Wenn die Wahrheit nicht zu den Schlagzeilen passt |
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Roman Polanski, wanted and desired |
Roman Polanski wird in Zürich verhaftet, ihm droht die Auslieferung – wegen des 32 Jahre zurückliegenden Falles der »Unzucht mit Minderjährigen«, genauer gesagt eines 13-jährigen Fotomodells. Einige Tage später wird das Bild »Spiritual America« des US-amerikanischen Künstlers Richard Prince noch vor Eröffnung der Ausstellung »Pop Life: Art In A Material World« in der Londoner Tate Modern Gallery zensiert und auf Verlangen der Polizei aus der Ausstellung entfernt. Die Behörden befürchteten, dass es sich bei dem Werk um »Kinderpornographie« handle. »Spiritual America« zeigt den nackten Körper eines Mädchens vor der Pubertät. Model stand das amerikanische Model und spätere Schauspielerin Brooke Shields im Alter von zehn Jahren. Zwei Ereignisse der letzten Woche. Ihr zufälliges Zusammentreffen wirft den Blick auf einen keineswegs zufälligen Empörungszusammen-hang.
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»So weit ich zurückdenken kann, ist in meinem Leben die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit hoffnungslos verwischt gewesen.« – Roman Polanski, Roman by Polanski. Autobiographie
Beginnen wir mit dem »Fall Polanski«. »Free Polanski now!« forderten Petitionen aus aller Welt bereits kurz nachdem der Regisseur in der Schweiz verhaftet worden war. Unter anderem die Schauspielerinnen Monica Bellucci, Tilda Swinton, Fanny Ardant, Asia Argento, Whoopie Goldberg und Debra Winger, die Regisseure David Lynch, Martin Scorsese, Wong Kar Wai, Jonathan Demme, Fatih Akin, Constantin Costa-Gavras, Woody Allen, Tom Tykwer, Andrzej Wajda, Pedro Almodóvar, Ettore Scola, Wim Wenders und Michael Mann, Studioboss Harvey Weinstein, die Festivaldirektoren Thierry Frémaux (Cannes) und Dieter Kosslick (Berlin) haben eine Petition zu Polanskis Gunsten unterzeichnet.
Die vorhersehbaren Gegenreaktionen ließen nicht lange auf sich warten. »Die Petition erweckt den Eindruck, Künstler ständen über dem Gesetz. Für sie gilt nicht, was für Krethi und Plethi selbstverständlich wäre«, verurteilte die taz schon in der Ausgabe vom 30. September 2009 die Initiative und fragte rhetorisch: »Stehen Künstler etwa über dem Gesetz?« Die katalanische Schriftstellerin Najat al Achami wird in der AZ noch mit einer populistischeren Formulierung zitiert: »Sollen wir Künstler moralisch anders beurteilen als anonyme arme Schlucker?« Solch eine Frage ist natürlich populistischer Unsinn. Denn zum einen hat das keiner behauptet. Zum anderen muss die Antwort aber lauten: In gewissem Sinne, ja! Nicht juristisch – deshalb ist dies hier auch kein Freibrief für irgendwelche Verbrechen –, aber moralisch. Nur traut sich das heute keiner auszusprechen, weil eine solche Aussage im derzeitigen Klima allgegenwärtiger Sittenwächter, Lehrer und Schulmeister, gerade auf Seiten der Linken, nicht opportun ist. Auch der Stammtisch der Online-Portale reagierte mehrheitlich recht klar: Wieso soll jemand bevorzugt behandelt werden, bloß weil er hervorragende Filme macht? Gute Frage! Allerdings sollte er deshalb auch nicht benachteiligt werden, und genau das ist hier der Fall.
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»In general, I despise the press tremendously for its inaccuracy, for its irresponsibility, for its often even deliberate cruelty, and all of this is for lucrative purposes.« – Roman Polanski
»Gleiches Recht für Alle« ist tatsächlich ein hehrer Grundsatz, der auch im Fall von Polanski gelten muss. Daneben gibt es aber noch andere Basissätze zivilisierten Rechts, die nicht weniger gelten müssen. Der erste von ihnen lautet: »Im Zweifel für den Angeklagten«. Diese Unschuldsvermutung herrscht im Fall Roman Polanski aber schon lange nicht mehr. Obwohl der Regisseur vor 32 Jahren wegen »statutory rape«, korrekt übersetzt »Unzucht mit Minderjährigen« angeklagt wurde, und dies auch – allerdings nur als Teil einer Absprache zwischen den Prozessparteien, um den Fall schnell beizulegen – zugegeben hat, keineswegs aber wegen »Vergewaltigung«, ist konsequent genau davon die Rede. Man muss nur einmal eine jener widerlichen Internet-Foren zum Fall in diesen Tagen besuchen: Polanski ist da einfach ein »child rapist«.
Selbst die Anklage unterstellt ihm keine Gewaltanwendung. Zudem besteht Polanski darauf, das Alter seines Opfers sei ihm unbekannt gewesen. Das ist möglich, genauso wie es möglich ist, dass er lügt. Aber es geht nicht darum, ob man ihm das glaubt. Sondern darum, dass er den juristischen Anspruch darauf hat, dass wir es ihm glauben – bis zum Beweis des Gegenteils.
Feine Unterschiede spielen aber bei der hier hysterisierten öffentlichkeit und ihrer eingespielten
Empörungsmaschine längst keine Rolle mehr.
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»Who wouldn’t think about running when facing a 50-year sentence from a judge who was clearly more interested in his own reputation than a fair judgement or even the well-being of the victim?« – Samantha Geimer
Das zeigt sich vor allem an der grundsätzlich verlogenen, einseitigen, oft falschen, manchmal bewusst verfälschenden Darstellung der Ereignisse im Jahr 1977/78. Dabei könnte man es besser wissen, spätestens seit Marina Zenovichs herausragendem Dokumentarfilm Roman Polanski: Wanted And Desired. Zenovich zeigt, dass das, was heute, auch durch deutsche Medien geistert, zum größten Teil Mythologie ist, die mit den Fakten nichts zu tun hat.
Erinnern wir uns. Was sicher ist: Polanski und Samantha Gailey (heute: Geimer) hatten sexuellen Körperkontakt, ob erzwungen oder freiwillig. Der Regisseur hat zunächst auf »unschuldig« plädiert. Ebenso sicher ist: Gailey bzw. ihre Mutter waren ähnlich wie Polanski daran interessiert, den Fall so diskret wie möglich beizulegen, und setzten sich bereits 1977 dafür ein, dass der Regisseur keine Gefängnisstrafe erhalte. Skandalisiert und zum »Fall Polanski« wurde alles erst durch den zuständigen Richter Laurence J. Rittenband, der seinerzeit nur deshalb mit dem Fall betraut worden war, weil er sich selbst massiv dazu gedrängt hatte.
Rittenband war von Hollywood und seinen Stars besessen. Als »Richter der Stars« hoffte er von ihrem Ruhm zu profitieren, und selbst in den Rang einer Celebrity zu kommen. Rittenband war zugleich ein typischer Repräsentant des biederen, bigotten, zurückgebliebenen Middle-Amerika, dessen Kleinbürger-Gesinnung noch im 19. Jahrhundert wurzelt. Für dieses Amerika ist Hollywood nicht nur fremd, sondern eine faszinierend abstoßende Hölle. Und Polanski war in diesem Bild der böse kaputte Zwerg. Er war als Einwanderer, Liberaler, Jude, als einer, der offenen ein libertäres Leben inklusive freiem Sex, freien Drogen, freier Moral führte, der Filme drehte, in denen er der Bourgeoisie eine lange Nase zeigte, und überdies so »furchtbare Themen«, wie Ehebruch (Das Messer im Wasser), Wahnsinn (Ekel), Sex (Tanz der Vampire), Satanismus (Rosemary’s Baby), Blutrausch (Macbeth), Inzest und Korruption (Chinatown) in Szene setzte, das Symbol für jenes »New Hollywood« des Autorenkinos, das mit dem idealisierten Selbstbild des Durchschnittsamerika nichts mehr zu tun hatte.
Mit dieser Symbolfigur wollte Richter Rittenband erklärtermaßen abrechnen, darum wurde Polanski schärfer verfolgt, als jeder Normalbürger, der erstmals wegen Unzucht mit Minderjährigen verurteilt wurde. Darum nahm der Richter den bereits ausgehandelten Vergleich nachträglich und nachdem Polanski bereits seine Strafe von 90 Tagen Einzelhaft in der kalifornischen Gefängnispsychiatrie (nach 42 Tagen war ihm, auch das ein üblicher Vorgang, der Rest der Strafe auf Bewährung erlassen worden) abgesessen hatte, zurück. In Zenovichs Film sind sich der damalige Staatsanwalt Roger Gunson und Polanskis Verteidiger Douglas Dalton völlig einig: Mit einem anderen Richter, als ausgerechnet dem ruhmsüchtigen Rittenband wäre Polanski nie ins selbstgewählte Exil geflüchtet.
Für diese Fakten interessiert sich allerdings kaum einer: »Polanski … hat etwas getan, wofür er sich verantworten muss«, schreibt Cristina Nord in der taz, als hätte er das nicht: »Polanski entzog sich dem Verfahren« – was er nicht getan hat, betont, es habe kein Urteil gegeben, um dann doch zu schreiben, Polanski habe »sich eines Verbrechens schuldig gemacht«, als ob das schon feststünde. Damit bestätigt sie nur, was sie selbst ins Feld führt: Dass bei Anklagen
wegen Sexualdelikten Vorverurteilungen gang und gäbe sind.
Oder Daniel Kothenschulte, der in der Frankfurter Rundschau Polanski, alle Fakten ignorierend, kurzerhand einen »geständigen Vergewaltiger einer 13-Jährigen« nennt, und behauptet, er wäre vor »dem Gesetz« und »einem amerikanischen Gericht geflohen«.
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»Abgründe tun sich auf, betrachtet man das filmische Werk von Roman Polanski.« – Susanne Ostwald, Neue Zürcher Zeitung, 3. Oktober 2009
Aber Polanski floh nicht, weil er der Strafe entgehen wollte. Er floh, weil er mit guten Gründen nicht länger darauf vertrauen konnte, dass er einen fairen Prozess erhalten würde. Und hier kommt nun sehr wohl Polanskis Vergangenheit als Jude und Opfer der Nazi-Verfolgung ins Spiel, der seine im sechsten Monat schwangere Mutter in Auschwitz zum Opfer fiel. Wie seine Erfahrungen mit den US-Medien, nachdem seine im achten Monat schwangere Frau Sharon Tate von der »Manson-Family« ermordet wurde: Die Medien überboten sich in Kurzschlüssen zwischen Polanskis Filmwerk und seinem Leben. Unausgesprochen stand die ungeheuerliche Behauptung im Raum: »Wer solche Filme macht…, der muss sich nicht wundern, wenn ihm so etwas passiert.« Der böse kaputte Zwerg eben. In dieses Bild passten dann die Ereignisse von 1977. Sie schienen die Behauptung vom moralischen Defizit Polanskis perfekt zu bestätigen. Schon die ganzen Ornamente: Jack Nicholsons Haus, Fotos für die Vogue, Champagner, Whirlpool…
Diese Reaktionen haben sich immer wiederholt: 1969, nach den Manson-Morden. 1977, nach den durchaus nicht völlig zweifelsfreien Vergewaltigungs-Vorwürfen. Jetzt, 2009, nach der Verhaftung in der Schweiz, als sich etwa die Neue Zürcher Zeitung nicht entblödet, einen Text zu veröffentlichen »über sein Werk…, oder darüber, inwieweit dieses Rückschlüsse auf das Wesen des Regisseurs zulässt.« Vielleicht hätte man ihn endlich mal für seine Filme verhaften sollen.
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Der zweite Grundsatz, auf den sich, über die Gräben des aktuellen Streits um Polanski hinweg, doch trotzdem die meisten Außenstehenden verständigen können sollten, heißt: Gerechtigkeit. Es heißt Gerechtigkeit für das Opfer, aber eben auch für Roman Polanski. Und dass Polanski 1977/78 diese Gerechtigkeit nicht zuteil wurde, darüber sind sich alle einig: Die Staatsanwaltschaft, die Verteidigung, das Opfer selbst.
Aber was heißt hier nun Gerechtigkeit? Bestimmt nicht die Entschuldigung seiner Tat mit Hinweis auf sein hohes Alter. Mit diesem Argument könnte man auch KZ-Schergen straffrei davon kommen lassen. Auch der Hinweis auf Polanskis doppelt und dreifach traumatische Vergangenheit zieht nicht. Es stimmt zwar: Polanski ist überlebender der Schoa, Opfer zunächst der Nazi-Verfolgungsmaschine, dann mit 16 Jahren, eines Vergewaltigers und gesuchten Mörders, schließlich der
Satanisten-Sekte um Charles Manson, die seine Frau Sharon Tate und sein ungeborenes Kind brutal ermordeten. Doch natürlich rechtfertigen solche Erfahrungen keine eigenen kriminellen Taten. Allenfalls schmälern sie als mildernde Umstände die Schuld.
Sehr wohl aber hieße Gerechtigkeit, dass ein Richter nicht, wie Rittenband, öffentliche Scheinhearings über Fragen veranstaltet, die bereits im stillen Kämmerlein entschieden wurden. Dass er sich nicht über den Fall mit
Journalisten oder Bekannten aus dem »Country Club« unterhält. Dass er nicht gegenüber Staatsanwaltschaft und Verteidigung wortbrüchig wird.
Und es hieße, auch einmal, neben dem juristischen Jagdtrieb, der frohlockt, dass nach 32 Jahren ein gehetztes Wild dann doch noch zur Strecke gebracht wurde, auch dem Opfer sein Recht zuzugestehen. Es ist zwar Mode geworden im jüngeren Diskurs über Recht und Kriminalität, die Position der Opfer zu betonen. In der Praxis, auch das zeigt dieser Fall, bedeutet das nichts. Denn das Opfer, Samantha Geimer, hat Polanski längst öffentlich verziehen. Sie sehe sich inzwischen selbst als »Opfer der Staatsanwaltschaft« sagt sie, und wünscht keinen neuen Strafprozess. Vielleicht könnte zumindest dies all jene unbeteiligten Beobachter, die sich jetzt stellvertretend empören, zu etwas mehr Demut bewegen.
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Zudem stellt sich die Frage, ob der Grundsatz »Gleiches Recht für Alle« hier überhaupt gelten kann, so wünschenswert es wäre. Hat Polanski überhaupt eine Chance auf Gleichbehandlung? Die Ereignisse der vergangenen Tage deuten jedenfalls nicht darauf hin.
Das beginnt mit dem heuchlerischen Verhalten der Schweiz, die, nachdem sie den Regisseur jahrelang unbehelligt ein- und ausreisen ließ, ihn plötzlich verhaften lässt, weil dies gerade politisch opportun scheint – obwohl führende Juristen von Anfang an argumentieren, dass die Behörden Polanski nach Schweizer Recht gar nicht ausliefern dürfen.
Hinzu kommt: Hat Polanski also die Chance auf einen fairen Prozess? Wohl kaum. Schon deshalb, weil es gute Gründe gibt, überhaupt daran zu zweifeln, ob die USA ein Rechtsstaat im europäischen Sinne sind: Guantanamo, exzessive und moralisierende Strafverfolgung, die nach wie vor ungeklärte Möglichkeit manipulierter Präsidentschaftswahlen 2000. Aber auch, weil Polanski in den USA längst zur Symbolfigur jener liberalen Gegenkultur der 60er geworden ist, die seit einiger Zeit im Zentrum einer Hexenjagd rechtskonservativer und christlich-fundamentalistischer Kreise steht. Man muss nur einmal ein paar der widerlichen Statements braver US-Bürger in Internetforen nachlesen, um die Stimmung zu erfühlen, in der irgendwann über Polanski dann »Recht gesprochen« werden soll. Pogrom und Pranger sind das Muster – da wirkt es doch arg betulich, wenn Cathrin Kahlweit in der Süddeutschen schreibt:
»Wenn auch nur die Hälfte der Einwände, die derzeit gegen den Umgang mit Roman Polanski ins Feld geführt werden, standhalten, dann wird, das darf man getrost annehmen, ein Gericht in den USA den Teufel tun, den 76-Jährigen für viele Monate hinter Gitter zu setzen. Dann werden Vorlauf und Begleitumstände das ihre dazu beitragen, dass der Künstler recht bald wieder in seinem Schweizer Chalet wohnen kann. Und wenn nicht? Dann war der Glaube an Justitia einmal mehr naiv. Und doch wird es moralisch und politisch unumgänglich gewesen sein, auf die Gleichheit vor dem Gesetz zu pochen.« – Cathrin Kahlweit, SZ vom 2.10.09
Auf Deutsch: Selbst wenn am Ende ein Fehlurteil herauskommen sollte, ist es das wert, denn immerhin hat man eine Akte anständig geschlossen und das schöne Prinzip nicht verletzt.
Aber die politische und kulturelle Komponente bleiben bei solchem Legalismus völlig unbeachtet. Da ist Kahlweits Kollege Heribert Prantl weiter, wenn er am gleichen Tag schreibt:
»Die US-Justiz gilt in Fluchtfällen als rachsüchtig. … Rechtshilfe ist kein Pontius-Pilatus-Spiel: Die Schweizer können nicht sagen, dass es ihnen egal ist, was die Amerikaner mit einem Menschen machen, den sie von ihnen verhaften lassen.«
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»The last few years I spent with her were the only time of true happiness in my life.«
– Roman Polanski, unmittelbar nach der Ermordung seiner Ehefrau Sharon Tate
Wie man jetzt mit Polanski umgeht, das ist zweierlei: Ein Beispiel grotesker Heuchelei, und ein besonders deutlicher Einzelfall in einem allgemeinen antiliberalen »roll back«. Zur Heuchelei: Mit drei französischen Präsidenten hat Polanski in der Vergangenheit persönlich diniert. Von Hollywood hat er einen Oscar erhalten. Mit zahllosen Schauspielern und technischen Mitarbeitern, zuletzt vor allem in Deutschland hat er zusammengearbeitet. In der Schweiz hat er bekanntlich ein Ferienhaus. An der Tür steht sein Name. wenn man ihn hätte verhaften wollen, hätte man das schon seit Jahren tun können. Um diesen Vorwurf zu entkräften hat die Staatsanwaltschaft von Los Angeles ein Papier vorgelegt, das anhand einer time line die zahlreichen Versuche belegen möchte, Polanski zu verhaften. Tatsächlich beweist das Papier das Gegenteil: Wie halbherzig man Polanski all die Jahre verfolgte.
Zum allgemeinen antiliberalen »roll back«: Man lese die Statements von Künstlern und »liberalen« Politikern zum Fall in der New York Times: Hier wird Hollywood als ganzem der Prozess gemacht. Hier geht es darum, mit der Symbolfigur einer Gegenkultur abzurechnen. Das hat üble Tradition. Schon Mitte der 1980er Jahre entfesselte man in den USA einen Kulturkrieg gegen Künstler wie Robert Mapplethorpe und Andres Serrano, die man für ihre »unanständigen« Werke und ihre expliziten Darstellungen von Sexualität angriff. Seit Anfang der 90er Jahre konnte man auch in liberalen und linken Kreisen zunehmend einen neuen Puritanismus beobachten, der bereit ist, Freiheitsrechte zugunsten des vermeintlich Guten zu opfern, und insbesondere Kunst- und Medienprodukte und ihre Produzenten zu zensieren. Zensur hatte dabei in erster Linie immer mit Bildern zu tun, die Sexualität und die Gewalt zeigen. Erklärbar ist dies gewiss unter anderem mit Fürsorge für potentielle Opfer.
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Aber es geht auch um Kontrolle von Libertinage. Und es geht um einen vergleichsweise leichten Gegner. Zu den größten Obszönitäten in der Polanski-Affaire gehört nämlich die Doppelmoral dieser selbsterklärten Moralwächter, gehört der Kontrast zwischen dem Lärm, der jetzt über den Fall Polanski gemacht wird und der Stille gegenüber dem Konzentrationslager-Präsidenten George W. Bush, dem Folter-Vizepräsidenten Richard Cheney und seinen Folterknechten die alle größtenteils straffrei ausgehangen sind. Dazu gehört auch das Schweigen über das Verhalten des liberalen Heldenpräsidenten Obama, der auch über ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt weder Guantanamo geschlossen noch die Folterskandale der US-Regierung aufgearbeitet hat.
Polanski steht für die libertäre Kultur der Sechziger Jahre, für »Sex, Drugs & Rock'n'Roll«. Damals lebte die Kunst- und Popkultur einen Lebensstil, der heute undenkbar wäre. Es war nicht nur im prüden Amerika eine Zeit der Freizügigkeit, man rauchte auf Partys nicht nur Zigaretten, man trank, nahm Drogen. Manches ist in den Filmen dokumentiert: Bis heute verhindern die Rolling Stones die Verbreitung von Robert Franks Tour-Dokumentarfilm Cocksucker Blues von 1972. Zu dieser Zeit gehörte Sexualität von einer Freiheit, die man heute schwer nachvollziehen kann – was wohl nicht nur an Aids liegt, sondern auch an den Neokonservativen, die Medien als Sprachrohr nicht zur Aufklärung, sondern für die ideologischen Kreuzzüge einer selbsternannten »Moral Majority« zu nutzen wissen.
Zu dieser Welt gehörten die Mädchen, auch die ganz jungen. Vielen geschah in dieser Szene gar nichts, sie waren einfach unbeteiligter Teil einer Kulisse, Groupies. Manchen geschahen hier aber ohne Zweifel Dinge, die sie nicht wollten, und mitunter wurden sie vergewaltigt. Kein Grund, das irgendwie schönzufärben, aber auch kein Grund, heute den ganzen Lebensstil an den Pranger zu stellen.
Manch anderen geschahen Dinge, die sie später nicht wollten. Und wieder andere wollten, was
ihnen geschah. Empörung ist hier billig. Zu billig. Denn es ist nicht notwendig so, dass manche Mädchen im Alter von 13 Jahren nicht genau wüssten, was sie tun, auch wenn es um Sex geht.
All das gibt es heute im übrigen genau so wie seinerzeit, nur weniger offen, hinter den Kulissen, geschützt vor dem neuen Puritanismus im Namen der politisch-moralischen Korrektheit.
Es ist einfach, zu einfach, sich hier jetzt selbst ungefragt zum Anwalt des Opfers zu erklären, und als solcher Polanski zu verurteilen. Samantha Geimer, die seinerzeit 13-Jährige, mit der Polanski Unzucht trieb, schildert ihre Situation im Rückblick glasklar:
»Even now, so-called experts are using my situation on TV talk shows to push their own points, which have nothing to do with how I feel. Twenty years ago everything said about me was horrible. But these days it’s not fashionable to bad-mouth the victim. Now I’m all ready to stand up and defend myself and everyone is saying 'oh, you poor thing'. But I’m not a poor thing. And I can’t oblige everyone by becoming freaked out and upset just to make things sound more interesting. If Polanski comes back — fine. That would at least end it. It will never be over until that happens.«
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»Mich würden bis zu 50 Jahre Gefängnis erwarten, wenn ich wieder amerikanischen Boden betrete. Was der Einstellung des Verfahrens im Wege steht, ist die stockpuritanische Stimmung in der amerikanischen öffentlichkeit. In den Zeitungen nennen sie mich immer noch 'Roman den Schrecklichen'.« – Roman Polanski
Man muss aber noch einen Schritt weiter gehen. Hier kommt nun das Bild mit Brooke Shields ins Spiel. Richard Princes' Installation »Spiritual America« zeigt eine zehnjährige Brooke Shields, die nackt einem Dampfbad entsteigt. Es wurde zensiert und von der Polizei »vorübergehend geschlossen«. Ein Sprecher von Scotland Yard erklärte, das Bild einer nackten Minderjährigen könne als »sexuell provokativ« aufgefasst werden. An der nackten Haut allein liegt das nicht. Sondern am Alter des Modells.
Der Fall zeigt von einer ebenso erstaunlichen wie fragwürdigen Verschiebung der Tabugrenzen. Bilder, die man noch vor zwanzig Jahren ohne Probleme öffentlich zeigen konnte, stehen heute unter Verdacht. Was auch nur im Entferntesten unter den Verdacht der Pädophilie fällt, ist Tabu – selbst wenn es nachweislich von den Künstlern nie so gemeint war.
Man muss diese Logik zu Ende denken, und nur ein paar Beispiele unter vielen erwähnen: Ob Lewis Carolls Alice in Wonderland und seine Photographien von Alice Lidell, ob Oscar Wilde, ob Vladimir Nabokov, der Lolita erfand, ob Charlie Chaplin, der eine Vorliebe für sehr junge Mädchen hatte und 1924 eine sechzehnjährige von ihm schwangere Frau heiratete, ob Martin Scorsese der in Taxi Driver Jodie Foster als 15-jährige Straßennutte die Rolle ihres Lebens gab, ob Louis Malle, der in Pretty Baby mit Brooke Shields genau das Gleiche tat, ob Woody Allen, der nicht nur Manhattan drehte, sondern 15 Jahre später noch seine Adoptivtochter heiratete – sie alle hatten, wie hunderte von Malern, Schriftstellern, Musikern und Philosophen vor ihnen, »inappropriate sexual relationships«, die ihr Werk beeinflussten, manchmal prägten, oft erst motivierten. Ebenso wie Hunderttausende von Menschen, die keine Künstler waren. über zweitausend Jahre wurden sexuelle Verhältnisse zu Heranwachsenden als zumindest möglich und erlaubt angesehen und kulturell nicht verdammt. Gewiss gab es hierunter Fälle von Missbrauch und Ausbeutung. Aber waren das wirklich mehr als unter »Erwachsenen«? Können diese nicht traumatisiert werden? Was sagt es über eine Gesellschaft, dass sie Kunst verbietet, wenn sie zehnjährige Nackte zeigt, aber Folter billigt, wenn »Gefahr im Verzug« ist, oder die Opfer aus dem arabischen Raum stammen?
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Womit über all das nichts Abschließendes gesagt werden soll, aber daran erinnert, dass man die Dinge auch anders sehen könnte, als man sie heute sieht. Daran, dass Dinge relativ sind. Dass es eine Zeit gab, in der Zwölfjährige als erwachsene Frauen galten. Daran, dass die Grenzen zwischen Kind und Jugendlichem ebenso verschwommen und arbiträr sind wie die zwischen Jugendlichem und Erwachsenem. Und daran, dass wir heute eine sehr widersprüchliche Zeit haben, eine Zeit, in der es im Kaufhaus String-Tangas für Achtjährige zu kaufen gibt, und in der Heranwachsende ihr »erstes Mal« in immer jüngerem Alter erleben, eine Zeit, in der ein 17-Jähriger, der Sex mit einer 13-Jährigen hat, kriminalisiert wird, man zugleich aber darüber diskutiert, 16-Jährigen den Führerschein und das Wahlrecht zu geben, und 12-Jährige als voll strafmündig anzusehen. Das Recht muss Kinder und Jugendliche schützen, manchmal sogar vor sich selber. Was Moral ist und was nicht, muss aber jeder für sich selbst entscheiden.
Auch der im Augenblick überaus modische Diskurs über »Kinderschänder« und Pädophilie – die beide mit dem oben erwähnten nichts zu tun haben – steht nicht im leeren Raum, sondern in einem poltischen, kulturellen und medialen Zusammenhang. In einem bemerkenswerten Aufsatz (Körperpolitik. Die Konstruktion des 'Kinderschänders' in der Zwischenkriegszeit. in: Wolfgang Hartwig (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918-1939) hat die Kulturwissenschaftlerin Brigitte Kerchner für einen anderen Zeitraum gezeigt: Die Thematisierung von »Kinderschändern« und das Betonen der Gefahr durch sie hat oft (immer?) etwas mit dem Reflex gegen kulturelle Liberalisierung zu tun. 1931 argumentierte die deutsche Rechte, der »barbarische Liberalismus« mache sich der dauernden Kinderschändung schuldig.
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Wie uns die Psychoanalyse gelehrt hat, kehrt alles, was wir verdrängen, später wieder in unser Bewusstsein zurück – unwillkürlich und auf entstellte Weise. Das gilt auch für das, was Kulturen verdrängen. Es wäre deshalb falsch, die Faszination für junge Mädchen und ihre Körper schlechthin als »Krankheit«, als »Perversion« oder als »Barbarei« abzutun, und es wäre zumindest voreilig, darin nicht als etwas überholtes, Archaisches zu erkennen, das durch Aufklärung und Fortschritt, durch die Disziplinierungsmechanismen der Kontrollgesellschaft, kurzum: durch Modernisierung eingehegt und fortschreitend beseitigt worden wäre.
Was aber stattdessen? Vielleicht sollte man, ohne voreilige Entschuldigung, aber auch ohne Vorverurteilung die Spur verfolgen, die die deutsch-amerikanische, in Zürich lehrende Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen in einem bereits 1998 erschienen Zeitungsartikel ausgelegt hat: »Wie pädophil ist der männliche Blick?« fragt sie da (Elisabeth Bronfen: Die ewigen Mädchen. Wie pädophil ist der männliche Blick?; in: Süddeutsche Zeitung, 29.01.1998). Und erinnert an eine jahrhundertealte Bildtradition, die alle Weiblichkeit, die von Frauen, von Mädchen, von Kindern, auf ihre Eigenschaft als Objekt des männlichen Blickes reduziert. Infantilisierung, so Bronfen »potenziert« nur noch »diese auf einen verfügbaren Körper gerichtete Schaulust«. Es ist unsere gesamte Kultur, nicht etwa nur ihre perverse Abart, die »ein mit dem männlichen Begehren kokettierendes Weiblichkeitsbild« entwirft, und jede Frau dazu bringt, sich als ewige Mädchen zu gestalten und zu verhalten: »So wird ein pädophiler Blick kulturell durchaus sanktioniert, wenngleich auch scheinbar von der konkreten sexuellen Anschlusshandlung befreit.«
Bronfens überlegungen zwingen uns auch im Fall Polanski zur Ablehnung einfacher, klarer bequemer Antworten:
»Die moralische Denunziation der Pädophilie arbeitet mit einer klaren Aufteilung der Rollen – auf der einen Seite der verdorbene, gewissenlos sich seinen Trieben hingebende ältere Liebhaber, der sein begehrtes Objekt missbraucht; auf der anderen Seite das arglose Kind, dem sexuelles Begehren ebenso abgesprochen wird wie jegliche Lust nach dem Verbotenen. Der Reiz, aber auch die Bedrohung der Sexualität besteht nun aber gerade darin, dass alle Beteiligten über sich verfügen lassen müssen. In Fragen der Verführung gibt es nie klare Täter- und Opferpositionen, sondern nur ein kompliziertes, überlagertes, sich gegenseitig einbeziehendes Changieren. Kinder sind nicht nur Objekte des Blickes, sondern durchaus von einem eigenen sexuellen Verlangen motiviert, wenngleich dieses Begehren widersprüchlich ist. Sie beherrschen die Gesten der Verführung, auch wenn ihnen die Konsequenzen dieser Gesten nicht bewusst sind. Wenn wir an dem Bild des unschuldigen und schutzbedürftigen Kindes festhalten, so tun wir dies möglicherweise deshalb, damit wir uns angesichts des Wissens darüber, dass wir alle von einer Faszination für den kindlichen Körper nicht frei sind, dem Kind als Objekt dieser verbotenen Regung, und somit stellvertretend uns selbst, jegliche Schuldfähigkeit absprechen können.«
Die Grenze zwischen einen pädophilen und einem gesellschaftlich erlaubten männlichen Blick kann nach Bronfen gar nicht sauber gezogen werden. Gerade das Spiel mit dieser Grenze prägt Werbung und Modeszene. Damit wird nichts entschuldigt, und kein Leid, auch kein Gefühl banalisiert. Aber Bronfen hat recht, wenn sie vermutet, unser Wissen um das prekäre Wesen unseres kulturellen Blicks »dadurch zu verdrängen, dass man es pathologisiert und kriminalisiert, ist möglicherweise ein ebenso gravierendes Vergehen wie gegenüber der realen Ausübung von Gewalt am anderen Auge blind zu sein.«
Auch in diesen Kontext gehört der Fall Polanski. Aber die komplizierte Wahrheit passt nicht zu den einfachen Schlagzeilen.