klug genug war, sich das Vergnügen von der Kritik nicht kaputt­ma­chen zu lassen, dass gewis­ser­maßen die »Schwar­min­tel­li­genz« über die Einze­li­gno­ranz gesiegt hat. Eine Erklärung für diese wech­selnden Macht­ver­hält­nisse bleiben die Regis­seure übli­cher­weise schuldig.

Auffällig ist, dass die Kritiker der offen­sicht­lich falschen Behaup­tung, sie könnten Werke oder ganze Künstler vernichten (oder auch aus dem Nichts erschaffen), selten wider­spre­chen. Und tatsäch­lich sehen sich Film­kri­tiker gerne in der Rolle des mächtigen Fürsten, der mit geschlif­fenen Worten über das Schicksal – wenn schon nicht über das der Welt, so doch über das eines Films – entscheidet. Die Realität ist aber (zum Glück oder leider?) eine andere. Mag sein, dass es einmal Zeiten und Gegenden gab, in denen einzelnen Personen oder Medien solche Macht zukam, in der heutigen Multi- und Megamedia-Welt, in der dutzende Kanäle dutzende Ansichten zu jedem Thema und jedem Film anbieten, nehmen die tatsäch­li­chen Einfluss­mög­lich­keiten der Kritik ab.

»artechock« ist anders: Denn bei »artechock« geht es nicht um eine einsei­tige Belehrung darüber, was von dem Film zu halten sei und wie er gefäl­ligst zu verstehen ist. Es geht auch nicht darum, den Film punkt­genau in ein ewiges Ranking einzu­reihen. Und es geht schon gar nicht darum, dem Leser klar zu machen, dass sein geschmack­li­ches Urteil falsch ist.
Film­kritik auf artechock ist wie der Kino­be­such mit einem guten Freund. Wer hat nach einem anre­genden Film nicht das Bedürfnis, mit dem Freund über diese cine­as­ti­sche Erfahrung zu sprechen, abzu­glei­chen, wie der andere das gesehen, verstanden und empfunden hat, Begeis­te­rung oder Ablehnung zu teilen oder bei abwei­chender Meinung darüber zu streiten? Die Rolle dieses immer auskunfts­freu­digen Film­freundes nimmt »artechock« nun schon seit 15 Jahren ein.

3. Die »artechock«-Grati­fi­ka­tion

»artechock« wird von uns allwöchent­lich im Ehrenamt herge­stellt. Wir sind die Internet-Urge­steine und – wenn man so will – »Ewig­gest­rigen« im großen Ozean der Banner-bewor­benen Online-Platt­formen. Wie ein kleines galli­sches Dorf kämpfen wir für die unab­hän­gige und sich selbst nach ihren Voraus­set­zungen befra­gende Film­kritik. Wo andere auch kein Geld für ihre Texte bekommen, sich aber bestimmten Format­vor­gaben beugen müssen, bieten wir unseren Autoren Veröf­fent­li­chungen im »Director’s Cut« und eine große Spiel­wiese. Das »Kino­bes­tia­rium«, die »Cinema Moralia« und die Kino-Empfeh­lungen des »Filmon­kels« sind nur einige Beispiele dafür.

Diese durch und durch heroische, weil aufop­fernde Arbeit für die gute Sache muss belohnt werden, und zwar mit einer schönen Geburts­tags­feier. Wir feiern an diesem Samstag, den 18.6., und unsere Leser sind herzlich einge­laden! Einfach eine E-Mail an uns schreiben (unten­ste­hend oder im Impressum zu finden), und Ihr bekommt Zeit und Ort mitge­teilt.

Eure Artecho­cken