Winterschlaf

Kis uykusu

Türkei/F/D 2014 · 196 min. · FSK: ab 6
Regie: Nuri Bilge Ceylan
Drehbuch: ,
Kamera: Gökhan Tiryaki
Darsteller: Haluk Bilginer, Melisa Sözen, Demet Akbag, Ayberk Pekcan, Serhat Mustafa Kiliç u.a.
Winter des Patriarchen

Die Wiederkehr des Verdrängten und der Selbsthass der Intellektuellen

Einmal fährt die Haupt­figur dieses Films, ein älterer Mann namens Aydin, im Auto als Beifahrer über das Hochland Kappa­do­kien. Plötzlich gibt es einem Schlag; die Scheibe der Tür neben ihm zersplit­tert und nur Sekunden später hat er – und das Publikum mit ihm – reali­siert, dass dies kein Zufall war, sondern der Steinwurf eines kleinen Jungen. Dessen Blick, fragend, vorwurfs­voll, bleibt nicht weniger haften, wie die Fassungs­lo­sig­keit in den Augen des Ange­grif­fenen.
Später im Film sieht man eine Gruppe von wilden Pferden. Sie galop­pieren über die Steppe, frei und unge­bunden. Eines von ihnen wird einge­fangen und mit einem Seil um den Hals gefesselt, immer enger, bis es elend röchelt, scheinbar fast erstickt. Ein mühe­voller, auch für den Zuschauer schmer­zhafter Augen­blick, im Kino eine großar­tige, selten zu sehende Szene – und ein Sinnbild für die Zwänge, denen die Natur in der Zivi­li­sa­tion begegnet. Auch hier sieht man wieder Aydins durch Erschre­cken wie Erstaunen geweitete Augen, seinen Blick, in dessen Fassungs­lo­sig­keit sich ein Element von Selbst­er­kenntnis abzuz­eichnen scheint.

Winter­schlaf ist ein Film der Blicke, ein Film der Worte und ein Film der Welt, mit der Blicke und Worte mühsam ein Verhältnis einzu­gehen suchen. Um Selbst­er­kenntnis geht es in diesem Film, um die Grenzen zwischen Gene­ra­tionen, Klassen, Geschlech­tern.

Der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan portrai­tierte bereits in seinen bishe­rigen Fimen – Bedrängnis im Mai, Uzak – Welt, Jahres­z­eiten – Iklimler, Drei Affen und zuletzt Once Upon a Time in Anatolia – sein Land, die Türkei, und sein Milieu, das der an West­eu­ropa und der Avant­garde der Moderne orien­tierten Künstler und Intel­lek­tu­ellen. Sein neuer Film Winter­schlaf, der jetzt ins Kino kommt, ist im Vergleich zu früheren Werken erstaun­lich gesprächig. Ein dreis­tün­diges, aber sehr kurz­wei­liges Bezie­hungs­drama, für das Ceylan im Mai in Cannes die Goldene Palme, also die höchste Ausz­eich­nung des inter­na­tio­nalen Auto­ren­kinos bekam.

Winter­schlaf spielt in der großar­tigen Natur­ku­lisse des Hochlands von Kappa­do­kien, dem abge­le­genen Teil Zentral­a­na­to­liens. Aydin ist ein alternder Thea­ter­schau­spieler, der sich vor einiger Zeit in seinem Eltern­haus zur Ruhe gesetzt hat. Dort betreibt er nun ein Hotel, dirigiert mit Hilfe eines Verwal­ters das Personal und die von ihm als Grund­be­sitzer abhän­gigen Bewohner der Gegend und lebt mit seiner Schwester und seiner deutlich jüngeren Frau Nihal zusammen.

Um diese drei Figuren und eine Handvoll weiterer Charak­tere entspinnt sich ein dichtes Bezie­hungs­ge­flecht, ein Mikro­kosmos, der einer­seits durchaus als Metapher auf die gesell­schaft­liche Situation der Türkei verstanden werden kann, als Portrait »in der Nuss­schale«: Es gibt einen Hodscha und einen Lehrer, es gibt Prole­ta­rier und Klein­bürger, einen treuen Verwalter und junge Männer mit Wutbürger-Allüren. Aydin hat offenbar zuletzt als Schau­spieler nicht mehr den früheren Erfolg gehabt, dafür schreibt er aber in einer Zeitung eine Kolumne, die etwa um die Frage kreist, wie »zivi­li­siert« der Islam sei. Aydin steht für die wohl­ha­bende, gebildete, kunst­in­ter­es­sierte und modern ausge­rich­tete kema­lis­ti­sche Elite der Türkei und ihre jüngsten Desil­lu­sio­nie­rungs­prozesse, den Verlust der kultu­rellen und poli­ti­schen Hegemonie.

Ceylan zeigt die zwei Seiten der Türkei, die »weiße«, aufge­klärte, gebildete, und die »schwarze«, die im derz­ei­tigen Erdogan-Regime die Macht über­nommen hat, und eine im neoli­be­ralen Gewand eine bornierte Re-Osma­ni­sie­rungs­po­litik betreibt. Winter­schlaf handelt von der Wieder­kehr des Verdrängten in der Türkei der Gegenwart, wie auch von den Schuld­ge­fühlen und dem Selbst­hass der Elite, der Intel­lek­tu­ellen, sich von der einfachen Bevöl­ke­rung und türki­schen Tradi­tionen entfernt zu haben. Sie sind, wie alle Eliten des Wesens augen­blick­lich nicht fähig, den gerade statt­fin­denden Skla­ven­auf­stand zu bekämpfen.

Die Handlung wechselt zwischen Szenen, die Aydin mit seiner Umgebung konfron­tieren, und langen Passagen, die Gespräche zwischen Aydin mit der Schwester und seiner Frau zeigen. Immer wieder münden diese Gespräche in ernste mora­li­sche Debatten. Es geht darin nicht allein um Fragen wie die, wie man »dem Bösen wider­stehen« könne, oder um den Charakter von Kunst: »Das Thema wählt dich, nicht umgekehrt« erklärt Aydin. Aydin – nicht nur der Sympa­thie­träger des Films, sondern am ehesten auch die »Stimme des Autors« – hält der Bevöl­ke­rung des türki­schen Hinter­landes ihre Borniert­heit vor, ihren fehlenden Sinn für Schönheit, und kriti­siert ihre über­trie­bene, zur Bigot­terie gestei­gerte Reli­gio­sität.

Immer wieder werden aus dem Gespräch Debatten und persön­li­cher Streit, in dem unaus­ge­spro­chene Verlet­zungen zutage treten, und die für Aydin zu persön­li­chen Heraus­for­de­rungen werden. Plötzlich scheint Aydins ganzes Leben und sein Charakter auf dem Prüfstand zu stehen.

Es wäre zu einfach, diesen Charakter, der in diesem Film am ehesten auch die »Stimme des Autors« Ceylan ist, nur als »geschei­terten Künstler« abzutun, ihm Selbst­ge­rech­tig­keit vorzu­werfen, mal Macho-Gehabe, Arroganz, patri­ar­cha­li­sche Posen und Besser­wis­serei, dann wieder Schwäche und den Unwillen, die unan­ge­nehmen Aufgaben seines Lebens zu über­nehmen. Aydin ist kein Egomane und es ist keine Ausrede, wenn sein Interesse nicht so sehr sich selber und den augen­blick­li­chen Befind­lich­keiten der beiden, fort­wäh­rend lamen­tie­renden Frauen in seinem Haushalt gilt – die Schwester ist frisch geschieden und leidet unter dem geschei­terten Leben, die um vieles jüngere Gattin wirft ihm vor, für ihn alles aufge­geben zu haben, und betäubt die Lange­weile des Provin­z­le­bens mit Wohl­fahrts-Akti­vitäten.

Gerade Nihal ist gegenüber Aydin eine nahezu eben­bür­tige zweite Figur. Man kann beider Gespräche als eine – mildere – Variante von Bergmans Szenen einer Ehe verstehen. Beide Ehepart­nern fällt es schwer, empa­thisch die Sicht des je Anderen einzu­nehmen, beide verstri­cken sich immer wieder in egozen­tri­sche Befind­lich­keiten. So wie Aydins patri­a­chales Selbst­ver­s­tändnis längst erschüt­tert ist, so leidet Nihal als reiche »tatenlose« unter Schuld­kom­plexen gegenüber der armen Land­be­völ­ke­rung, die von ihrem Gatten abhängig sind, dessen Verhalten Nihal als »herzlos« empfindet.

So ist dies zugleich auch ein psycho­lo­gisch triftiges univer­sales Drama, über die uns alle betref­fende Frage, wie der Mensch mit seinem eigenen Altern und seiner Sterb­lich­keit umgeht, mit seinen Mitmen­schen, ein Film über Überdruss und Sehnsucht, darüber, worauf es im Leben am Ende wirklich ankommt.

Das Figuren-Dreieck lässt sich sogar ganz tradi­tio­nell freu­dia­nisch in den Metaphern Ich, Es und Über-Ich deuten. Der Mann reprä­sen­tierte dann das Subjekt, die sich ermäch­ti­gende Vernunft, die Frau die Emotio­na­lität und Leib, die Schwester die Stimme der Familie, der Eltern, der Tradition.

Musi­ka­lisch unter­mauert wird das schöne Unglück, die elegische Melan­cholie, die den Grundton dieses Films bildet, durch Schuberts Klavier­so­nate No. 20 – ein so subtiler wie direkter Verweis auf Bressons Au hasard Balthazar. Gokhan Tiryakis Kamera unter­s­tützt dies mit nicht minder elegi­schen Cine­ma­scope-Aufnahmen der schnee­be­deckten Land­schaft, während die Dialoge mitunter zu atemlosen Schuss-Gegen­schuss-Abfolgen zuge­spitzt werden.

Die über drei Stunden Filmlänge sind nie lang­weilig, stehen im Gegenteil immer unter Spannung, und entfalten einen sehr eigenen Fluss. Film­hand­werk­lich ist alles sehr kontrol­liert, aber bei aller Kontrolle gibt es auch immer wieder Über­schuss, Momente des Sich-Gehen-Lassens. Trotzdem schöpft Ceylan längst nicht alle Möglich­keiten des Kinos aus. Dies ist kein Film, der erkennbar etwas riskiert. Spürbar ist das Bestreben fehlerlos und auf der sicheren Seite zu bleiben. Winter­schlaf ist ein gerade für den Regisseur Nuri Bilge Ceylan erstaun­lich gesprächiger Film, der sich stel­len­weise zum schwer dialo­glas­tigen Kammer­spiel entwi­ckelt. Ande­rer­seits würde man das einem Stück von Tschechow auch nicht vorwerfen – und Tschechow ist das so erklärte, wie unschwer erkenn­bare Vorbild Ceylans. Und tatsäch­lich erinnert die melan­cho­li­sche Grund­stim­mung des Films, verbunden mit sanfter, menschen­freund­li­cher Ironie an den russi­schen Autor.

Immer wieder kommt es aber zu großar­tigen Augen­bli­cken unver­mit­telter Zuspit­zung. Wenn Aydin das Pferd beob­achtet, das sich im Verzweif­lungs­kampf wehrt gegen die Stricke, die es fesseln wollen, dann blickt er auch sich selber, seiner eigenen Lage ins Gesicht.