Die Frau des Pferdehändlers und die Kinder der Globalisierung |
||
Gut gezielt ist halb gewonnen : She, a Chinese |
Locarno, im August. Ein rätselhafter Charakter. Ein junges Mädchen, in dem sich das Schicksal eines ganzen Landes spiegelt. Mei ist eine Bauerntochter aus armen Verhältnissen, aber sie gehört auch zur »Generation IPod«, den heute zwanzigjährigen Kindern der Globalisierung. Sie will weg, raus aus den beengten Verhältnissen, frei sein. So bricht sie zuerst in die Stadt auf, und schließlich in die weite Welt: She, a Chinese heißt der Film, der jetzt mit dem »Goldenen Leopard« von Locarno prämiert wurde – , den Hauptpreis des Wettbewerbs bei diesem vor allem als Entdeckungsort für Nachwuchsfilmer geachteten Filmfestival auf der legendären Piazza Grande beim Filmfestival in dem malerischen Tessiner Ferienort. Ein sehr verdienter Preis für den klar stärksten Film des Wettbewerbs, ein kräftiges Portrait des boomenden China von flirrender Modernität und trotzdem mit kritischen Untertönen.
+ + +
Die Regisseurin des Films heißt Guo Xiaolu. In ihrem zweiten Spielfilm She, a Chinese erzählt sie auch ihre eigene Geschichte. Sie wuchs in einem Dorf auf, in dem fast alle Menschen Analphabeten waren. Heute lebt sie zwischen London und Peking, und ist ein Multitalent, die Stimme des neuen China: Obwohl sie neben zwei Spielfilmen auch schon vier Dokumentationen gedreht hat, ist sie in Deutschland vor allem als Romanautorin bekannt: »Stadt der Steine« heißt ihr autobiographischer Romanerstling, danach erschien »Kleines Wörterbuch für Liebende« und bei der Frankfurter Buchmesse, wo im Herbst China das Gastland sein wird, stellt Guo ihr neuestes Buch vor (alles erschienen im Knaus Verlag und erhältlich). Und bei den Filmfestspielen von Venedig im September wird bereits ihr nächster Film laufen : Once Upon a Time a Proletarian – ein Film der die Folgen des Wirtschaftsbooms aufzeigt: »Diese ökonomische Revolution zerstört viel mehr vom alten China, als die Kulturrevolution vor 40 Jahren«.
+ + +
»Das Weggehen ist das Wichtige«, sagt Guo Xiaolu über diese Flucht nach vorn ihrer Hauptfigur, die immer wieder ins Unbekannte aufbricht: »Dass man die Vergangenheit zurücklässt, und irgendwann nicht in dem gleichen Bett stirbt, in dem man geboren ist.«
»Offiziell gehöre ich wohl zur „Siebten Generationen“ der chinesischen Filmemacher«, sagt Guo etwas resigniert lächelnd, »aber dieses Denken in Generation ist mir zu akademisch. Ich verabscheue das.« Im Gespräch mit dieser Zeitung kommt sie darauf zu sprechen, dass China eben noch immer eine kollektive Gesellschaft sei, das Filmemachen aber längst etwas Individuelles. 1973 wurde Guo in der südchinesischen Provinz geboren, und kam bereits mit 18 an die renommierte Pekinger Filmakademie, die in den 80ern und 90ern zur Schmiede der berühmten Regisseursgenerationen Chinas wurde: Der legendären Fünften um Zhang Yimou und Chen Kaige, die Chinas Kino dem Westen eröffnete, und der Sechsten deren Regisseure Jia Zhang-ke und Lou Ye durch die blutige Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Tiananmen-Platz geprägt wurden, und deutlich direkter oppositionelles Kino machen.
»Ich achte das«, sagt Guo Xiaolu, »aber die Regisseure meines Alters müssen sich neu erfinden. Wir haben individuellere Stimmen.« Von den gleichaltrigen Deutschen unterscheide die heute um die zwanzigjährige chinesische Jugend, die sie in ihrem Film portraitiert, nur die fehlende politische Freiheit. So ist es kein Zufall, dass Guo ihren Film auch über weite Strecken mit westlichem Pop-Soundtrack unterlegt hat, von PJ Harvey und John Paris. Und geschnitten wurde She, a Chinese in Hamburg vom Briten Andrew Bird, der auch der Cutter von Fatih Akin und Julie Delpy ist, und dem auch hier eine sehr junge, modern-stylische Bildsprache gelingt.
Dieses neue, in Form wie Inhalt ungewöhnliche China-Portrait passte zu den zwei Dutzend Filmen der neuen jungen Regiegeneration aus China, die im Zentrum der Sektion »Open Doors« standen – wo Guo Xiaolu bereits
um Koproduzenten für ihr nächstes Projekt warb.
+ + +
Guo Xiaolu lebt heute zwischen London und Peking, und ist überhaupt ein Multitalent. Sie hat bereits mehrere Romane geschrieben, die auch auf deutsch erschienen sind. Und neben ihren zwei Spielfilmen (How Is Your Fish Today? hieß 2006 der erste) hat sie bereits fünf Dokumentationen gedreht, die neueste, Once Upon a Time a Proletarian wird bereits nächsten Monat bei den Filmfestspielen in Venedig, ihre Weltpremiere feiern. Darin
blickt sie dem boomenden China unter die glamouröse Haut, und ist trotzdem nie rückwärtsgewandt: »Ich mag dieses langsame ostasiatische Postkartenkino nicht; das ist längst zu einer Masche geworden.« Ihr sind die Filme der Nouvelle Vague lieber, »die radikale poetische Sprache« von Fassbinder, Bunuel und Pasolini – man müsse »aus dem Gefängnis der Stories« herauskommen, »neue Bildsprachen« entwickeln. Auch ein neues Spielfilmprojekt hat sie bereits in Locarno vorgestellt.
Es erzählt von einer chinesischen Bäuerin, die behauptet ein UFO zu sehen. Was passiert eigentlich, wenn man in China ein UFO sieht?
Die Handlung geht auf ihren neuesten Roman zurück, der gerade ins Deutsche übersetzt wird. Im Oktober wird Guo Xiaolu ihn in Frankfurt bei der Buchmesse – Gastland: China – vorstellen. Dann wird sie auch wieder viel vom modernen China erzählen. Es lohnt sich, dieser ungewöhnlichen Stimme zuzuhören: »Wir sind in einem Prozess, wo wir alle
– in China und außerhalb – neue Werte entwickeln müssen. Jenseits vom Geld, aber auch jenseits unser alten Religionen.«
+ + +
Auch jenseits des Siegerfilms kamen die stärksten Filme in Locarno diesmal aus Asien: At the End of Daybreak heißt der Spielfilm des Regisseurs Ho Yuhang aus Malaysia. Ein moderner Film noir. Es beginnt mit einer verbotenen Liebe zwischen einem 23jährigen und einer erst 16jährigen Schülerin. Als deren Eltern davon erfahren, wollen sie den Jungen verklagen – hinter dem persönlichen Drama ist dies ein Klassenkonflikt zwischen dem Milieu ehrgeiziger
bürgerlicher Aufsteiger und der Unterschicht – erzählt in elegischen Bildern voller Magie, unterlegt mit klassischen Klängen von Mozart und Beethoven.
Sehr ungewöhnlich war Summer Wars, ein Animationsfilm aus Japan. Mamoro Hosoda erzählt mit viel Phantasie und Humor vom Kampf einer traditionell lebenden Samurai-Familie gegen eine Internet-Plattform, die zur Gefahr für die
Gesellschaft wird – eine einfallsreiche Konfrontation von virtueller und realer Welt.
Der Beitrag passte blendend zur Retrospektive, dies diesmal ganz den bezaubernden Welten des Manga-Animationskino aus Japan gewidmet war, und neben Bekanntem – die Filme Hiyao Miyazakis kommen ja auch regelmäßig ins deutsche Kino – vor allem auch viele völlig unbekannte Werke erstmals in Europa zeigte – die spannendsten Filme der Tage von Locarno. Unter anderem liefen
dort die allerersten »Anime« der Filmgeschichte, kurze Stimmfilme aus der Zeit 1917 bis 1944. Darunter sowohl Filme, deutlich versuchen, frühen Disneyproduktionen nachzueifern, als auch – immerhin filmhistorisch interessante Propagandafilme aus dem Zweiten Weltkrieg. Alles zusammen Film-Schätze, die man noch nie in Europa sehen konnte – und so schnell auch nicht wieder sehen wird.
+ + +
Es waren überaus bewegende Momente: Da standen zwei alte Damen, 97 und 82 Jahre alt, die Gerettete und eine ihrer Retterinnen, im berühmten Freilichtkino auf der »Piazza Grande« von Locarno – vor rund 8000 Zuschauern; und der Applaus wollte nicht enden. Dieser Applaus war in seiner Freundlichkeit verständlicherweise, der Ehrwürdigkeit des Alters ebenso geschuldet, wie den Lebenserfahrungen und den Taten von Marga Spiegel und Anni Aschoff. Er zeigte aber auch das erwartungsgefüllte Wohlwollen des Festivalpublikums gegenüber Unter Bauern – Retter in der Nacht, dessen Weltpremiere gleich am ersten Abend des Festivals folgen sollte.
Zu sehen war dann ein Film, der sich im Großen, Ganzen an die Erinnerungen der Marga Spiegel hält, die bereits 1962 unter dem Titel »Retter in der Nacht« erschienen sind. Gefördert von der Nordrhein-westfälischen Filmstiftung und produziert von der renommierten Kölner »Pandora Film« und dem Westdeutschen Rundfunk, ist ein Film entstanden, der weitgehend ohne die im deutschen Kino oft gerade bei historischen Stoffen übliche Gefühlduselei, ohne triefenden Kitsch auskommt, seine Geschichte vergleichsweise nüchtern und trotzdem emotional, zudem mit einigem Sinn für ihre kleineren Absurditäten erzählt. Im Oktober soll er in die deutschen Kinos kommen.
+ + +
Die Familie Spiegel stammt aus Ahlen. Der Vater war Pferdehändler und belieferte die Bauern der Umgebung. Lange konnten die Spiegels trotz der alltäglichen Drangsalierungen und einzelner schlimmer Erlebnisse dem Abtransport in die Todesfabriken im Osten entgehen. Als sich die Mordschlinge der Nazis Anfang 1943 über ihnen aber immer enger zuzog, mussten sie aufs Land fliehen – und wurden dort von Bauern des Münsterlandes gerettet. Sie versteckten Mutter und Tochter unter falscher Identität auf ihrem Hof. Der Vater Spiegel hatte es schwerer, und musste über zwei Jahre lang in Kammern und Dachböden unterkriechen, konnte nur nachts gelegentlich ins Freie. Durch ihren Mut setzten die Bauern auch ihr eigenes Leben und das ihrer Familien aufs Spiel – trotzdem war ihr Handeln für sie eine mitmenschliche Selbstverständlichkeit.
»Der Film räumt auf mit der Legende, dass Widerstand und Zivilcourage unter den Nazis nicht möglich waren«, sagte Marga Spiegel am Premierenabend, und erinnerte zugleich daran, dass nur 455 von den seinerzeit über 70 Millionen Deutschen in Yad Yashem als »Judenretter« geehrt sind, und dass ihre Familie die einzigen drei unter den zu Kriegsbeginn noch knapp hundert in Ahlen lebenden Juden waren, die das Kriegsende überlebten. »Zu viele glaubten der antisemitischen NS-Propaganda, andere passten sich ohne Not an, verweigerten Hilfe, oder denunzierten gar.«
+ + +
Vielleicht haben die Stärken des Films ihre Ursache auch darin, dass ein Holländer Regie führte: Ludi Boeken, der in den USA mit einem früheren Film bereits einen »Emmy« gewonnen hat, selbst aus einer jüdischen Familie stammend und mit den Erfahrungen von Verfolgung, Mord und glücklichem Überleben auf diese Weise selbst persönlich vertraut ist. Es liegt aber genauso auch an einigen der Darsteller des Films: Margarita Broich in der Rolle der Bauersfrau überzeugte sehr. Noch mehr aber
die bislang völlig unbekannte Lia Hoensbroech. Sie hat in der Rolle der Bauerntochter Anni Aschoff den weitesten Weg zurückzulegen: Vom führergläubigen strammen BDM-Mädel zur besten Freundin der Marga Spiegel und ihrer kleinen Tochter Karin. Das geht dann ein wenig sehr schnell, da wünscht man, der Film würde seinen Figuren und ihren Darstellern mehr Zeit gönnen, anstatt einen derartigen Bewusstseinswandel im Stechschritt drei schnell aufeinander folgender Szenen
abzuhandeln.
Zum einzigen Schwachpunkt im Ensemble wird ausgerechnet die prominente Hauptdarstellerin: Veronica Ferres ist mit Mitte 40 in der Rolle der damals gerade 30-jährigen Marga Spiegel schon etwas zu alt, und wirkt auch sonst wie ein Fremdkörper in der Darstellerriege. Trotz routinierter Betroffenheitsmine nimmt man ihr nie wirklich eine Frau ab, die lebensbedrohlicher Verfolgung ausgesetzt war. Und ihr gerade mal drei verschiedenen Gesichtsausdrücke reichten
für die große Leinwand sichtbar nicht aus.
Die Vorzüge von Unter Bauern liegen nicht zuletzt darin, dass der Film den Fokus auf ein vom Kino bisher wenig beachtetet Kapitel wirft: Den Krieg der Bauern, das Leben auf dem Land während Krieges. Es war hier schwerer, Juden zu verstecken, als im Dickicht der Großstädte – nicht nur, weil in den Städten immer noch Untergrundreste der Arbeiterbewegung bestanden, weil der ideologische Rückhalt für die NSDAP auf dem Land grundsätzlich größer war. Sondern vor allem auch, weil jeder jeden kannte, weil neue Gesichter oder zusätzliche Esser am Tisch schnell auffielen. Auch waren Kontrollen durch die Obrigkeit häufig. Sie galten vor allem der Überprüfung der Zwangsabgaben von Feldgütern und dem Kampf gegen »Schwarzschlachten«. Andererseits war hier der Bombenkrieg weit weniger intensiv, als in den Metropolen. Solche Szenen zeigt der Film, und verschafft so dem Zuschauer einige Eindrücke vom Kriegsalltag auf dem Land.
+ + +
Das Gesamtbild das der Film von all dem zeichnet, ist trotzdem insgesamt zu idyllisch: Man begegnet kaum einem überzeugten Nationalsozialisten, an den Führer glauben nur unbedarfte Jugendliche und eine debile Alte. Auch erscheinen die Behörden freundlich, kumpelhaft und augenzwinkernd nachsichtig – allein in den marodierenden SS-Einheiten kurz vor Kriegsende scheint kurz die Gnadenlosigkeit des Regimes, die Härte seiner Verfolgungsmaschine auf.
Umgekehrt
verlässt man sich in anderer Hinsicht um Vereinfachung und Klischees: »Meine Eltern würden sich ärgern«, meinte Anni Aschoff, die seinerzeit 16-jährige Tochter der Bauersfamilie, »denn unser Hof war viel größer, als im Film, uns ging es besser. Darum haben wir auch außer den Juden noch geflohene russische Zwangsarbeiter verstecken können, die mein Vater im Wald aufgelesen hatte.« Auch habe sie »nur einmal eine BDM-Uniform« getragen, nicht wie im Film, andauernd, und sei, darauf legt
Aschoff den größten Wert, auch als Jugendliche »nie glühende Nazi-Anhängerin gewesen«.
Derartige »dramaturgische Vereinfachungen« kennt man von anderen Beispielen des gegenwärtigen Geschichtskinos. Ob sie wirklich zur Verständlichkeit beitragen, oder nicht am Ende mehr von der historischen Wirklichkeit verhüllen, darüber kann man lange streiten. Der Wert von »Unter Bauern« liegt jedenfalls vor allem darin, wieder Aufmerksamkeit in ein vergessenes Kapitel der Verfolgung unter der deutschen Diktatur zu bringen.
+ + +
Aus Deutschland kam neben Unter Bauern noch Detlev Bucks neuer Film, der ebenfalls außer Konkurrenz vor mehreren tausend Zuschauern auf der Freilichtleinwand der »Piazza Grande« gezeigt wurde: »Same, same, but different« erzählt anrührend, aber recht vorhersehbar und klischeelastig von einem deutschen Jungen, der sich in eine an AIDS erkrankte Ex-Prostituierte verliebt, und sie schließlich aus der Gosse rettet – auch dies Kinder der Globalisierung.
+ + +
Nächstes Mal wird vieles anders: Ein neuer künstlerischer Leiter übernimmt das Festival, Olivier Père, der bisher in Cannes mit der »Quinzaine« die interessanteste Reihe des dortigen Festivals geleitet hatte, das Pendant zum Berlinale-Forum, eine Sektion, die hardcore-Kunstkino mit überraschendem Entertainment verbindet. Der bisherige Locarno-Leiter Frederic Maire agierte ziemlich glücklos. Aber auch Père wird es nicht so leicht haben: Locarno ist schwierig, es gibt hier viele, oft divergierende Interessen, die Geldgeber sind ganz fixiert auf die Piazza: Auch in Locarno regiert die Quote und es werden eisern Zuschauerzahlen gezählt, wie bei deutschen Fernsehsendern. Filmfestivals sind eben ein bisschen wie Fußball: Und der FC Locarno ist in Abstiegsgefahr.