Wahre Lügen

Where the Truth Lies

Kanada/GB/USA 2005 · 108 min. · FSK: ab 16
Regie: Atom Egoyan
Drehbuch:
Kamera: Paul Sarossy
Darsteller: Kevin Bacon, Colin Firth, Alison Lohman u.a.
Menage à trois: Lanny, Maureen und Vince

Alice im Showbusiness-Land

Die Show ist verlogen. Man sieht es den Gesich­tern von Lanny und Vince an, Sekunden bevor sie auf die Bühne treten, und ihr routi­niertes Lächeln aufsetzen: Sie sind am Ende. Aber noch einmal muss ihr Auftritt beginnen, bevor das Komiker-Duo sich trennen wird.

Wenige Minuten zuvor fing mit einer Kame­ra­fahrt der neue Film von Atom Egoyan an, dessen schön doppel­bö­diger Titel Where The Truth Lies – also »Wo die Wahrheit lügt«, aber auch: »Wo die Wahrheit liegt« – als Wahre Lügen wieder mal dümmer und unzu­läng­li­cher als nötig ins Deutsche übersetzt wurde. Sanft, langsam, geradezu zärtlich streicht die Kamera durch eine luxuriöse Hotel­suite. Sie tastet über die dunkel­braunen Möbel, blickt durch die Räume und bleibt im Bade­zimmer an der Wanne hängen. Als der Titel einge­blendet wird, sieht man in ihr den nackten Körper einer toten Frau liegen. Aber auch Bilder können lügen.

Zum ersten Mal hat Egoyan einen Kostüm­film gedreht. Seit Exotika und The Sweet Hereafter ist Egoyan Meister von Stoffen, die auf komplexe Weise um das Feld des Gedächtnis und der Erin­ne­rung kreisen, um die Wieder­ge­win­nung der Vergan­gen­heit und um das Weiter­leben nach einem Verlust. Auch eine Zeitreise in die Goldene Zeit der Fernseh-Unter­hal­tung zwischen den späten 50er und den frühen 70er-Jahren ändert nichts daran, dass Where The Truth Lies in diesem Sinne ein typischer Egoyan-Film geworden ist, in seinen verschie­denen Erzäh­le­benen und Zeit­sprüngen so laby­rin­thisch verschach­telt und hinreißend unüber­sicht­lich wie Herkunft und Fami­li­en­ge­schichte des von ägyp­ti­schen Armeniern abstam­menden Kanadiers. Und einmal mehr erzählt er seine Geschichte rekon­struktiv, von ihrem Ende her.

Identität, und die Frage, was die Wahrheit eines Lebens ausmacht, sind Egoyans großes Thema. Diesmal geht es um das Geheimnis hinter der Karriere und der über­ra­schenden Trennung eines Erfolgs­duos von Standup-Comedians. Das offen­sicht­liche Vorbild für Lanny und Vince ist das Duo Martin & Lewis, die gemein­samen Auftritte von Dean Martin und Jerry Lewis zuerst in Nacht­klubs, dann zwischen 1949 und 1953 in Radio­shows, schließ­lich bis zu ihrer abrupten und für Fans über­ra­schenden Trennung 1956 im Fernsehen. Schon Egoyans Vorlage, Rupert Holmes' 2003 veröf­fent­lichte Krimi­nal­ge­schichte, spielt mit dem Bezug zu diesen realen Vorbil­dern und den kultur­his­to­ri­schen Subtexten ihrer Auftritte. Denn wie die Bühnen­fi­guren Martin und Lewis kann man auch Lanny und Vince als eine gemein­same, in zwei öffent­liche Personas gespal­tene Persön­lich­keit begreifen: Eine freu­dia­ni­sche Zwei­tei­lung aus gesittet-höflichem, rational-zivi­li­siertem Ich und einem aggressiv-impul­sivem Es, das geheime Wünsche und Ängste, die schwarzen Seiten des Ichs zur Sprache bringt – eine Komik-Kombi­na­tion, die offenbar ins Herz des Zeit­geists der Nach­kriegsära traf. Egoyan bringt die Dynamik dieser Facette des klas­si­schen Hollywood auf die Leinwand.

Vince und Lanny (hervor­ra­gend und schreck­lich abgründig gespielt von Kevin Bacon und Colin Firth) entpuppen sich als Zyniker, voller Bruta­lität, innerlich leer und doch zugleich tiefer verwundet, als zunächst zu ahnen ist. »Having to be a nice guy is the toughest thing in the world if you're not.« sagt Lanny. Ihre Show war wie gesagt schon lange verlogen. Hinter den Kulissen gab es nur drei Formen der Bezie­hungen zu ihren Fans: Sie schliefen mit ihnen, schlugen sie zusammen, und in jedem Fall beuteten sie sie aus. Irgend­wann fand man einst die nackte Leiche einer jungen Frau im Bad der Hotel­suite des Duos. Nichts schienen beide mit diesem Fund zu tun zu haben, doch die Wahrheit liegt hinter den Spiegeln: Wie einst Alice durch das Kanin­chen­loch reist die junge Jour­na­listin Karen ins Wunder­land des Show­busi­ness, entdeckt allerlei merk­wür­dige Kreaturen und kommt dem Geschehen in jener verhäng­nis­vollen Nacht schließ­lich auf die Spur; sie entdeckt Sex und Crime, Verfüh­rung und Gewalt, die unter der Ober­fläche des Showbiz liegen.

Where The Truth Lies ist eine Detek­tiv­ge­schichte zwischen Sein und Schein, verrät­selt und kalei­do­sko­pisch wie The Maltese Falcon. Überhaupt erinnert die Geschichte an einen Film Noir, zugleich ist sie weniger kühl und reduziert, lebt vielmehr vom heute nost­al­gi­schen bigger-than-live-Touch eines Melodrams aus den späten 50ern. Es ist eine doppelt künst­liche Welt, die Egoyan entwirft – nicht allein, weil es sich um Show­künstler handelt, sondern auch, weil es sich bei den Personen mindes­tens ebenso sehr um künst­liche Figuren, wie um reale Charak­tere handelt. Kein Zufall, dass sich Karen und die tote Maureen nicht nur äußerlich ähneln, nicht nur beide Jour­na­lis­tinnen sind, auch ihr Nachname ähnelt sich: O’Connor und O’Flaherty.

Die 25jährige Alison Lohman (man kennt sie aus White Oleander) unter­mauert mit diesem Auftritt ihren Ruf als einer der zukünf­tigen großen Stars am Film­himmel – die von ihr gespielte Karen ist in aller Zerbrech­lich­keit tapfer und letztlich von hart­nä­ckigem Selbst­be­wusst­sein; eine, die den Blick ihrer Umgebung aushält und lange zurück­guckt. Von fern erinnert auch sie an blonde Filmstars der späten 40er, frühen 50er, an Rita Hayworth, an Veronica Lake und an andere unter den nur vermeint­li­chen Femmes Fatales jener Zeit – und ist doch auch ein Hippie-Girl der frühen 70er.

Das Show­busi­ness, hinter dessen Kulissen hier geblickt wird, ist auch das des Kinos, Where The Truth Lies ist vor allem ein Spiel mit seinen Bild-Erin­ne­rungen: In einer Präzision und einem Glamour, der in den letzten Jahren nur mit David Lynch Mulhol­land Drive vergleichbar ist, bringt Egoyan alte Kino-Atmo­s­phären wieder zum Leben, lässt Licht, Farben und Bewe­gungen wieder­auf­er­stehen, und webt somit ein Pastiche-Tableau aus Tech­ni­color und eigenen Erin­ne­rungen, das sich mit denen des Zuschauers verknüpft. Irri­tie­rend unwirk­lich, wie eine Kulisse aus Symbolen und Gedanken, wie ein Reich der Zeichen eben sind beide Zeit­ebenen, in denen der Film spielt, gestaltet.

Erinnert die Erzähl­form auch an die bekannte Struktur aus Rashomon – die gleiche Geschichte wird aus unter­schied­li­chen Zeugen-Perspek­tiven erzählt, und ändert ein ums andere Mal ihre Gestalt, sind es doch drei andere, jeweils wie Lynchs Werk von einem psycho­ana­ly­tisch sensiblen Blick geprägte Filme, die in den Sinn kommen: Auf Citizen Kane wird in Form eines geheim­nis­vollen Manu­skripts, das Karen nur unter bestimmten Bedin­gungen lesen darf, offen ange­spielt. Eher visuell und atmo­s­phä­risch sind die Bezüge auf Hitch­cocks Vertigo und Polanskis Paranoia-Neo-Noir Chinatown. Wir durch eine Brille scheint Egoyan durch diese Filme auf die jewei­ligen Epochen – späte 50er, frühe 70er – zu blicken.

Das ist höchst vergnüg­lich und hand­werk­lich perfekt insze­niert. Where The Truth Lies ist schon jetzt einer der besten Filme des laufenden Kino­jahres; ein virtuoses Spiel mit Einstel­lungen, Musik und Genre­zi­taten verschie­dener Epochen. Und am Ende scheint es immerhin so etwas wie Erlösung zu geben, entsteigt Alice dem Rabbi­t­hole. Um Aufklä­rung im herkömm­li­chen Sinn einer trost­spen­denden Enthül­lung von Wahrheit geht es trotzdem aber nicht. Egoyan bricht zwar nicht mit dem Genre­muster der Enthül­lung des Täters, doch zeigt er, dass es nicht viel hilft, wenn am Ende der Mörder gefunden ist. Sein Thema ist weniger die Antwort auf die Frage, wo die Wahrheit liegt, sondern eine Betrach­tung über die Schmerzen, die auf die Aufde­ckung der Wahrheit folgen können.

Was an Egoyan überdies gefällt, ist dass er in seinen Filmen ebenso wie sein kana­di­scher Landsmann Cronen­berg jenen, das Hollywood-Kino domi­nie­renden, puri­ta­ni­schen Konsens aus Gewalt­lust und Sextabu durch­bricht, während er mit ihm spielt. In diesem Konsens, der sogar Wagnisse wie Sin City prägt, ist jede Gewalt zulässig und darf gezeigt werden, Sex hingegen ist verboten, und noch der Busen der Haupt­dar­stel­lerin ein Tabu. Bei Egoyan ist das anders, jeden­falls doppel­bö­diger – wie alle seine Filme steht auch dieser ande­rer­seits dem Puri­ta­nismus eines Kunst­wil­lens fern, der »Konzen­tra­tion« einfor­dert und alles vermeint­lich Voyeu­ris­ti­sche als Ablenkung vom ästhe­ti­schen Gottes­dienst begreift. Seine atem­be­rau­bend irrlich­ternden Bilder sind nie kalt, und lassen dem Betrachter die Welt um ihn immer weniger geheuer sein. Die Charak­ter­masken geraten ins Rutschen, die Rollen passen nicht ganz, die Show ist verlogen – und die Wahrheit liegt im Auge der Kamera.