Deutschland 2014 · 96 min. · FSK: ab 12 Regie: Christian Bach Drehbuch: Christian Bach Kamera: Hans Fromm Darsteller: Tobias Moretti, Jonas Nay, Stephanie Japp, Hanna Plaß, Ella Frey u.a. |
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Eine sorgsam aufgebaute Versuchsanordnung... |
Hans Dallinger (herausragend: Tobias Moretti) ist ein gestandener Mann und ein Familienvater. Einst hatte er mit einem Partner ein äußerst erfolgreiches Architekturbüro betrieben. Doch irgendwann war dies aufgrund seiner Krankheit nicht mehr möglich. Dabei ist Hans geistig im allgemeinen voll auf der Höhe. Nur wenn er einen seiner Schübe bekommt, merkt man, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Hans ist schizophren.
Zum Leidwesen seiner Familie ist es jetzt wieder so weit. Hans steht innerlich stark unter Druck. Erstmals seit langer Zeit nimmt er als Architekt an einem Wettbewerb teil. Die Situation droht zusehends zu entgleiten, was auch Hans' Sohn Simon (Jonas Nay) stark mitnimmt. Der steht an der Schwelle, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Doch Simon kann sich nicht von seiner Familie lösen, da er sich für seinen Vater und für den Schutz seiner Mutter (Stephanie Japp) und seiner kleinen Schwester Maja (Ella Frey) verantwortlich fühlt. Unter dieser Situation leidet auch Simons aufkeimende Beziehung zu Verena (Hanna Plass), der er nicht von der Krankheit seines Vaters erzählen mag.
Für sein Spielfilmdebüt hat Autor und Regisseur Christian Bach ein ausgezeichnetes Schauspielensemble versammelt. Hirngespinster lebt insbesondere durch die differenzierte und intensive Darstellung des schizophrenen Vaters durch Tobias Moretti (Das finstere Tal) und durch die gelungene Veranschaulichung der durch diese Krankheit verkomplizierten familiären Dynamik. Hierbei ist „Dynamik“ eigentlich kein treffender Ausdruck. Vielmehr herrscht ein allgemeiner lähmender Stillstand. Dieser zeigt sich vor allem in der Figur von Hans' Sohn Simon, der von dem jungen Mimen Jonas Nay sehr überzeugend verkörpert wird. Ihn plagt die Frage, ob aufgrund seiner erblichen Vorbelastung die Krankheit des Vaters irgendwann auch bei ihm ausbrechen wird.
Der junge Filmemacher Christian Bach nähert sich seinem heiklen Thema und seinen Charakteren auf sehr differenzierte und respektvolle Weise. Doch immer wieder entpuppt sich diese Zurückhaltung als eine Form der Mutlosigkeit. So erregt Hans erstmals dadurch das Aufsehen der Nachbarn, dass er deren neue Parabolantenne demoliert und anschließend alles abstreitet. Hans gehört zu den Paranoikern, die sich von allen möglichen Strahlen ausspioniert fühlen. Dieser Wahn wird noch weit skurrilere Blüten treiben. Als äußeres Anzeichen seiner Erkrankung ist diese Art des Verfolgungswahns jedoch problematisch. Schließlich gibt es zahlreiche Menschen, die diesen Wahn teilen, davon abgesehen jedoch als völlig gesund gelten. Somit wählt Bach ausgerechnet ein Bild für Hans' Schizophrenie, dass gut bekannt, aber nicht für die Krankheit spezifisch ist.
Das wäre weniger tragisch, wenn es weitere Arten gäbe, auf die sich die schizophrenen Schübe des Protagonisten nach außen zeigten. Aber das besondere an Hans' Charakter besteht gerade darin, dass dieser sich seiner Krankheit zwar selbst bewusst ist, diese jedoch zugleich mit allen Kräften verdrängt und unterdrückt. So spiegelt sich Hans' innerer Kampf zumeist nur in seinen Augen. Tobias Moretti ist es zu verdanken, dass dies weitestgehend funktioniert. Trotzdem vermittelt Hirngespinster den Eindruck, dass der Filmemacher ausgerechnet den jungen, gehemmten Simon als Identifikationsfigur gewählt hat, weil dieser auch für ihn persönlich ein erhöhtes Identifikationspotential birgt.
So wirkt der Film ein wenig wie eine sorgsam aufgebaute Versuchsanordnung, bei der das eigentlich spannende Experiment immer wieder im letzten Augenblick abgebrochen wird. Dass Schizophrenie eine sehr ernsthafte Krankheit ist, die sich auf wirklich drastische Weise auswirken haben kann, hatte bereits 2001 Hans Weingartner sehr eindringlich mit Das weiße Rauschen gezeigt. Weingartners Debüt zeichnet genau die Furchtlosigkeit im Umgang mit seinem Thema aus, die Christian Bach fehlt.
Wenn man den Blick über den Tellerrand des deutschen Kinos hinaus weitet, zeigt sich, dass sich bereits vor Jahrzehnten Regisseure auf sehr radikale und überzeugende Weise mit diesem Thema auseinandergesetzt haben. 1993 entwarf Lodge Kerrigan in Clean Shaven ein verstörendes Porträt eines Schizophrenen, bei dem der Zuschauer direkt in die Wahrnehmung des schwer gestörten Protagonisten eintaucht. Auch dies war ein Spielfilmdebüt.
Noch einmal zwanzig Jahre früher zeigte der Vater des amerikanischen Independent-Kinos, John Cassavetes, in Eine Frau unter Einfluß (1974) seine eigene Frau Gena Rowland in der Rolle einer verrückten Mutter und Ehefrau. Unter dem Einfluss ihrer (nicht näher diagnostizierten) offensichtlichen Geisteskrankheit treibt diese Frau so manche skurrilen Späße und ist gar nicht mehr im üblichen Sinne gesellschaftsfähig. Trotzdem findet die Familie einen Weg damit umzugehen. Genau hierin liegt die überraschend optimistische und lebensbejahende Botschaft des Films.
Christian Bach ist in Hirngespinster wie sein Protagonist Simon so sehr darauf bedacht, bloß keinen Fehler zu machen, dass er genau deshalb hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Doch sie beide stehen erst am Anfang ihres Weges...