01.02.2018

The Future of … Rotterdam

Dana LInssen Jan Pieter Ekker
Dana Linssen und Jan Pieter Ekker auf dem Podium zur »Nachhaltigen Filmkritik«, das am Mittwoch abgehalten wurde
(Foto: Dunja Bialas)

»Unleashed« – Mit einer neuen Streaming-Plattform navigiert das größte niederländische Festival IFFR in neue Gefilde // »Sustainable Criticism«: Kann Filmkritik etwas von der Nachhaltigkeitsdebatte lernen?

Von Dunja Bialas

Rotterdam, der größte europäi­sche Hafen, hat sich selbst abgehängt. Die großen Contai­ner­schiffe werden jetzt Off-Shore, mitten in der Nordsee, abge­fer­tigt, der Hafen erlebt damit einen Struk­tur­wandel wie dereinst das Ruhr­ge­biet. Schon seit Jahren schießen rings um die Hafen­ge­gend poshe Design-Hoch­häuser aus dem Boden. Diese sind keines­falls urban-hafen­s­täd­tisch, mehr hyggelig-heimelig, very good taste, very Dutch. Im alten Hafen­ge­biet machen sich jetzt in einer ehema­ligen Schwimm­halle Start-ups breit, die junges, hippes und nicht zuletzt solventes Publikum anziehen sollen. Galt die Stadt einst als größtes Nagel­studio Europas, für das nicht einmal eine Ansichts­karte aufzu­treiben war, hat es sich jetzt zu einer Archi­tektur- & Design-Metropole gentri­fi­ziert – heute noch zukünftig, aber morgen viel­leicht schon: slick & lame?

In dieser Stadt des schnellen Umbruchs findet eines der größten Publikums-Festivals Europas statt, mit der Spann­breite von Crowd-Pleasern bis Expe­ri­men­tal­film. Der Schwer­punkt liegt dabei auf den unter­re­prä­sen­tierten Länder Asiens, Afrikas und Latein-Amerikas. Asien hat die Stadt geprägt und dem Festival sein Logo, einen Tigerkopf, gegeben. In der Vergan­gen­heit hat der Kontinent auch immer wieder für Schwer­punkte gesorgt, wie jetzt die Tamilen-Reihe »House On Fire«. Der frühere Rotterdam-Leiter Gertjan Zuilhof hatte einst ein Africa-Co-Produk­ti­ons­pro­jekt gestartet, und auch dieses Jahr war Afrika wieder mit »Beyond Nollywood« und »Pan-African Cinema Today« im Fokus.

Das Gros der Filme, die auf dem Festival zu sehen sind, lässt sich insgesamt unter dem Stichwort »unvisible« oder »under­rated« verorten. Viele der Filme touren auf den Festivals der Welt, manche von ihnen sind ausge­spro­chene Festi­val­filme, die eigens für den »Festival-Zirkus« entstanden sind (oder auch nur deshalb entstehen konnten, weil es diesen gibt). Der seit fast dreißig Jahre bestehende »Hubert Bals Fund« leistet Produk­ti­ons­hilfe für Film­pro­jekte aus den benach­tei­ligten Ländern der Konti­nente, einschließ­lich Osteu­ropas, die dann auch wieder in Rotterdam Premiere haben und in den Festi­val­kreis­lauf eintreten.

Welche Lebens­dauer aber haben diese Filme? Wer sieht sie? Wie kann sich die Entwick­lungs-Arbeit des Festivals lohnen, wie die Arbeit der Filme­ma­cher entlohnt werden? Nach­hal­tig­keit soll im Zentrum der neuen Streaming-Plattform IFFR Unleashed stehen, die jetzt der marke­ting­ver­sierte Leiter Bero Beyer vom Stapel gelassen hat. Ziel ist, die Inde­pen­dent-Filme­ma­cher sichtbar zu halten und ihnen ganz­jährig ein Online-Publikum zu ermög­li­chen. Rotterdam ist aber auch ein Festival der Vorpre­mieren und der großen Welt­ver­triebe, die betref­fenden Filme wird man jedoch auf der Plattform – nicht nur aus recht­li­chen Gründen – kaum finden. Idee ist vielmehr, so Beyer, »hand­ver­le­sene Auteur-High­lights« zu präsen­tieren und Publi­kums­lieb­linge des Beyond-Arthouse-Sektors. Oder mit den Worten des Festivals: »Not your everyday films.«

Sieht man sich wenige Tage nach dem Release auf der Pay-per-View-Seite um (4€/1€ für Kurzfilm – Flatrate nur für die Benelux-Länder), so ist das Angebot mit ca. zwei Dutzend Titeln noch ziemlich über­sicht­lich. Über­ra­schen­der­weise sind auch ein paar Filme dabei, die unlängst im Kino zu sehen waren und allgemein zugäng­lich sind, wie Only Lovers Left Alive (Jim Jarmusch), Eden (Mia Hansen-Love),  A Girl Walks Home Alone At Night (Ana Lily Amirpur) oder Black Blood (Miaoyan Zhang). Die bekannten Titel sollen aber womöglich dem Publikum nur ein Setting geben für außerhalb Rotter­dams noch nie gehörte Titel wie Amijima (Jorge Suárez-Quiñones Rivas), Los decentes (Lukas Valentas Rinner) oder Fat boy never slim (Sorayos Prapapan). Einige Autoren des Weltkinos sind dabei, die zumindest all jenen bekannt sein dürften, die ein wenig Einblick in die Filme der Festivals und entfernte Film­länder haben. So etwa von Matías Meyer, Milagros Mumen­thaler (ja, viele Latinos sind hier auffindbar!), Andrea Arnold oder auch Alexander Payne.

Insgesamt sind es noch recht wenige Titel, die sich auf der Seite befinden, und leider kann man nicht nach Festival-Editionen suchen, was die Recherche ein wenig wie in einer analogen Buch­hand­lung gestaltet: man muss alle Titel durch­gehen, um fündig zu werden. Die Suchmaske bietet als einzigen Filter »In the mood to« an, mit den äußerst schwam­mingen und gewollt subjek­tiven Unter­ab­tei­lungen »reflect – think – feel – thrill – discover – indulge«. Sortiert man nach der letzten Kategorie kommt man übrigens zu den sehr empfeh­lens­werten Filmen Finis­terrae (Sergio Caballero), Mouse Palace (Harald Hund & Paul Horn), The Hollow Coin (Frank Heath), Eden und Nebraska. Was aber, bitte­schön, ist hier das gemein­same »indulgent«?

Es bleibt noch einiges zu verbes­sern und vor allem auch auszu­bauen, bevor »IFFR Unleashed« wirklich mit Mubi oder gar der Profi-Plattform Festi­valscope mithalten kann. Und: Einen Besuch des Festivals ersetzt das Angebot keines­wegs.

Vom Slow zum Sustainable Criticism

Will »IFFR Unleashed« helfen, seltene Filme für jedermann zugäng­lich zu machen, den Regis­seuren ein nach­hal­tiges Publikum zu verschaffen, so hatte ähnliches Dana Linssen und ihr Kollege Jan Pieter Ekker im Sinn, als sie 2015 die »Critic’s Choice« zurück auf das Rotter­damer Festival brachten. Dana Linssen, die den Begriff des »Slow Criticism« prägte, schrieb 2009 im Film­s­krant: »The past year showed an alarming decline in the editorial space for film criticism in tradi­tional media, whereas on the internet the speed of recycled opinions was appro­xi­mating the grotesque. Critics were fired, others were syndi­cated, some were replaced by sports reporters since some distant marketing exec had the idea that, oh!, that scary anonymous reader was no longer inte­rested in expert jour­na­lism. (…) As film criticism is becoming a commodity and a marketing tool, — you name it, we've got it —, it’s no longer the film critic who sets the agenda, it’s the festival calendar, the release schedule, the avai­la­bi­lity of stars and 'talents', and the favours of publi­cists. And of course we're not supposed to talk about this, because it’s not corrup­tion, it’s prag­ma­tism.« Dana Linssen ruft zu einer konti­nu­ier­li­chen »coun­ter­ba­lance« auf, einem Gegen­ge­wicht gegen die Film­kritik der Beschleu­ning unter den Vorzei­chen des Marke­tings. Dazu gehört auch, Filmtitel gegen den Strom zu bespre­chen, also gegen den Gedanken-Main­stream, aber auch gegen den Main­stream des Angebots unbe­kannte Filme mit Texten zu bedenken.

Im vierten Jahr der Critic’s Choice haben Dana Linssen und Jan Pieter Ekker noch einmal drauf­ge­legt und den Sustainable Criticism ausge­rufen. Sie wollen damit fort­fahren, »beyond crisis of criticism« über letzteren nach­zu­denken und zu überlegen, welche Zukunft Film­kritik erwartet, abseits der beruflich desolaten Situation. Einen Terminus aus der Ökologie verwen­dend, wollen sie wissen, wie in der beschleu­nigten Text-Produk­tion und Film­ver­wer­tung / -Verwer­fung ein respekt­voller Umgang mit den Ressourcen – dem eigenen Text, dem bespro­chenen Film – gefunden werden kann: »Writing about main­stream films and block­bus­ters and reporting on stars have become ways to attract attention of a reader­ship, in favour of this other and older jour­na­listic function: an inde­pen­dent inquiry and evalua­tion of the news. Film journalis today has exchanged the 'new' for the 'known, tried and tested'.«

Wie in den Ausgaben zuvor haben sie verein­zelten Filmen prägnante Video-Essays voran­ge­stellt, die glei­cher­maßen unter­haltsam wie erhellend sind. Kevin B. Lee beispiels­weise (hier sein Beitrag auf einem Symposium zu zehn Jahren audio­vi­su­elle Film­kritik, zu deren Boom er maßgeb­lich beigetragen hat) hat gar einen Essay zu James Bennings Readers erstellt, den er gar nicht gesehen, geschweige denn von dem er Snippets hatte (in Zusam­men­ar­beit mit Chloé Galibert). Aufgrund von Reviews, die bereits im Netz erschienen waren, konstru­iert er sich Bennings Film in fakti­scher Art: Wie viele Leser, wie lange dauern die Einstel­lungen, welche Titel? Auch die Frage, ab wann ein Film durch Spoiler kaputt gemacht werden kann, oder wie falsche Heran­ge­hens­weisen den Blick auf einen Film verstellen können, macht dieser Essay prägnant deutlich. Das große Ziel ist, die Film­kritik in Worten oder audio­vi­suell, gegen ihre Indienst­nahme von Verlei­hern oder World Sales Agents zu vertei­digen, stark zu machen. Für Kevin B. Lee ist es daher auch wichtig, eher Fragen zu stellen, statt beim »films­plai­ning« mitzu­ma­chen, bei dem meist junge weiße Männer das letzte Wort über die Filme haben wollen, die sie erklären. Seine dekon­struk­ti­vis­ti­schen Essays, die Bedeu­tungen zum Spielen bringen und Räume zwischen den Bildern eröffnen, sind dafür eine denkbar grandiose Form.