08.05.2014

Die Unterwelt von Ober­hausen

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
Hauptpreis des Internationalen Wettbewerbs für Gangster Backstage

60 Jahre und kein bisschen leise: Die Internationalen Kurzfilmtage feierten Geburtstag

Von Rüdiger Suchsland

Mit dem Staunen, so heißt es, beginnt das Denken. Aber nicht nur das – auch das Kino wird erst richtig inter­es­sant, wenn man staunen kann. Wenn man in der letzten Woche die berühmten Inter­na­tio­nalen Kurz­film­tage in der tradi­ti­ons­rei­chen Zechen- und Arbei­ter­stadt Ober­hausen besuchte, dann traf man auf viele Gründe, sich produktiv zu wundern, zu staunen und nach­zu­denken.

+ + +

Es war 1954, Deutsch­land hatte gerade sein Fußball-Welt­meis­ter­wunder von Bern erlebt, da fanden die West­deut­schen Kurz­film­tage erstmals in Ober­hausen statt. Schnell mauserte sich die Veran­stal­tung zu einer schau mit höchstem Renommee – und heute ist Ober­hausen das bedeu­tendste Kurz­film­fes­tival der Welt, weit über Kino- und Film­kreise hinaus auch bekannt in der Kunst-, Musik- und Wissen­schafts­szene.
Denn längst, das merkt man bei einem Kurz­film­fes­tival besser als bei einem Festival für Langfilme, verlässt der Film den zu eng gewor­denen und immer weiter schrump­fenden Raum des Kinos, und hat Einzug gehalten ins Internet, ins Museum, in Semi­nar­räume und Hörsäle der Univer­sitäten. Und gerade der Kurzfilm, also Filme zwischen wenigen Sekunden und mindes­tens 45 Minuten, ist viel flexibler als das starre 90-Minu­ten­format der Spiel­filme.

+ + +

Von Anfang an bewies Ober­hausen in seiner Geschichte eine sichere und mutige Hand bei der Auswahl. Gleich im ersten Jahr spielte man Alain Resnais umstrit­tenen Holocaust-Klassiker Nacht und Nebel, gegen den die Bonner Regierung gerade wenige Wochen zuvor noch in Cannes wütend protes­tiert hatte – ein btw heute in seiner verstockten Unbe­lehr­bar­keit unvor­stell­barer Vorgang.

Aber warum eigent­lich ausge­rechnet in der Arbei­ter­stadt Ober­hausen? Genau darum! Gründer der Kurz­film­tage war seiner­zeit Hilmar Hoffmann, als Kultur­po­li­tiker ein Revo­lu­ti­onär der bundes­deut­schen Kultur­po­litik. Kultur­po­litik steht für Hoffmann unter dem Motto »Kultur für alle!« Und das ließ sich an diesem Ort besonders gut prak­ti­zieren. Nicht um elitäre Veran­stal­tungen gehe es bei Kultur, sondern um Bildung und sozialen Kitt.

In Ober­hausen erzählte die 88-jährige lebende Legende jetzt noch einmal die besten Anekdoten seiner Amtszeit als Direktor der Kurz­film­tage und Kultur­de­zer­nent bis 1970 – eine Kabarett-reife Veran­stal­tung, bei der Hoffmann immer wieder für fassungs­loses Staunen wie für Lach­salven unter dem jungen Ober­hau­sener Publikum sorgte, etwa bei seiner Schil­de­rung der Ereig­nisse um den Skan­dal­film des Unru­he­jahres 1968, Helmuth Costards Besonders wertvoll.

+ + +

Die Eröffnung war wohl­aus­ge­wogen, würdig und warm­herzig. Nur der Vortrags­stil der Kurz­ein­lagen von Herbert Fritsch war unpassend, denn Fritsch las Briefe des CDU-Innen­mi­nis­ters Höcherl wie Texte von Handke in der gleichen unpas­senden Diktion, die am ehesten noch an Reden von Nazis erin­nerten, statt sie zu ironi­sieren, oder sanft der eigenen Lächer­lich­keit preis­zu­geben.
Einige Glanz­stücke der alten Programme wurden zur Eröffnung gezeigt, und neben den kuriosen Brief­aus­zügen gab es Grußworte von Regis­seuren wie Werner Herzog und Klaus Lemke, dem unga­ri­schen Oscar­ge­winner Istvan Szabo und George Lucas. Sie alle hatten, wie so viele andere, wie Polanski und Godard, Scorsese und Cate Shortland ihre Karrieren an der Talent­schmiede Kurz­film­tage begründet.

+ + +

Einer der inter­es­san­testen Sätze kam von NRW-Minis­ter­prä­si­dentin Kraft: »Den kommer­ziell erfolg­rei­chen Film gäbe es nicht ohne breite künst­le­ri­sche Basis.«
Hinter­sinnig, denn die Funk­ti­onäre argu­men­tieren gern genau umgekehrt.

+ + +

Man ist hier bis heute gewollt Anti-Esta­blish­ment und ein Bollwerk gegen die »Diktatur des Mehr­heits­ge­schmacks« wie es der heutige Leiter Lars Henrik Gass in seiner Rede nannte. »Wer jedem gefallen will, sieht so aus, wie deutsches Fernsehen zur prime time.«
Das Festival gilt der Film­wirt­schaft als Kunst und der Kunstwelt als Film.
In Ober­hausen laufen nach wie vor nur ästhe­tisch besondere und gute Filme – aber aller Art, aller Längen vom abstrakten Expe­ri­men­tal­film bis zur Doku­men­ta­tion. Im Programm wie in den beglei­tenden hoch­in­ter­es­santen Diskus­si­ons­ver­an­stal­tungen bemüht man sich auch immer besonders um die Frage der Zukunft des Mediums und des Kinos als Raum einma­liger Möglich­keiten und Erfah­rungen, als Kultur­technik. »Jetzt entscheidet sich, was das Kino uns als Kultur­technik wert ist.«

+ + +

In diesem Jahr spürt die Retro­spek­tive darum nicht in einer Nabel­schau der eigenen Geschichte nach, sondern dem nur auf den ersten Blick absurden Thema des Films ohne Film, dem, was im Kino jenseits des Films und digitaler Projek­tion möglich ist: Exercises in cinematic reduction. Da begegnete man dann einer Projek­ti­ons­per­for­mance von Vally Export, einem Panorama aus dem 19. Jahr­hun­dert oder dem Film­re­gis­seur Walter Ruttmann (Berlin – Die Symphonie der Großstadt): Weekend heißt Ruttmanns »Film ohne Bild« aus dem Jahr 1930. Es war ein rein tech­ni­sches Expe­ri­ment für den ganz neuen Filmton, lief aber bald deutsch­land­weit im Radio als Hörspiel – und funk­tio­niert heute als Beispiel klas­si­scher avant­gar­dis­ti­scher Monta­ge­kunst, der hyper­mo­dernen Zusam­men­fü­gung des Unver­ein­baren.

+ + +

Eine Leinwand blieb weiß und das Publikum sollte mal wieder »Stille aushalten«. Dann flogen Papier­flieger und es durfte kindisch sein. Ach...

+ + +

Im Ergebnis war die Retro­spek­tive unbe­frie­di­gend, oft bemüht und nicht immer zwingend, auch da die Gegenwart ausge­klam­mert blieb. Alles befand sich auf einer abschüs­sigen Ebene. Irgendwie sollte es um Film gehen, irgendwie kann alles ein Film sein.
In jedem Fall war fast alles viel zu lang, und was in 2 oder 5 Minuten einen Effekt hat, nutzt sich in zehn oder 20 ab.
Vor allem aber hebelte die Schau ihre eigenen Grund­lagen aus. Denn das Expanded Cinema und anderes hier war ursprüng­lich als Spiel und Bruch mit Zuschau­e­r­er­war­tungen gedacht. Wenn aber die Zuschauer den Bruch erwarten, hätte man ihren Erwar­tungen eher gebrochen, wenn er ausge­blieben wäre.

Warum hat das Festival sich nicht getraut, die Reihe innerhalb des anderen Programms einzu­betten. Dann wäre das Uner­war­tete tatsäch­lich ein wenig uner­wartet gekommen.

Am besten war die Location: Europa hieß das Kino, wo sich heute bezeich­nen­der­weise das Trans­at­lantik befindet, nicht nur unser Lieb­lings­lokal mit seinen Pommes­schnit­zeln und dem Wiener dazu und der typischen Ober­hau­sener Jägersoße drauf...
Schon vor zwei Jahren zeigte uns der Wirt, was jetzt auch die anderen sehen durften: Das leer­ste­hende, ganz im 50er-Jahre-Stil gebaute Keller­kino. Heute nur noch Probe­bühne des Stadt­thea­ters, feuer­po­li­zei­lich für 88 Besucher zuge­lassen, weshalb wir das Programm mit einem Feuer­wehr­mann sahen, den wir leider am Ende nicht gefragt haben, wie er den Schmarrn fand. Das wars nämlich.

+ + +

Zum ersten Mal gab es ein »Seminar« – nich­töf­fent­lich, für die 30 Teil­nehmer die Gele­gen­heit eines privi­le­gierten Blicks auf das Festival. Nach allem, was man während­dessen von Teil­neh­mern hörte, eine sehr gute, überaus gelungene Veran­stal­tung. erst das öffent­liche »Podium« am Schluss rela­ti­vierte diesen Eindruck. Da war alles extrem ameri­ka­ni­siert in Ausdruck und Denken... Man sah lauter weiße bürger­liche Studen­tinnen, die gut und akzent­frei ameri­ka­ni­sches Englisch reden können, und etwas sehr beflissen im Jargon herum­turnten: »How do we look at films now... this insti­tu­tional tradition, this is not us.«
Oh gottogott, so wird das nichts mit der Revo­lu­tion.

+ + +

Die Retro­spek­tiven und Podien wurden in den letzten zwei Jahren schwächer, ist mein Eindruck. Die Themen verlocken zu apoka­lyp­ti­schen Diskus­sionen.
Ausge­rechnet das Podium zu Film without Film war aber so super, dass wir darüber bald was Eigenes schreiben.

+ + +

Wenn es unter 440 Kurz­filmen zwischen wenigen Sekunden und rund 45 Minuten Länge aus 66 Ländern überhaupt so etwas wie fest­stell­bare Tendenzen und Gemein­sam­keiten gibt, dann ist das neben einer ange­nehmen formalen Unauf­ge­regt­heit und der völligen Abwe­sen­heit eines wieder mal neuen tech­ni­schen Hypes, die Tatsache, dass in vielen Filmen das Vertraute fremd wird und das Fremde vertraut.

+ + +

Das galt für den deutschen Wett­be­werb. Dort zeigte die in Bayern geborene Berli­nerin Lola Randl, deren dritter Langfilm gerade im Kino läuft, Land­schwärmer, den Auftakt einer Kurzfilm-Serie über die neue Land­flucht der Städter, genauer gesagt der neob­ür­ger­li­chen Ökohipster aus den Berliner Bionade-Vierteln. Mit absurdem Humor karikiert Randl treffend Männer, die das Weben lernen, und Frauen, die gesund kochen – alle finden sich selbst und verlieren dabei die Realität aus den Augen.

Wenn der Sommer vorbe ist, geht es zurück in die Stadt – dieser Aufbruch ins Vertraute inspi­rierte die in Hamburg studie­rende Marlene Denningmann zu einem der mutigsten, span­nendsten Expe­ri­mente in Ober­hausen: Schon der Titel »Eine Liebes­er­klä­rung wird im entschei­denden Moment Wunder wirken« signa­li­siert die Sprö­dig­keit dieses Versuchs. Denningmann macht es dem Zuschauer nicht leichter, als nötig, aber gerade ihr kompro­miss­loser Mut, ihre ästhe­ti­sche Unver­fro­ren­heit macht diesen sperrig-faszi­nie­renden Film zum stärksten Beitrag im deutschen Wett­be­werb.

+ + +

Auch ein Film der Inter­na­tio­nalen Konkur­renz spielte im Berliner Künst­ler­mi­lieu – der in der Haupt­stadt lebende Israeli Lior Shamritz erzählt in L’amour sauvage zunächst von einem Paar, das sich nach Jahren der Trennung für einen Tag wieder trifft – man ist sehr vertraut begegnet alten Freunden und Orten. Die Zeit hat ihre Spuren hinter­lassen. Erzählt aus der Perspek­tive des Mannes wandelt sich dann die Handlung ins ein alptraum­haftes Szenario, das eindring­lich die Bildwelt tota­litären Terrors, von Genozid und Shoah beschwört – alles könnte nur ein böser Traum sein, doch ebenso war viel­leicht das Wieder­se­hens­glück nur ein kurzer letzter Traum vor dem Ende. L’amour sauvage ist ein kalei­do­sko­pi­scher Film wie ein Kipp-Bild, mit einem Erzähler, dem man nicht trauen kann.

+ + +

Völlig verschieden war Quality Time vom Israeli Doron Levin: Er filmt sich selbst, seine Schwes­tern und seinen Vater beim Besuch am Grab des toten Bruders, das der Vater zuletzt vor 30 Jahren, die Schwes­tern noch nie gesehen haben. Eine bewegende, uner­wartet gut gelaunte Medi­ta­tion über das Erinnern und das Vergessen. Über den Verlust.

+ + +

Ganz anders unver­traut ist Südafrika. Das scheinbar glamouröse Leben der Gangster faszi­niert auch dort wie an vielen Orten die Kids der Unter­schicht: Mit der Knarre glauben sie an Geld und Macht zu kommen, und finden oft nur den Tod. Teboho Edkins sprach in seinem Doku­men­tar­film Gangster Backstage mit einigen von ihnen – und trifft auf viel Angst und Resi­gna­tion. Ein span­nendes Milieu-Portrait.

Wie wenig wir immer noch über Südafrika und seine Einzig­ar­tig­keit wissen, zeigte die Schau von Aryan Kaganoff, bei dem Filme­ma­chen zur Praxis des Wider­standes wird. Kaganoff macht überaus enga­giertes, poli­ti­sches Kino, das den Atem stocken lässt. Denn hier sieht man den brutalen Alltag einer immer noch rassis­ti­schen Gesell­schaft, in der die Befreiung keine war, und die alten Herrscher in besserer Tarnung auch die neuen sind. Eine Erfahrung, die nicht nur den Deutschen der Nach­kriegs­zeit vertraut ist.

Und man sieht den Westen: hilflos und zynisch, in der Rolle des Auftrag­ge­bers von nettem Kunstkino, das sich plötzlich im Fall von Kaganoff als sperrig erweist.

+ + +

Und dann war da noch der deutsche Inde­pen­dent schlechthin, der innerlich ganz junge deutsche Godard Klaus Lemke, der einen Kurzfilm im Musik­vi­deo­pro­gramm laufen hatte. Im Internet kommen­tiert Lemke seinen Ober­hausen-Besuch mit schnoddrig-einfalls­rei­chen Kurz­filmen.

+ + +

Bei den Inter­na­tio­nalen Kurz­film­tagen von Ober­hausen konnte man das Staunen wieder lernen. Zwischen Lemke und Ruttmann erweist sich Ober­hausen auch mit 60 Jahren als das jüngste, frischeste, wachste deutsche Film­fes­tival – in Stärken wie Schwächen ein Spiegel der Geschichte der Bundes­re­pu­blik und ein Seis­mo­graph unseres Zeit­al­ters.