Es
fing ganz phantastisch an: als wir paar Artechock-Redakteure
im vorigen Januar aus der Pressevorführung von Thomas Vinterbergs
DAS FEST kamen, waren wir
geplättet. Alles was man zuvor gehört hatte von diesen seltsam
"katholischen" Dänen, alle daraus entstandenen Erwartungen
wurden von der Erfahrung im Kino übertroffen. Ein K.O.-Schlag
von einem Film, dieser erste "Dogma 95"-Beitrag, und mancher
glaubte, bereits den besten Film des Jahres gesehen zu haben.
Wäre DAS FEST nicht ein derart packender Film, was wäre aus
dem Dogma-Konzept und seiner Wahrnehmung in der Öffentlichkeit
geworden? - so aber wurde Dogma zu dem großen Filmereignis
und -thema abseits Hollywood. Witzig und interessant war es
vor allem zu beobachten, mit welch inbrünstiger Ernsthaftigkeit
über dieses Thema diskutiert wurde - fast so, als glaubten
viele tatsächlich wieder an die Errettung der Wirklichkeit
im Kino. Hatte denn niemand die selbstironischen Aspekte dieses
heiligen Keuschheitsgelübtes erkannt? Haben nicht alle Dogma-Regisseure
eine Beichte ihrer begangenen Sünden veröffentlicht? Egal,
die Herren von Trier, Vinterberg und Kragh-Jacobsen dürften
sicher eine Menge Spaß gehabt haben, als sie merkten, welchen
Wirbel sie da erzeugt haben; gute bis hervorragende Filme
haben sie allemal gemacht.
Und sie haben eine Welle ausgelöst: bald werden alle möglichedn
Regisseure ihre digitalen Videofilmproduktionen machen. Doch
mit Sicherheit wird niemand den finanziellen Erfolg haben,
den die beiden Amerikaner Myrick und Sanchez hatten. Ihr BLAIR WITCH PROJECT ist der Film-Coup des Jahrhunderts und dabei
völlig Dogma-orthodox. Die Zeit war scheinbar mal wieder "reif"
für eine Entwicklung, die unter unterschiedlichen Vorzeichen
an unterschiedlichen Orten stattfand: nach all den uns bombardierenden
Medien-Hochglanzprodukten und nach zwei Jahrzehnten Rezeptionsausbildung
durch MTV-Konsum setzte sich das Rohe und Direkte wieder auf
der großen Leinwand durch. Nicht das hier das Ei des Kolumbus
neu entdeckt oder gar erfunden worden wäre - z.B. Godard hatte
bereits in den Achtzigern angefangen, auf Video zu drehen
- nein, es ist einfach eine wunderbare Vermischung unterschiedlicher
kultureller Strömungen (von einem weiterhin bestehenden Wunsch
nach Authentizität bis zu einer Gegenposition zum Mainstream
- in Verbindung mit technischen Fortschritten), die zu dieser
Entwicklung geführt und damit das Kino sehr bereichert hat.
Zur Jahresmitte "schlug" die Traumfabrik dann zurück, zunächst
mit MATRIX, der neue
Standards für das Action-Kino setzte und auf seine Art genauso
intelligent und überwältigend war wie DAS FEST, dann mit STAR WARS - THE PHANTOM
MENACE, dem überlangen Werbespot für die Computerspiele,
Spielfiguren, Bettbezüge, Fastfood-Trinkbecher usw. usf. Über
MATRIX wurde einiges - und wird noch mehr - Kluges geschrieben, und
über STAR WARS wurde sowieso schon zuviel Aufsehen gemacht, so daß
man sich an dieser Stelle weitere Ausführungen ersparen kann.
Übers Jahr verteilt liefen natürlich noch einige gute Produktionen
aus Hollywood, solche die einem den Abend gerettet haben,
wie AUSNAHMEZUSTAND (THE SIEGE) oder VERHANDLUNGSSACHE (THE NEGOTIATOR).
Es gab auch sehr schöne Filme aus der internationalen Autorenriege
wie Almodóvars ALLES ÜBER MEINE MUTTER, Kitanos KIKUJIROS
SOMMER oder Cronenbergs EXISTENZ.
Und THE FIGHT CLUB
von David Fincher hat uns Zuschauer gegen Ende des Jahres
nochmal so richtig heftig durchgeschüttelt. Alle haben sie
an der Kasse zumindest einigermaßen gut abgeschnitten. Doch
leider sind auch ein paar ganz wichtige Filme völlig unter
den Tisch gefallen.
Dazu gehört zunächst Jonathan Demmes MENSCHENKIND (BELOVED). Die
Verfilmung des Bestsellers von Toni Morrison ist eine (auch
im kommerziellen Sinne) gefährliche Mischung aus Rassismus-Drama
und Horrorfilm, aus hollywoodscher Ästhetik, wilder Fabulierlust
und verstörender Thematik. Die Vermarktungsmaschinerie hatte
wohl große Schwierigkeiten dieses "Produkt" zu positionieren
- sollte sie den Film nun den Hausfrauen und Mütter ans Herz
legen oder auf den Horrorzug draufsetzen? Offensichtlich aus
lauter Konfusion haben die Marketingstrategen dann hierzulande
so gut wie ganz darauf verzichtet, den Film zu bewerben. Dementsprechend
nahm kaum jemand von ihm Notiz, nach zwei Wochen war er in
München wieder aus den Kinos verschwunden. Sehr schade d'rum,
denn Demme hat einen wirklich wunderschön wuchtigen Film gemacht,
der zwar im ersten Moment verwirren mag, der aber aus der
Distanz um so mehr gewinnt und der vor allem konsequent Demmes
Werk ergänzt - von der Symbolik (z.B. die Schmetterlinge aus
DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER ) bis zur Thematik des Außenseitertums.
Außerdem wurde bereits hier die später im Jahr vielbeschworene
Verschiebung von Realitäten (ohnehin ein klassisches Thema
des Kinos) aufgegriffen und das ganz ohne Cybercosmos.
Weitere Trauerfälle des Jahres sind Wes Andersons RUSHMORE und Julio Medems DIE
LIEBENDEN DES POLARKREISES (LOS AMANTES DE CIRCOLO POLAR). Der
erste ist die beste Komödie, der zweite der schönste Liebesfilm des
Jahres (wenn man von ihren deutschen Premieren ausgeht). Ein Glück
für jeden, der diese Filme sehen konnte bei einer der seltenen
Gelegenheiten wie dem Münchner Filmfest. Hier wird einem wieder
bewußt, was Filmfestivals oder Kinematheken leisten können: sie
zeigen die Schätze, die von blinden oder vielleicht auch
überforderten Filmverleihern übersehen werden - RUSHMORE hatte zwar
schon einen Starttermin im September, der aber plötzlich wieder
aufgehoben wurde, DIE LIEBENDEN DES POLARKREISES hat hierzulande
noch nicht mal einen Verleih gefunden. Die Verleiher mögen allein
durch die Masse der jährlich produzierten Filme überfordert sein -
nach der Internet Movie Database waren es 1999 schlappe 6463 Filme
weltweit - aber wieder liegt der Verdacht nahe, daß man auf keinen
Fall wirtschaftliche Risiken eingehen wollte oder konnte. Die es
nicht konnten wurden oder werden von den Großen geschluckt - siehe
Pandora - und die es nicht wollten sind zu sehr damit beschäftigt,
an die Börse zu gehen, während sie ein Feigenblättchen vorhalten
auf dem z.B. "Arthouse" steht und hinter dem sich leider etwas
zuviel biederes Kunsthandwerk und modischer Firlefanz
versteckt.
Was einem im Kino blieb, war der Trost von Filmen wie den bereits
genannten, die Hoffnung, daß RUSHMORE doch noch anläuft, und vor
allem David Lynchs THE STRAIGHT
STORY, dem wunderbarsten Film des Jahres 1999. Der
einzige Film, der es geschafft hat, mich zweimal zum Weinen zu
bringen.
Max Herrmann
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