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13.01.2000
 
 
   
 

Das war's
Ein (kaum verspäteter) Rückblick auf das Kinojahr 1999

 
   
     
 
 
 
 

Es fing ganz phantastisch an: als wir paar Artechock-Redakteure im vorigen Januar aus der Pressevorführung von Thomas Vinterbergs DAS FEST kamen, waren wir geplättet. Alles was man zuvor gehört hatte von diesen seltsam "katholischen" Dänen, alle daraus entstandenen Erwartungen wurden von der Erfahrung im Kino übertroffen. Ein K.O.-Schlag von einem Film, dieser erste "Dogma 95"-Beitrag, und mancher glaubte, bereits den besten Film des Jahres gesehen zu haben. Wäre DAS FEST nicht ein derart packender Film, was wäre aus dem Dogma-Konzept und seiner Wahrnehmung in der Öffentlichkeit geworden? - so aber wurde Dogma zu dem großen Filmereignis und -thema abseits Hollywood. Witzig und interessant war es vor allem zu beobachten, mit welch inbrünstiger Ernsthaftigkeit über dieses Thema diskutiert wurde - fast so, als glaubten viele tatsächlich wieder an die Errettung der Wirklichkeit im Kino. Hatte denn niemand die selbstironischen Aspekte dieses heiligen Keuschheitsgelübtes erkannt? Haben nicht alle Dogma-Regisseure eine Beichte ihrer begangenen Sünden veröffentlicht? Egal, die Herren von Trier, Vinterberg und Kragh-Jacobsen dürften sicher eine Menge Spaß gehabt haben, als sie merkten, welchen Wirbel sie da erzeugt haben; gute bis hervorragende Filme haben sie allemal gemacht.

Und sie haben eine Welle ausgelöst: bald werden alle möglichedn Regisseure ihre digitalen Videofilmproduktionen machen. Doch mit Sicherheit wird niemand den finanziellen Erfolg haben, den die beiden Amerikaner Myrick und Sanchez hatten. Ihr BLAIR WITCH PROJECT ist der Film-Coup des Jahrhunderts und dabei völlig Dogma-orthodox. Die Zeit war scheinbar mal wieder "reif" für eine Entwicklung, die unter unterschiedlichen Vorzeichen an unterschiedlichen Orten stattfand: nach all den uns bombardierenden Medien-Hochglanzprodukten und nach zwei Jahrzehnten Rezeptionsausbildung durch MTV-Konsum setzte sich das Rohe und Direkte wieder auf der großen Leinwand durch. Nicht das hier das Ei des Kolumbus neu entdeckt oder gar erfunden worden wäre - z.B. Godard hatte bereits in den Achtzigern angefangen, auf Video zu drehen - nein, es ist einfach eine wunderbare Vermischung unterschiedlicher kultureller Strömungen (von einem weiterhin bestehenden Wunsch nach Authentizität bis zu einer Gegenposition zum Mainstream - in Verbindung mit technischen Fortschritten), die zu dieser Entwicklung geführt und damit das Kino sehr bereichert hat.

Zur Jahresmitte "schlug" die Traumfabrik dann zurück, zunächst mit MATRIX, der neue Standards für das Action-Kino setzte und auf seine Art genauso intelligent und überwältigend war wie DAS FEST, dann mit STAR WARS - THE PHANTOM MENACE, dem überlangen Werbespot für die Computerspiele, Spielfiguren, Bettbezüge, Fastfood-Trinkbecher usw. usf. Über MATRIX wurde einiges - und wird noch mehr - Kluges geschrieben, und über STAR WARS wurde sowieso schon zuviel Aufsehen gemacht, so daß man sich an dieser Stelle weitere Ausführungen ersparen kann.

Übers Jahr verteilt liefen natürlich noch einige gute Produktionen aus Hollywood, solche die einem den Abend gerettet haben, wie AUSNAHMEZUSTAND (THE SIEGE) oder VERHANDLUNGSSACHE (THE NEGOTIATOR). Es gab auch sehr schöne Filme aus der internationalen Autorenriege wie Almodóvars ALLES ÜBER MEINE MUTTER, Kitanos KIKUJIROS SOMMER oder Cronenbergs EXISTENZ. Und THE FIGHT CLUB von David Fincher hat uns Zuschauer gegen Ende des Jahres nochmal so richtig heftig durchgeschüttelt. Alle haben sie an der Kasse zumindest einigermaßen gut abgeschnitten. Doch leider sind auch ein paar ganz wichtige Filme völlig unter den Tisch gefallen.

Dazu gehört zunächst Jonathan Demmes MENSCHENKIND (BELOVED). Die Verfilmung des Bestsellers von Toni Morrison ist eine (auch im kommerziellen Sinne) gefährliche Mischung aus Rassismus-Drama und Horrorfilm, aus hollywoodscher Ästhetik, wilder Fabulierlust und verstörender Thematik. Die Vermarktungsmaschinerie hatte wohl große Schwierigkeiten dieses "Produkt" zu positionieren - sollte sie den Film nun den Hausfrauen und Mütter ans Herz legen oder auf den Horrorzug draufsetzen? Offensichtlich aus lauter Konfusion haben die Marketingstrategen dann hierzulande so gut wie ganz darauf verzichtet, den Film zu bewerben. Dementsprechend nahm kaum jemand von ihm Notiz, nach zwei Wochen war er in München wieder aus den Kinos verschwunden. Sehr schade d'rum, denn Demme hat einen wirklich wunderschön wuchtigen Film gemacht, der zwar im ersten Moment verwirren mag, der aber aus der Distanz um so mehr gewinnt und der vor allem konsequent Demmes Werk ergänzt - von der Symbolik (z.B. die Schmetterlinge aus DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER ) bis zur Thematik des Außenseitertums. Außerdem wurde bereits hier die später im Jahr vielbeschworene Verschiebung von Realitäten (ohnehin ein klassisches Thema des Kinos) aufgegriffen und das ganz ohne Cybercosmos.

Weitere Trauerfälle des Jahres sind Wes Andersons RUSHMORE und Julio Medems DIE LIEBENDEN DES POLARKREISES (LOS AMANTES DE CIRCOLO POLAR). Der erste ist die beste Komödie, der zweite der schönste Liebesfilm des Jahres (wenn man von ihren deutschen Premieren ausgeht). Ein Glück für jeden, der diese Filme sehen konnte bei einer der seltenen Gelegenheiten wie dem Münchner Filmfest. Hier wird einem wieder bewußt, was Filmfestivals oder Kinematheken leisten können: sie zeigen die Schätze, die von blinden oder vielleicht auch überforderten Filmverleihern übersehen werden - RUSHMORE hatte zwar schon einen Starttermin im September, der aber plötzlich wieder aufgehoben wurde, DIE LIEBENDEN DES POLARKREISES hat hierzulande noch nicht mal einen Verleih gefunden. Die Verleiher mögen allein durch die Masse der jährlich produzierten Filme überfordert sein - nach der Internet Movie Database waren es 1999 schlappe 6463 Filme weltweit - aber wieder liegt der Verdacht nahe, daß man auf keinen Fall wirtschaftliche Risiken eingehen wollte oder konnte. Die es nicht konnten wurden oder werden von den Großen geschluckt - siehe Pandora - und die es nicht wollten sind zu sehr damit beschäftigt, an die Börse zu gehen, während sie ein Feigenblättchen vorhalten auf dem z.B. "Arthouse" steht und hinter dem sich leider etwas zuviel biederes Kunsthandwerk und modischer Firlefanz versteckt.

Was einem im Kino blieb, war der Trost von Filmen wie den bereits genannten, die Hoffnung, daß RUSHMORE doch noch anläuft, und vor allem David Lynchs THE STRAIGHT STORY, dem wunderbarsten Film des Jahres 1999.
Der einzige Film, der es geschafft hat, mich zweimal zum Weinen zu bringen.

Max Herrmann

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