Molière auf dem Fahrrad

Alceste à bicyclette

Frankreich 2012 · 105 min. · FSK: ab 0
Regie: Philippe Le Guay
Drehbuch:
Kamera: Jean-Claude Larrieu
Darsteller: Fabrice Luchini, Lambert Wilson, Maya Sansa, Camille Japy, Ged Marlon u.a.
Wer ist der bessere Menschenfeind?

Auf eine Lache Blut

Eine kleine Anekdote vorab. Es ist Pres­se­vor­füh­rung. Ein Kollege wünscht sich die Synchron­fas­sung von Molière auf dem Fahrrad, obwohl OmU ange­kün­digt war. Die Roma­nistin in mir droht umgehend damit zu gehen, wenn beschlossen würde, den Film auf deutsch zu zeigen. Daraufhin der Kollege: »Können Sie kein deutsch?« Daraufhin ich leider nicht: »Können Sie nicht lesen?«

Jetzt weiß ich: Ein kleiner verbaler Schlag­ab­tausch, der durchaus auch in Hand­greif­lich­keit hätte münden dürfen, wäre das perfekte Vorspiel für den Film gewesen, und ich bedauere zutiefst, meinem Kollegen kein patziges Kontra gegeben zu haben.

Denn Molière auf dem Fahrrad ist das Duell zweier Schlag­fer­tiger, ausge­tragen von den Schau­spiel­größen Fabrice Luchini und Lambert Wilson. Jede Szene kippt hier vom freund­li­chen Umgarnen in bösartige Verlet­zungen, von heiterer Fröh­lich­keit in tief­schwarze Seelen­gal­lig­keit. Hier wird der Egotrip und die Eitelkeit zweier Schau­spieler auf die Spitze getrieben, bis tatsäch­lich Blut fließt. Lambert Wilson ist der halb­scha­rige, aber äußert erfolg­reiche und zu großem Ruhm gelangte Soap-Darsteller Gauthier Valence. Sein Gegenüber, Fabrice Luchini, ist Serge Tanneur, ehemals eine wahre Rampensau auf den großen Bühnen Frank­reichs, der die Thea­ter­ge­meinde nieder­knien ließ, sich nach einer großen Enttäu­schung von den Menschen abgewandt hat und nun einsam und verlot­tert auf der Ile de Ré haust. Tanneur versucht noch einmal, auch Valence in die Knie zu zwingen. Denn er will in jedem Fall die Haupt­rolle bean­spru­chen in dem Stück, das dieser ihm anbietet, um ihn in die Thea­ter­ge­meinde zurück­zu­holen: Er will Alceste, der Menschen­feind, sein.

In furios performten Dialogen, die das ganze Reper­toire rheto­ri­scher Tricks und mensch­li­cher Täuschungen auffährt, vom Überreden übers Schmollen zum Drohen und Schreien, um dann plöt­z­li­ches Desin­ter­esse zu mimen, fechten die Schau­spieler aus, wer den besseren Menschen­feind abgeben würde. Dabei geht es natürlich auch um das große Ganze: die Einstel­lung zum Leben, zu den Menschen, zur Kunst. Was die Rolle des Alceste anbelangt, einigen sie sich schließ­lich darauf, sich diese zu teilen und immer abwech­selnd zu spielen (einmal steht der eine auf der Bühne, am nächsten Abend der andere), eine Einigung unter dick­schä­de­ligen Diven.

Wer der bessere Menschen­feind sei: der Humor des Films ist ziemlich perfide. Im ersten Moment ein Schen­kel­klopfer, offenbart er im zweiten Moment bösartige Gemein­heiten, subkutane Anspie­lungen, die sich in die Seele der Schau­spieler bohren und ihr Lachen verstummen lässt. Und wie sein Humor ist auch der Film insgesamt perfider, als er im ersten, harmlosen Moment aussehen mag.
Alceste à bicy­clette, so heißt der Film im Original. »A bicy­clette« (»auf dem Fahrrad«), das ist die Moder­ni­sie­rung der Fort­be­we­gung »à cheval« (»auf dem Pferd«). Davon abge­leitet existiert ein fran­zö­si­scher Ausdruck, der vom Pferd auf das Abstrakte kommt: Wenn man zu Pferde sitzt, liegt ein Bein auf der einen, das andere auf der anderen Seite des Pfer­de­bau­ches, man befindet sich somit gewis­ser­maßen auf zwei Seiten zugleich. »Une expres­sion à cheval«, das ist ein Ausdruck, der zwei Bedeu­tungen gleichz­eitig meint. Und hier nun also gerät Alceste, mit Wilson und Luchini, in eben jene Sprei­z­stel­lung, in der die Wörter und die Darstel­lung in das unauf­halt­same und unent­scheid­bare Spiel der Zeichen gerät, von dem Derrida schon sprach und das hier komö­di­an­tisch durch­startet.

Ganz offen­sicht­lich ist Molière auf dem Fahrrad ein durch und durch fran­zö­si­scher Film: Das Thea­ter­stück »Le Misan­trope« können in Frank­reich vermut­lich schon die Grund­schüler mitspre­chen, und die Ile de Ré ist Urlaubs­insel Nr. 1 für die Bour­geoisen, die mit kulti­vierten Sonnen- und Strand­er­leb­nisse von Paris ausspannen wollen. (Schön aber, dass es im Film permanent regnet und ein scheuß­li­cher Wind über die Insel pfeift.) Lambert Wilson kennt man u.a. von den Komödien Alain Resnais’ (Pas sur la bouche, Herzen, Ihr werdet euch noch wundern), Fabrice Luchini, den man zuletzt in François Ozons In ihrem Haus als voyeu­ris­ti­schen Deutsch­lehrer erleben konnte, wurde für seine Bühnen­dar­stel­lungen mit mehreren »Molières«, dem wich­tigsten fran­zö­si­schen Thea­ter­preis, ausgez­eichnet. Anspie­lungen ohne Ende also, die man im besten Fall alle mitdenken sollte, um größt­mög­li­chen Spaß an den Sprach- und Bedeu­tungs-Verdre­hungen und am Schau­spieler-Duell zu haben.

Und, nebenbei bemerkt, spiegelt die Film­hand­lung natürlich das Stück, um das es geht, wider, dies ganz beiläufig: der »Menschen­feind« wird von einem Freund besucht, der ihn wieder in das Leben zurück­holen will. Und so weiter und so fort. Damen spielen wie in der Vorlage auch kleine Rollen, und zwar schön anzüg­liche, eine als angehende Darstel­lerin von Porno-Filmen, was große Bewun­de­rung bei den Männern erntet (»stell dir vor, eine doppelte Pene­tra­tion um 8 Uhr morgens!«) und als verlas­sene Schöne, die schließ­lich von Wilson getröstet wird.

Sehr zugute halten muss man Molière auf dem Fahrrad schließ­lich auch, dass der Film, anders als so viele fran­zö­si­sche Komödien, von Will­kommen bei den Sch'tis bis Madame empfiehlt sich, nicht mit der großen Verbrü­de­rung, mit dem Fest auf dem Land oder in allge­meiner Heiter­keit endet. Molière auf dem Fahrrad zieht ein schwar­zgal­liges Ende vor, wie es sich für den Melan­cho­liker Alceste gehört.