15.10.2009

Wenn die Wahrheit nicht zu den Schlag­zeilen passt

Roman Polanski
Roman Polanski, wanted and desired

Von Rüdiger Suchsland

Die Medien, Sex, Kinder und Kunst – der Fall Polanski und wir

Vorbe­mer­kung: Dieser Text ist eine persön­liche Meinungs­äuße­rung. Die Fakten aller­dings sind sorg­fältig recher­chiert. Wenn man anderer Meinung ist, so ist diese will­kommen. Aber bevor man dem Verfasser neben der guten Absicht auch die Recherche abspricht, sollte man sich selber infor­mieren.

Roman Polanski wird in Zürich verhaftet, ihm droht die Auslie­fe­rung – wegen des 32 Jahre zurück­lie­genden Falles der »Unzucht mit Minder­jäh­rigen«, genauer gesagt eines 13-jährigen Foto­mo­dells. Einige Tage später wird das Bild »Spiritual America« des US-ameri­ka­ni­schen Künstlers Richard Prince noch vor Eröffnung der Ausstel­lung »Pop Life: Art In A Material World« in der Londoner Tate Modern Gallery zensiert und auf Verlangen der Polizei aus der Ausstel­lung entfernt. Die Behörden befürch­teten, dass es sich bei dem Werk um »Kinder­por­no­gra­phie« handle. »Spiritual America« zeigt den nackten Körper eines Mädchens vor der Pubertät. Model stand das ameri­ka­ni­sche Model und spätere Schau­spie­lerin Brooke Shields im Alter von zehn Jahren. Zwei Ereig­nisse der letzten Woche. Ihr zufäl­liges Zusam­men­treffen wirft den Blick auf einen keines­wegs zufäl­ligen Empö­rungs­zu­sammen-hang.

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»So weit ich zurück­denken kann, ist in meinem Leben die Grenze zwischen Phantasie und Wirk­lich­keit hoff­nungslos verwischt gewesen.« – Roman Polanski, Roman by Polanski. Auto­bio­gra­phie

Beginnen wir mit dem »Fall Polanski«. »Free Polanski now!« forderten Peti­tionen aus aller Welt bereits kurz nachdem der Regisseur in der Schweiz verhaftet worden war. Unter anderem die Schau­spie­le­rinnen Monica Bellucci, Tilda Swinton, Fanny Ardant, Asia Argento, Whoopie Goldberg und Debra Winger, die Regis­seure David Lynch, Martin Scorsese, Wong Kar Wai, Jonathan Demme, Fatih Akin, Constantin Costa-Gavras, Woody Allen, Tom Tykwer, Andrzej Wajda, Pedro Almodóvar, Ettore Scola, Wim Wenders und Michael Mann, Studio­boss Harvey Weinstein, die Festi­val­di­rek­toren Thierry Frémaux (Cannes) und Dieter Kosslick (Berlin) haben eine Petition zu Polanskis Gunsten unter­zeichnet.

Die vorher­seh­baren Gegen­re­ak­tionen ließen nicht lange auf sich warten. »Die Petition erweckt den Eindruck, Künstler ständen über dem Gesetz. Für sie gilt nicht, was für Krethi und Plethi selbst­ver­s­tänd­lich wäre«, verur­teilte die taz schon in der Ausgabe vom 30. September 2009 die Initia­tive und fragte rheto­risch: »Stehen Künstler etwa über dem Gesetz?« Die kata­la­ni­sche Schrift­stel­lerin Najat al Achami wird in der AZ noch mit einer popu­lis­ti­scheren Formu­lie­rung zitiert: »Sollen wir Künstler moralisch anders beur­teilen als anonyme arme Schlucker?« Solch eine Frage ist natürlich popu­lis­ti­scher Unsinn. Denn zum einen hat das keiner behauptet. Zum anderen muss die Antwort aber lauten: In gewissem Sinne, ja! Nicht juris­tisch – deshalb ist dies hier auch kein Freibrief für irgend­welche Verbre­chen –, aber moralisch. Nur traut sich das heute keiner auszu­spre­chen, weil eine solche Aussage im derzei­tigen Klima allge­gen­wär­tiger Sitten­wächter, Lehrer und Schul­meister, gerade auf Seiten der Linken, nicht opportun ist. Auch der Stamm­tisch der Online-Portale reagierte mehr­heit­lich recht klar: Wieso soll jemand bevorzugt behandelt werden, bloß weil er hervor­ra­gende Filme macht? Gute Frage! Aller­dings sollte er deshalb auch nicht benach­tei­ligt werden, und genau das ist hier der Fall.

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»In general, I despise the press tremen­dously for its inac­cu­racy, for its irre­s­pon­si­bi­lity, for its often even deli­be­rate cruelty, and all of this is for lucrative purposes.« – Roman Polanski

»Gleiches Recht für Alle« ist tatsäch­lich ein hehrer Grundsatz, der auch im Fall von Polanski gelten muss. Daneben gibt es aber noch andere Basis­sätze zivi­li­sierten Rechts, die nicht weniger gelten müssen. Der erste von ihnen lautet: »Im Zweifel für den Ange­klagten«. Diese Unschulds­ver­mu­tung herrscht im Fall Roman Polanski aber schon lange nicht mehr. Obwohl der Regisseur vor 32 Jahren wegen »statutory rape«, korrekt übersetzt »Unzucht mit Minder­jäh­rigen« angeklagt wurde, und dies auch – aller­dings nur als Teil einer Absprache zwischen den Prozess­par­teien, um den Fall schnell beizu­legen – zugegeben hat, keines­wegs aber wegen »Verge­wal­ti­gung«, ist konse­quent genau davon die Rede. Man muss nur einmal eine jener wider­li­chen Internet-Foren zum Fall in diesen Tagen besuchen: Polanski ist da einfach ein »child rapist«.

Selbst die Anklage unter­stellt ihm keine Gewalt­an­wen­dung. Zudem besteht Polanski darauf, das Alter seines Opfers sei ihm unbekannt gewesen. Das ist möglich, genauso wie es möglich ist, dass er lügt. Aber es geht nicht darum, ob man ihm das glaubt. Sondern darum, dass er den juris­ti­schen Anspruch darauf hat, dass wir es ihm glauben – bis zum Beweis des Gegen­teils.
Feine Unter­schiede spielen aber bei der hier hyste­ri­sierten öffent­lich­keit und ihrer einge­spielten Empö­rungs­ma­schine längst keine Rolle mehr.

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»Who wouldn’t think about running when facing a 50-year sentence from a judge who was clearly more inte­rested in his own repu­ta­tion than a fair judgement or even the well-being of the victim?« – Samantha Geimer

Das zeigt sich vor allem an der grund­sätz­lich verlo­genen, einsei­tigen, oft falschen, manchmal bewusst verfäl­schenden Darstel­lung der Ereig­nisse im Jahr 1977/78. Dabei könnte man es besser wissen, spätes­tens seit Marina Zenovichs heraus­ra­gendem Doku­men­tar­film Roman Polanski: Wanted And Desired. Zenovich zeigt, dass das, was heute, auch durch deutsche Medien geistert, zum größten Teil Mytho­logie ist, die mit den Fakten nichts zu tun hat.

Erinnern wir uns. Was sicher ist: Polanski und Samantha Gailey (heute: Geimer) hatten sexuellen Körper­kon­takt, ob erzwungen oder frei­willig. Der Regisseur hat zunächst auf »unschuldig« plädiert. Ebenso sicher ist: Gailey bzw. ihre Mutter waren ähnlich wie Polanski daran inter­es­siert, den Fall so diskret wie möglich beizu­legen, und setzten sich bereits 1977 dafür ein, dass der Regisseur keine Gefäng­nis­strafe erhalte. Skan­da­li­siert und zum »Fall Polanski« wurde alles erst durch den zustän­digen Richter Laurence J. Ritten­band, der seiner­zeit nur deshalb mit dem Fall betraut worden war, weil er sich selbst massiv dazu gedrängt hatte.

Ritten­band war von Hollywood und seinen Stars besessen. Als »Richter der Stars« hoffte er von ihrem Ruhm zu profi­tieren, und selbst in den Rang einer Celebrity zu kommen. Ritten­band war zugleich ein typischer Reprä­sen­tant des biederen, bigotten, zurück­ge­blie­benen Middle-Amerika, dessen Klein­bürger-Gesinnung noch im 19. Jahr­hun­dert wurzelt. Für dieses Amerika ist Hollywood nicht nur fremd, sondern eine faszi­nie­rend abstoßende Hölle. Und Polanski war in diesem Bild der böse kaputte Zwerg. Er war als Einwan­derer, Liberaler, Jude, als einer, der offenen ein liber­täres Leben inklusive freiem Sex, freien Drogen, freier Moral führte, der Filme drehte, in denen er der Bour­geoisie eine lange Nase zeigte, und überdies so »furcht­bare Themen«, wie Ehebruch (Das Messer im Wasser), Wahnsinn (Ekel), Sex (Tanz der Vampire), Sata­nismus (Rosemary’s Baby), Blut­rausch (Macbeth), Inzest und Korrup­tion (Chinatown) in Szene setzte, das Symbol für jenes »New Hollywood« des Auto­ren­kinos, das mit dem idea­li­sierten Selbst­bild des Durch­schnitts­ame­rika nichts mehr zu tun hatte.

Mit dieser Symbol­figur wollte Richter Ritten­band erklär­ter­maßen abrechnen, darum wurde Polanski schärfer verfolgt, als jeder Normal­bürger, der erstmals wegen Unzucht mit Minder­jäh­rigen verur­teilt wurde. Darum nahm der Richter den bereits ausge­han­delten Vergleich nach­träg­lich und nachdem Polanski bereits seine Strafe von 90 Tagen Einzel­haft in der kali­for­ni­schen Gefäng­nis­psych­ia­trie (nach 42 Tagen war ihm, auch das ein üblicher Vorgang, der Rest der Strafe auf Bewährung erlassen worden) abge­sessen hatte, zurück. In Zenovichs Film sind sich der damalige Staats­an­walt Roger Gunson und Polanskis Vertei­diger Douglas Dalton völlig einig: Mit einem anderen Richter, als ausge­rechnet dem ruhmsüch­tigen Ritten­band wäre Polanski nie ins selbst­ge­wählte Exil geflüchtet.

Für diese Fakten inter­es­siert sich aller­dings kaum einer: »Polanski … hat etwas getan, wofür er sich verant­worten muss«, schreibt Cristina Nord in der taz, als hätte er das nicht: »Polanski entzog sich dem Verfahren« – was er nicht getan hat, betont, es habe kein Urteil gegeben, um dann doch zu schreiben, Polanski habe »sich eines Verbre­chens schuldig gemacht«, als ob das schon fest­stünde. Damit bestätigt sie nur, was sie selbst ins Feld führt: Dass bei Anklagen wegen Sexu­al­de­likten Vorver­ur­tei­lungen gang und gäbe sind.
Oder Daniel Kothen­schulte, der in der Frank­furter Rundschau Polanski, alle Fakten igno­rie­rend, kurzer­hand einen »gestän­digen Verge­wal­tiger einer 13-Jährigen« nennt, und behauptet, er wäre vor »dem Gesetz« und »einem ameri­ka­ni­schen Gericht geflohen«.

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»Abgründe tun sich auf, betrachtet man das filmische Werk von Roman Polanski.« – Susanne Ostwald, Neue Zürcher Zeitung, 3. Oktober 2009

Aber Polanski floh nicht, weil er der Strafe entgehen wollte. Er floh, weil er mit guten Gründen nicht länger darauf vertrauen konnte, dass er einen fairen Prozess erhalten würde. Und hier kommt nun sehr wohl Polanskis Vergan­gen­heit als Jude und Opfer der Nazi-Verfol­gung ins Spiel, der seine im sechsten Monat schwan­gere Mutter in Auschwitz zum Opfer fiel. Wie seine Erfah­rungen mit den US-Medien, nachdem seine im achten Monat schwan­gere Frau Sharon Tate von der »Manson-Family« ermordet wurde: Die Medien überboten sich in Kurz­schlüssen zwischen Polanskis Filmwerk und seinem Leben. Unaus­ge­spro­chen stand die unge­heu­er­liche Behaup­tung im Raum: »Wer solche Filme macht…, der muss sich nicht wundern, wenn ihm so etwas passiert.« Der böse kaputte Zwerg eben. In dieses Bild passten dann die Ereig­nisse von 1977. Sie schienen die Behaup­tung vom mora­li­schen Defizit Polanskis perfekt zu bestä­tigen. Schon die ganzen Ornamente: Jack Nichol­sons Haus, Fotos für die Vogue, Cham­pa­gner, Whirlpool…

Diese Reak­tionen haben sich immer wieder­holt: 1969, nach den Manson-Morden. 1977, nach den durchaus nicht völlig zwei­fels­freien Verge­wal­ti­gungs-Vorwürfen. Jetzt, 2009, nach der Verhaf­tung in der Schweiz, als sich etwa die Neue Zürcher Zeitung nicht entblödet, einen Text zu veröf­fent­li­chen »über sein Werk…, oder darüber, inwieweit dieses Rück­schlüsse auf das Wesen des Regis­seurs zulässt.« Viel­leicht hätte man ihn endlich mal für seine Filme verhaften sollen.

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Der zweite Grundsatz, auf den sich, über die Gräben des aktuellen Streits um Polanski hinweg, doch trotzdem die meisten Außen­ste­henden vers­tän­digen können sollten, heißt: Gerech­tig­keit. Es heißt Gerech­tig­keit für das Opfer, aber eben auch für Roman Polanski. Und dass Polanski 1977/78 diese Gerech­tig­keit nicht zuteil wurde, darüber sind sich alle einig: Die Staats­an­walt­schaft, die Vertei­di­gung, das Opfer selbst.

Aber was heißt hier nun Gerech­tig­keit? Bestimmt nicht die Entschul­di­gung seiner Tat mit Hinweis auf sein hohes Alter. Mit diesem Argument könnte man auch KZ-Schergen straffrei davon kommen lassen. Auch der Hinweis auf Polanskis doppelt und dreifach trau­ma­ti­sche Vergan­gen­heit zieht nicht. Es stimmt zwar: Polanski ist über­le­bender der Schoa, Opfer zunächst der Nazi-Verfol­gungs­ma­schine, dann mit 16 Jahren, eines Verge­wal­ti­gers und gesuchten Mörders, schließ­lich der Sata­nisten-Sekte um Charles Manson, die seine Frau Sharon Tate und sein unge­bo­renes Kind brutal ermor­deten. Doch natürlich recht­fer­tigen solche Erfah­rungen keine eigenen krimi­nellen Taten. Allen­falls schmälern sie als mildernde Umstände die Schuld.
Sehr wohl aber hieße Gerech­tig­keit, dass ein Richter nicht, wie Ritten­band, öffent­liche Schein­hea­rings über Fragen veran­staltet, die bereits im stillen Kämmer­lein entschieden wurden. Dass er sich nicht über den Fall mit Jour­na­listen oder Bekannten aus dem »Country Club« unterhält. Dass er nicht gegenüber Staats­an­walt­schaft und Vertei­di­gung wort­brüchig wird.

Und es hieße, auch einmal, neben dem juris­ti­schen Jagdtrieb, der frohlockt, dass nach 32 Jahren ein gehetztes Wild dann doch noch zur Strecke gebracht wurde, auch dem Opfer sein Recht zuzu­ge­stehen. Es ist zwar Mode geworden im jüngeren Diskurs über Recht und Krimi­na­lität, die Position der Opfer zu betonen. In der Praxis, auch das zeigt dieser Fall, bedeutet das nichts. Denn das Opfer, Samantha Geimer, hat Polanski längst öffent­lich verziehen. Sie sehe sich inzwi­schen selbst als »Opfer der Staats­an­walt­schaft« sagt sie, und wünscht keinen neuen Straf­pro­zess. Viel­leicht könnte zumindest dies all jene unbe­tei­ligten Beob­achter, die sich jetzt stell­ver­tre­tend empören, zu etwas mehr Demut bewegen.

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Zudem stellt sich die Frage, ob der Grundsatz »Gleiches Recht für Alle« hier überhaupt gelten kann, so wünschens­wert es wäre. Hat Polanski überhaupt eine Chance auf Gleich­be­hand­lung? Die Ereig­nisse der vergan­genen Tage deuten jeden­falls nicht darauf hin.

Das beginnt mit dem heuch­le­ri­schen Verhalten der Schweiz, die, nachdem sie den Regisseur jahrelang unbe­hel­ligt ein- und ausreisen ließ, ihn plötzlich verhaften lässt, weil dies gerade politisch opportun scheint – obwohl führende Juristen von Anfang an argu­men­tieren, dass die Behörden Polanski nach Schweizer Recht gar nicht auslie­fern dürfen.

Hinzu kommt: Hat Polanski also die Chance auf einen fairen Prozess? Wohl kaum. Schon deshalb, weil es gute Gründe gibt, überhaupt daran zu zweifeln, ob die USA ein Rechts­staat im europäi­schen Sinne sind: Guan­ta­namo, exzessive und mora­li­sie­rende Straf­ver­fol­gung, die nach wie vor unge­klärte Möglich­keit mani­pu­lierter Präsi­dent­schafts­wahlen 2000. Aber auch, weil Polanski in den USA längst zur Symbol­figur jener liberalen Gegen­kultur der 60er geworden ist, die seit einiger Zeit im Zentrum einer Hexenjagd rechts­kon­ser­va­tiver und christ­lich-funda­men­ta­lis­ti­scher Kreise steht. Man muss nur einmal ein paar der wider­li­chen State­ments braver US-Bürger in Inter­net­foren nachlesen, um die Stimmung zu erfühlen, in der irgend­wann über Polanski dann »Recht gespro­chen« werden soll. Pogrom und Pranger sind das Muster – da wirkt es doch arg betulich, wenn Cathrin Kahlweit in der Süddeut­schen schreibt:

»Wenn auch nur die Hälfte der Einwände, die derzeit gegen den Umgang mit Roman Polanski ins Feld geführt werden, stand­halten, dann wird, das darf man getrost annehmen, ein Gericht in den USA den Teufel tun, den 76-Jährigen für viele Monate hinter Gitter zu setzen. Dann werden Vorlauf und Begleit­um­s­tände das ihre dazu beitragen, dass der Künstler recht bald wieder in seinem Schweizer Chalet wohnen kann. Und wenn nicht? Dann war der Glaube an Justitia einmal mehr naiv. Und doch wird es moralisch und politisch unum­gäng­lich gewesen sein, auf die Gleich­heit vor dem Gesetz zu pochen.« – Cathrin Kahlweit, SZ vom 2.10.09

Auf Deutsch: Selbst wenn am Ende ein Fehl­ur­teil heraus­kommen sollte, ist es das wert, denn immerhin hat man eine Akte anständig geschlossen und das schöne Prinzip nicht verletzt.

Aber die poli­ti­sche und kultu­relle Kompo­nente bleiben bei solchem Lega­lismus völlig unbe­achtet. Da ist Kahlweits Kollege Heribert Prantl weiter, wenn er am gleichen Tag schreibt:

»Die US-Justiz gilt in Flucht­fällen als rachsüchtig. … Rechts­hilfe ist kein Pontius-Pilatus-Spiel: Die Schweizer können nicht sagen, dass es ihnen egal ist, was die Ameri­kaner mit einem Menschen machen, den sie von ihnen verhaften lassen.«

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»The last few years I spent with her were the only time of true happiness in my life.«
– Roman Polanski, unmit­telbar nach der Ermordung seiner Ehefrau Sharon Tate

Wie man jetzt mit Polanski umgeht, das ist zweierlei: Ein Beispiel grotesker Heuchelei, und ein besonders deut­li­cher Einzel­fall in einem allge­meinen anti­li­be­ralen »roll back«. Zur Heuchelei: Mit drei fran­zö­si­schen Präsi­denten hat Polanski in der Vergan­gen­heit persön­lich diniert. Von Hollywood hat er einen Oscar erhalten. Mit zahllosen Schau­spie­lern und tech­ni­schen Mitar­bei­tern, zuletzt vor allem in Deutsch­land hat er zusam­men­ge­ar­beitet. In der Schweiz hat er bekannt­lich ein Feri­en­haus. An der Tür steht sein Name. wenn man ihn hätte verhaften wollen, hätte man das schon seit Jahren tun können. Um diesen Vorwurf zu entkräften hat die Staats­an­walt­schaft von Los Angeles ein Papier vorgelegt, das anhand einer time line die zahl­rei­chen Versuche belegen möchte, Polanski zu verhaften. Tatsäch­lich beweist das Papier das Gegenteil: Wie halb­herzig man Polanski all die Jahre verfolgte.

Zum allge­meinen anti­li­be­ralen »roll back«: Man lese die State­ments von Künstlern und »liberalen« Poli­ti­kern zum Fall in der New York Times: Hier wird Hollywood als ganzem der Prozess gemacht. Hier geht es darum, mit der Symbol­figur einer Gegen­kultur abzu­rechnen. Das hat üble Tradition. Schon Mitte der 1980er Jahre entfes­selte man in den USA einen Kultur­krieg gegen Künstler wie Robert Mapp­le­t­horpe und Andres Serrano, die man für ihre »unan­s­tän­digen« Werke und ihre expli­ziten Darstel­lungen von Sexua­lität angriff. Seit Anfang der 90er Jahre konnte man auch in liberalen und linken Kreisen zunehmend einen neuen Puri­ta­nismus beob­achten, der bereit ist, Frei­heits­rechte zugunsten des vermeint­lich Guten zu opfern, und insbe­son­dere Kunst- und Medi­en­pro­dukte und ihre Produ­zenten zu zensieren. Zensur hatte dabei in erster Linie immer mit Bildern zu tun, die Sexua­lität und die Gewalt zeigen. Erklärbar ist dies gewiss unter anderem mit Fürsorge für poten­ti­elle Opfer.

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Aber es geht auch um Kontrolle von Liber­ti­nage. Und es geht um einen vergleichs­weise leichten Gegner. Zu den größten Obszönitäten in der Polanski-Affaire gehört nämlich die Doppel­moral dieser selbst­er­klärten Moral­wächter, gehört der Kontrast zwischen dem Lärm, der jetzt über den Fall Polanski gemacht wird und der Stille gegenüber dem Konzen­tra­ti­ons­lager-Präsi­denten George W. Bush, dem Folter-Vize­prä­si­denten Richard Cheney und seinen Folter­knechten die alle größ­ten­teils straffrei ausge­hangen sind. Dazu gehört auch das Schweigen über das Verhalten des liberalen Helden­prä­si­denten Obama, der auch über ein halbes Jahr nach seinem Amts­an­tritt weder Guan­ta­namo geschlossen noch die Folter­skan­dale der US-Regierung aufge­ar­beitet hat.

Polanski steht für die libertäre Kultur der Sechziger Jahre, für »Sex, Drugs & Rock'n'Roll«. Damals lebte die Kunst- und Popkultur einen Lebens­stil, der heute undenkbar wäre. Es war nicht nur im prüden Amerika eine Zeit der Frei­zügig­keit, man rauchte auf Partys nicht nur Ziga­retten, man trank, nahm Drogen. Manches ist in den Filmen doku­men­tiert: Bis heute verhin­dern die Rolling Stones die Verbrei­tung von Robert Franks Tour-Doku­men­tar­film Cock­su­cker Blues von 1972. Zu dieser Zeit gehörte Sexua­lität von einer Freiheit, die man heute schwer nach­voll­ziehen kann – was wohl nicht nur an Aids liegt, sondern auch an den Neokon­ser­va­tiven, die Medien als Sprach­rohr nicht zur Aufklä­rung, sondern für die ideo­lo­gi­schen Kreuzzüge einer selbst­er­nannten »Moral Majority« zu nutzen wissen.

Zu dieser Welt gehörten die Mädchen, auch die ganz jungen. Vielen geschah in dieser Szene gar nichts, sie waren einfach unbe­tei­ligter Teil einer Kulisse, Groupies. Manchen geschahen hier aber ohne Zweifel Dinge, die sie nicht wollten, und mitunter wurden sie verge­wal­tigt. Kein Grund, das irgendwie schön­zu­färben, aber auch kein Grund, heute den ganzen Lebens­stil an den Pranger zu stellen.
Manch anderen geschahen Dinge, die sie später nicht wollten. Und wieder andere wollten, was ihnen geschah. Empörung ist hier billig. Zu billig. Denn es ist nicht notwendig so, dass manche Mädchen im Alter von 13 Jahren nicht genau wüssten, was sie tun, auch wenn es um Sex geht.

All das gibt es heute im übrigen genau so wie seiner­zeit, nur weniger offen, hinter den Kulissen, geschützt vor dem neuen Puri­ta­nismus im Namen der politisch-mora­li­schen Korrekt­heit.

Es ist einfach, zu einfach, sich hier jetzt selbst ungefragt zum Anwalt des Opfers zu erklären, und als solcher Polanski zu verur­teilen. Samantha Geimer, die seiner­zeit 13-Jährige, mit der Polanski Unzucht trieb, schildert ihre Situation im Rückblick glasklar:

»Even now, so-called experts are using my situation on TV talk shows to push their own points, which have nothing to do with how I feel. Twenty years ago ever­y­thing said about me was horrible. But these days it’s not fashionable to bad-mouth the victim. Now I’m all ready to stand up and defend myself and everyone is saying 'oh, you poor thing'. But I’m not a poor thing. And I can’t oblige everyone by becoming freaked out and upset just to make things sound more inte­res­ting. If Polanski comes back — fine. That would at least end it. It will never be over until that happens.«

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»Mich würden bis zu 50 Jahre Gefängnis erwarten, wenn ich wieder ameri­ka­ni­schen Boden betrete. Was der Einstel­lung des Verfah­rens im Wege steht, ist die stockpu­ri­ta­ni­sche Stimmung in der ameri­ka­ni­schen öffent­lich­keit. In den Zeitungen nennen sie mich immer noch 'Roman den Schreck­li­chen'.« – Roman Polanski

Man muss aber noch einen Schritt weiter gehen. Hier kommt nun das Bild mit Brooke Shields ins Spiel. Richard Princes' Instal­la­tion »Spiritual America« zeigt eine zehn­jäh­rige Brooke Shields, die nackt einem Dampfbad entsteigt. Es wurde zensiert und von der Polizei »vorüber­ge­hend geschlossen«. Ein Sprecher von Scotland Yard erklärte, das Bild einer nackten Minder­jäh­rigen könne als »sexuell provo­kativ« aufge­fasst werden. An der nackten Haut allein liegt das nicht. Sondern am Alter des Modells.

Der Fall zeigt von einer ebenso erstaun­li­chen wie frag­wür­digen Verschie­bung der Tabu­g­renzen. Bilder, die man noch vor zwanzig Jahren ohne Probleme öffent­lich zeigen konnte, stehen heute unter Verdacht. Was auch nur im Entfern­testen unter den Verdacht der Pädo­philie fällt, ist Tabu – selbst wenn es nach­weis­lich von den Künstlern nie so gemeint war.

Man muss diese Logik zu Ende denken, und nur ein paar Beispiele unter vielen erwähnen: Ob Lewis Carolls Alice in Wonder­land und seine Photo­gra­phien von Alice Lidell, ob Oscar Wilde, ob Vladimir Nabokov, der Lolita erfand, ob Charlie Chaplin, der eine Vorliebe für sehr junge Mädchen hatte und 1924 eine sech­zehn­jäh­rige von ihm schwan­gere Frau heiratete, ob Martin Scorsese der in Taxi Driver Jodie Foster als 15-jährige Straßen­nutte die Rolle ihres Lebens gab, ob Louis Malle, der in Pretty Baby mit Brooke Shields genau das Gleiche tat, ob Woody Allen, der nicht nur Manhattan drehte, sondern 15 Jahre später noch seine Adop­tiv­tochter heiratete – sie alle hatten, wie hunderte von Malern, Schrift­stel­lern, Musikern und Philo­so­phen vor ihnen, »inap­pro­priate sexual rela­ti­ons­hips«, die ihr Werk beein­flussten, manchmal prägten, oft erst moti­vierten. Ebenso wie Hundert­tau­sende von Menschen, die keine Künstler waren. über zwei­tau­send Jahre wurden sexuelle Verhält­nisse zu Heran­wach­senden als zumindest möglich und erlaubt angesehen und kulturell nicht verdammt. Gewiss gab es hierunter Fälle von Miss­brauch und Ausbeu­tung. Aber waren das wirklich mehr als unter »Erwach­senen«? Können diese nicht trau­ma­ti­siert werden? Was sagt es über eine Gesell­schaft, dass sie Kunst verbietet, wenn sie zehn­jäh­rige Nackte zeigt, aber Folter billigt, wenn »Gefahr im Verzug« ist, oder die Opfer aus dem arabi­schen Raum stammen?

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Womit über all das nichts Abschließendes gesagt werden soll, aber daran erinnert, dass man die Dinge auch anders sehen könnte, als man sie heute sieht. Daran, dass Dinge relativ sind. Dass es eine Zeit gab, in der Zwölf­jäh­rige als erwach­sene Frauen galten. Daran, dass die Grenzen zwischen Kind und Jugend­li­chem ebenso verschwommen und arbiträr sind wie die zwischen Jugend­li­chem und Erwach­senem. Und daran, dass wir heute eine sehr wider­sprüch­liche Zeit haben, eine Zeit, in der es im Kaufhaus String-Tangas für Acht­jäh­rige zu kaufen gibt, und in der Heran­wach­sende ihr »erstes Mal« in immer jüngerem Alter erleben, eine Zeit, in der ein 17-Jähriger, der Sex mit einer 13-Jährigen hat, krimi­na­li­siert wird, man zugleich aber darüber disku­tiert, 16-Jährigen den Führer­schein und das Wahlrecht zu geben, und 12-Jährige als voll straf­mündig anzusehen. Das Recht muss Kinder und Jugend­liche schützen, manchmal sogar vor sich selber. Was Moral ist und was nicht, muss aber jeder für sich selbst entscheiden.

Auch der im Augen­blick überaus modische Diskurs über »Kinder­schänder« und Pädo­philie – die beide mit dem oben erwähnten nichts zu tun haben – steht nicht im leeren Raum, sondern in einem polti­schen, kultu­rellen und medialen Zusam­men­hang. In einem bemer­kens­werten Aufsatz (Körper­po­litik. Die Konstruk­tion des 'Kinder­schän­ders' in der Zwischen­kriegs­zeit. in: Wolfgang Hartwig (Hg.): Poli­ti­sche Kultur­ge­schichte der Zwischen­kriegs­zeit 1918-1939) hat die Kultur­wis­sen­schaft­lerin Brigitte Kerchner für einen anderen Zeitraum gezeigt: Die Thema­ti­sie­rung von »Kinder­schän­dern« und das Betonen der Gefahr durch sie hat oft (immer?) etwas mit dem Reflex gegen kultu­relle Libe­ra­li­sie­rung zu tun. 1931 argu­men­tierte die deutsche Rechte, der »barba­ri­sche Libe­ra­lismus« mache sich der dauernden Kinder­schän­dung schuldig.

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Wie uns die Psycho­ana­lyse gelehrt hat, kehrt alles, was wir verdrängen, später wieder in unser Bewusst­sein zurück – unwill­kür­lich und auf entstellte Weise. Das gilt auch für das, was Kulturen verdrängen. Es wäre deshalb falsch, die Faszi­na­tion für junge Mädchen und ihre Körper schlechthin als »Krankheit«, als »Perver­sion« oder als »Barbarei« abzutun, und es wäre zumindest voreilig, darin nicht als etwas über­holtes, Archai­sches zu erkennen, das durch Aufklä­rung und Fort­schritt, durch die Diszi­pli­nie­rungs­me­cha­nismen der Kontroll­ge­sell­schaft, kurzum: durch Moder­ni­sie­rung eingehegt und fort­schrei­tend beseitigt worden wäre.

Was aber statt­dessen? Viel­leicht sollte man, ohne voreilige Entschul­di­gung, aber auch ohne Vorver­ur­tei­lung die Spur verfolgen, die die deutsch-ameri­ka­ni­sche, in Zürich lehrende Kultur­wis­sen­schaft­lerin Elisabeth Bronfen in einem bereits 1998 erschienen Zeitungs­ar­tikel ausgelegt hat: »Wie pädophil ist der männliche Blick?« fragt sie da (Elisabeth Bronfen: Die ewigen Mädchen. Wie pädophil ist der männliche Blick?; in: Süddeut­sche Zeitung, 29.01.1998). Und erinnert an eine jahr­hun­der­te­alte Bild­tra­di­tion, die alle Weib­lich­keit, die von Frauen, von Mädchen, von Kindern, auf ihre Eigen­schaft als Objekt des männ­li­chen Blickes reduziert. Infan­ti­li­sie­rung, so Bronfen »poten­ziert« nur noch »diese auf einen verfüg­baren Körper gerich­tete Schaulust«. Es ist unsere gesamte Kultur, nicht etwa nur ihre perverse Abart, die »ein mit dem männ­li­chen Begehren koket­tie­rendes Weib­lich­keits­bild« entwirft, und jede Frau dazu bringt, sich als ewige Mädchen zu gestalten und zu verhalten: »So wird ein pädo­philer Blick kulturell durchaus sank­tio­niert, wenn­gleich auch scheinbar von der konkreten sexuellen Anschluss­hand­lung befreit.«

Bronfens über­le­gungen zwingen uns auch im Fall Polanski zur Ablehnung einfacher, klarer bequemer Antworten:

»Die mora­li­sche Denun­zia­tion der Pädo­philie arbeitet mit einer klaren Auftei­lung der Rollen – auf der einen Seite der verdor­bene, gewis­senlos sich seinen Trieben hinge­bende ältere Liebhaber, der sein begehrtes Objekt miss­braucht; auf der anderen Seite das arglose Kind, dem sexuelles Begehren ebenso abge­spro­chen wird wie jegliche Lust nach dem Verbo­tenen. Der Reiz, aber auch die Bedrohung der Sexua­lität besteht nun aber gerade darin, dass alle Betei­ligten über sich verfügen lassen müssen. In Fragen der Verfüh­rung gibt es nie klare Täter- und Opfer­po­si­tionen, sondern nur ein kompli­ziertes, über­la­gertes, sich gegen­seitig einbe­zie­hendes Chan­gieren. Kinder sind nicht nur Objekte des Blickes, sondern durchaus von einem eigenen sexuellen Verlangen motiviert, wenn­gleich dieses Begehren wider­sprüch­lich ist. Sie beherr­schen die Gesten der Verfüh­rung, auch wenn ihnen die Konse­quenzen dieser Gesten nicht bewusst sind. Wenn wir an dem Bild des unschul­digen und schutz­be­dürf­tigen Kindes fest­halten, so tun wir dies mögli­cher­weise deshalb, damit wir uns ange­sichts des Wissens darüber, dass wir alle von einer Faszi­na­tion für den kind­li­chen Körper nicht frei sind, dem Kind als Objekt dieser verbo­tenen Regung, und somit stell­ver­tre­tend uns selbst, jegliche Schuld­fähig­keit abspre­chen können.«

Die Grenze zwischen einen pädo­philen und einem gesell­schaft­lich erlaubten männ­li­chen Blick kann nach Bronfen gar nicht sauber gezogen werden. Gerade das Spiel mit dieser Grenze prägt Werbung und Modeszene. Damit wird nichts entschul­digt, und kein Leid, auch kein Gefühl bana­li­siert. Aber Bronfen hat recht, wenn sie vermutet, unser Wissen um das prekäre Wesen unseres kultu­rellen Blicks »dadurch zu verdrängen, dass man es patho­lo­gi­siert und krimi­na­li­siert, ist mögli­cher­weise ein ebenso gravie­rendes Vergehen wie gegenüber der realen Ausübung von Gewalt am anderen Auge blind zu sein.«

Auch in diesen Kontext gehört der Fall Polanski. Aber die kompli­zierte Wahrheit passt nicht zu den einfachen Schlag­zeilen.