26.06.2025

42. Filmfest München: Kurzkritiken

Filmfest München 2025

Kurz und gut: Spots auf Filme aus allen Sektionen (in alphabetischer Reihenfolge)

Von artechock-Redaktion

In Koope­ra­tion mit der LMU München.

#SCHWARZESCHAFE (DE 2025 · R: Oliver Rihs · Neues Deutsches Kino)

Wir sind alle Loser. Oliver Rihs durch­ge­knallte Komödie versucht alle Grenzen zu sprengen und die Erwar­tungs­hal­tungen jeglicher Art gleich mit dazu. Dabei kommt dann ein Neuköllner Clan-Chef raus, der zu einem wilden Grünen mutiert oder zwei Frauen, die einfach mal die Sau raus lassen wollen. Rihs schneidet diese abstrusen Berlin-Geschichten etwas erratisch zusammen, aber immerhin gibt es einen heißen Sommer, der dem drama­tur­gi­schen Chaos Sinn verleiht. Kein Kalauer ist zu blöd, ihn nicht dann doch zu verheizen und das Ganze wird durch fettestes Over­ac­ting noch einmal verstärkt. Dadurch verlieren einige der starken Geschichten wie die des Clan-Chefs zwar etwas an Fahrt und ist es bei all dem grotesken, tief­schwarzen Humor dann auch selten wirklich komisch. Aber irgendwie ist die Moral von der Geschicht dann einfach zu nett (und der Abschluss­song einfach zu fantas­tisch), um wirklich genervt zu sein: Loser aller Länder, vereinigt euch! – Axel Timo Purr

ABEL (KAZ 2024 · R: Elzat Eskendir · Inter­na­tional Inde­pend­ents)

Wenn die alte Ordnung zerbricht, herrscht das Chaos, das Recht des Stärkeren. Die alte Kolchose existiert nicht mehr, die Armut grassiert, der Schaf­be­stand ist dezimiert. Die Korrup­tion erlebt eine Blütezeit. Unter diesen Umständen versucht Abel in der Wüste der kasa­chi­schen Region Almaty kurz nach dem Zerfall der Sowjet­union, das beste für seine Familie heraus­zu­schlagen. Er wohnt in der ehema­ligen Kolchose, zu deren Erfolg er zu Sowjet­zeiten maßgeb­lich beigetragen hatte. Im Gegensatz zu anderen ehema­ligen Kolcho­se­mit­glie­dern bemüht er sich um Mensch­lich­keit im Prozess des Um- und Aufbaus der Gesell­schaft; gleich­zeitig macht er sich keinerlei naive Vorstel­lungen. Die betö­renden, ruhigen, traum­haften Weiten der kasa­chi­schen Wüste sind in manchen Szenen von lauten, teils hand­greif­li­chen Ausein­an­der­set­zungen und Enge geprägt. Die Hoffnung auf eine gute Zukunft in der Heimat, ohne die Vergan­gen­heit zu vergessen, kommt ebenso zum Vorschein wie das uner­bitt­liche Streben nach brutaler Macht mancher Männer. Ein trotz allem sehr schöner Film, der sich in der Schönheit nicht verliert, sondern durch sie viele Facetten des Menschen aufzeigt. – Paula Ruppert, LMU München

AL OESTE, EN ZAPATA (CUB, ESP 2025 · R: David Bim · Wett­be­werb CineVi­sion)

Landi watet durch den kuba­ni­schen Dschungel, ein Krokodil um die Schultern. Die Kamera folgt ihm uner­bitt­lich dabei, wie er Schritt für Schritt sie Beute in seinen Unter­schlupf mitten im Urwald schleppt, keine Menschen­seele weit und breit. Der Film erzählt in schlichtem Schwarz­weiß und mit langen, oft stati­schen Einstel­lungen. Viel­leicht ist es diese Simpli­zität, die die Gescheh­nisse so beein­dru­ckend macht; aller­dings ist allein die Tatsache, dass Landi nur mit einem alten Kahn, einem Stecken und einem Seil wilde, ausge­wach­sene Krokodile fängt, beein­dru­ckend, und als Zuschauerin fragt man sich, wie unglaub­lich stark dieser Mann sein muss. Im zweiten Teil lernt man das Leben seiner Frau kennen, die sich um ihren autis­ti­schen Sohn kümmert und den Haushalt führt, auch wenn sie vor Sorgen um ihren Mann fast einzu­gehen scheint. Al oeste, en Zapata ist ein beein­dru­ckender Film über eine beein­dru­ckende Familie. – Paula Ruppert, LMU München

Gewit­terg­rollen über Zapata. Mit sicherem Schritt schiebt der Jäger sein Ruderboot durch das brusthohe Wasser des kuba­ni­schen Sumpfs. Da durch­bricht vor ihm ein Krokodil die Wasser­ober­fläche. Ausgerüstet nur mit einer Seil­schlinge nähert er sich dem Raubtier. Minu­ten­lang setzen Mann und Tier all ihre Kräfte ein in diesem fast lautlosen Kampf um Leben und Tod. Erschöpft blickt der Mann sich um – als urplötz­lich und nur für den Bruchteil einer Sekunde sein warnender Blick an der Kamera hängen bleibt. Bleib, wo du bist. Das ist kein Spielfilm – es ist eine Doku­men­ta­tion. In langen, ruhigen Sequenzen begleiten wir Landi und seine Frau Mercedes: Er jagt, sie kümmert sich um den Sohn. Plas­ti­sche Schwarz­weiß-Bilder fesseln den Blick, ohne reiße­risch oder mitleidig zu wirken: Jagd und Fami­li­en­leben packen glei­cher­maßen. – Anna Edelmann

AMERICAN SWEATSHOP (DE, USA 2025 · R: Uta Brie­se­witz · CineCoPro)

Geballte mensch­liche Grau­sam­keit — größ­ten­teils präsent durch Geräusche, die Bilder bauen sich nur in den Köpfen der Zuse­henden auf. Dies ist der Alltag für soge­nannte Cleaner, die »Erst­helfer des Internets«, wie sich Prot­ago­nistin Daisy (Lili Reinhart) scherz­haft selbst nennt. Gebunden an Ergeb­nis­quoten und Company Policy, einge­pfercht im Großraum­büro, gestützt nur von Drogen, Zynismus und laut­starken, gewalt­tä­tigen Gefühls­aus­brüchen. Sie werden bezahlt, um die Abgründe der Gesell­schaft zu beur­teilen, die sich im Internet ausbreiten. Was das mit Menschen macht, zeigt die zuneh­mende Abstump­fung der Figuren: Der Job ist auch abends bei Drinks kein Tabu. Einen Gegenpol zur Apathie findet das Publikum in der obses­siven Gewalt­spi­rale, in die Daisy fällt — und bleibt tief verstört zurück. – Anna Schell­kopf, LMU München

THE BALLAD OF WALLIS ISLAND (UK 2024 · R: James Griffiths · Spotlight)

Glück macht dumm: Sollten Bauern­re­geln gültig sein, so wie das Wetter am Sieben­schlä­fertag, nachdem sich die Qualität des kommenden Sommers misst, dann sieht es für das Filmfest München eher mau ist, zumindest wenn man das Festival nach einer alten Festi­val­be­su­cher­regel an seinem Eröff­nungs­film misst. Denn die leichte Komödie über vergan­gene Liebe und verratene Ideale auf einer einsamen irischen Insel, auf der ein Musiker von einem unter­be­lich­teten, aber reichen Fan erst gestalked und dann thera­piert wird, tut wegen ihrer liebens­werten Schrul­lig­keit und groß­ar­tigen musi­ka­li­schen Einlagen zwar gut wie eine Kopf­schmerz­ta­blette, ist aber einen Tag später schon wieder vergessen. – Axel Timo Purr

Stell dir vor, du hast viel Geld und lebst auf einer Insel: Welchen Star würdest du gerne nötigen, Zeit mit dir zu verbringen? Eigent­lich eine wunder­bare Idee, die der Brite James Griffiths hatte – sie gibt aber trotzdem wenig her. Irgend­wann fragt man sich, während man dem immerhin sehr humor­vollen Spiel von Tim Key, Tom Basden und Carey Mulligan auf der beschau­li­chen Wallis Island zusieht, ob man in diesem Film nicht co-gekapert ist. Zu durch­schaubar, auch zu läppisch sind die Plot-Zwangs­lagen und das Agieren der Haupt­fi­guren. Selbst der Höhepunkt, das intime Gitarren-Konzert für den super­rei­chen Fan wird durch allzu viel gewollte Emotio­na­lität vergeigt. Immerhin: Wie Folk-Star Herb McGwyer wünscht man nichts mehr, als von dieser Insel der Eintö­nig­keit endlich wieder fort­zu­kommen. So funk­tio­niert der Film dann doch. – Dunja Bialas

BERND – OPERATION GERMANENKIND (DE 2025 · R: Cornelius Schwalm · Neues Deutsches Kino)

Tanz den Mussolini. Cornelius Schwalm spielt in seiner Burleske mit allen möglichen Meta­ebenen. Er amal­ga­miert die bizarren Ideo­lo­gien um Indi­go­men­schen mit beißender Kritik an herr­schenden Thea­ter­pa­ra­digmen und NS-Kauder­welsch im Peene­münde-Idiom. Daraus entsteht eine immer wieder bizarre und nervige Dekon­struk­tion unserer gegen­wär­tigen Gesell­schaft, aufge­peppt mit massivem Over­ac­ting und mit einem mit Endzeit­fan­ta­sien »gepreppten« Ensemble, abge­fah­renen musi­ka­li­schen Einlagen, so dass am Ende nur noch Verblüf­fung ob der Tatsache bleibt, dass es tatsäch­lich möglich ist, Christoph Schlin­gen­sief als Zombie­ver­sion wieder­zu­be­leben. – Axel Timo Purr

BLAZING FISTS (Japan 2025 · R: Takashi Miike · Wett­be­werb Spotlight)

Mix aus Action und Gefühlen. Im schumm­rigen Licht einer Gefäng­nis­toi­lette begegnen sich Ikuto und Ryoma zum ersten Mal – und werden auf Anhieb Freunde: Denn Ikuto greift helden­haft, wenn auch brutal, ein, um Ryoma zu vertei­digen. Inspi­riert durch einen Vortrag des promi­nenten Kampf­sport­lers Mikuru Asakura beschließen die beiden, an dessen Turnier teil­zu­nehmen. In seinem ener­gie­ge­la­denen Coming-of-Age-Action­film verwebt der auf legendäre Weise produk­tive Takashi Miike Motive des sozialen Dramas mit Elementen tiefer Freund­schaft und spinnt zusätz­lich eine zaghafte Liebes­ge­schichte, was dem rauen Film weichere Facetten verleiht. Zwar bleibt die Drama­turgie weit­ge­hend klassisch konven­tio­nell, doch die visuelle Umsetzung macht dies alles wett. In den brutal insze­nierten Kampf­szenen brilliert der Film mit beein­dru­ckend schneller Montage und dyna­mi­scher Kame­ra­ar­beit. Und dann ist da noch dieser Haupt­dar­steller (Danhi Kinoshita) – mit einem Blick, der mehr sagt als hundert Dialog­zeilen. Seine Ausstrah­lung, sein Charisma machen den Film schlicht und ergrei­fend besonders sehens­wert. – Tanja Moll

BONJOUR TRISTESSE (DE, CA 2024 – R: Durga Chew-Bose – Wett­be­werb CineCoPro)

Poesie des Nichts­tuns. Das Remake von Otto Premin­gers Original von 1958 erzählt von Cécile, die an der Côte dAzur den Sommer­ur­laub mit ihrem Vater, dessen Freundin und einem Sommer­flirt aus der Nach­bar­schaft verbringt. Attrak­tive Menschen sagen hier schön klingende Sätze, werden aber kaum zu drei­di­men­sio­nale Figuren. Das Genre »Sommer­ur­laub in schöner Gegend mit Sommer­flirt und affek­tierten Gesprächen« hat zudem schon so sehr aus dem Vollen geschöpft, dass Bonjour Tristesse nicht mehr viel beizu­tragen hat. Die Bilder sind fantas­tisch, die Schau­spieler ebenso. Die vorge­tra­genen Weis­heiten aber sind deutlich weniger komplex, als sich das die Regis­seurin wohl vorge­stellt hat. Insgesamt entfaltet der Film dann einen Reiz, wenn nur die Bilder und der Schnitt wirken und sich zwischen den Zitaten anderer Filme­ma­cher, der schönen Land­schaft und den kompli­zierten Bezie­hungen der Figuren zuein­ander ein Funken Poesie findet. – Christian Schmuck, LMU München

So eintönig wie das Rauschen des Meeres vergehen die Sommer­tage der 17-jährigen Cécile (Lily McInery) mit ihrem Vater und dessen Freundin: sie sonnen sich, rauchen, und Cécile trifft sich, wann immer es geht, heimlich mit ihrem Freund. Die Ankunft der Mode­de­si­gnerin Anne (Chloë Sevigny), eine Freundin von Céciles verstor­bener Mutter, mischt das Bezie­hungs­ge­flecht im Feri­en­haus auf. Ihr Vater will nun mit Anne zusam­men­sein, die neue Dynamik droht Céciles bislang unbe­schwerten Sommer zu stören. Das Regie­debüt von Durga Chew-Bose setzt den gleich­na­migen Coming-of-Age-Roman nach Otto Preminger ein zweites Mal in Szene. Leider verweilt der Film oftmals bei seinen atmo­sphäri­schen Bildern und lässt dadurch nur eine ober­fläch­liche Ausein­an­der­set­zung mit dem span­nungs­vollen Verhältnis der Figuren zu. – Amelie Hoch­häusler, LMU München

BRIDES (UK 2025 · R: Nadia Fall · Wett­be­werb CineVison)

Vermeint­liche Freiheit. Nadia Fall gelingt mit ihrem Debüt ein ebenso kluger wie berüh­render Film, der sich gängigen Klischees entzieht – und dabei subtil, erschüt­ternd und zutiefst zärtlich erzählt, wie Freund­schaft, Glaube und gesell­schaft­liche Ausgren­zung ein gefähr­li­ches Geflecht bilden können. Der Film überzeugt nicht nur durch seine eindring­liche, mit poeti­schen Bild­ele­menten vers­tärkte Erzähl­weise und die präzise Regie, sondern vor allem durch seine tiefe Empathie – für seine Figuren, für ihre Herkunft, ihre Zweifel und ihre Hoff­nungen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Vers­tändnis jener Fragen, die unsere Gegenwart prägen: nach Zugehö­rig­keit, Identität, Freiheit – und nach der Zerbrech­lich­keit all dessen. – Axel Timo Purr

BUBBLES (DE 2025 · R: Sebastian Husak · Neues Deutsches Kino)

Rede doch mit mir. Sebastian Husaks Kammer­spiel an der Nordsee am Watten­meer ist natürlich kein regio­naler Nord­see­krimi. Doch was Husak an psycho­lo­gi­schen Hinter­räumen seiner Prot­ago­nisten nach und nach freilegt, gleicht dann doch schon fast einem Krimi. Mehr noch, als neben die Sprach­lo­sig­keit einer Beziehung Schuld und Sühne über einen toten Freund gestellt werden und der Film dann auch noch eine poli­ti­sche Ebene öffnet. Die ist vor allem deshalb spannend, weil sie gegen alle stereo­typen Erwar­tungs­hal­tungen zeigt, dass poli­ti­sche Radi­ka­li­sie­rung nicht immer nur aus privatem Unglück erwächst und das Reden und Bezie­hungs­his­torie nicht immer helfen um, die gesell­schaft­li­chen Blasen zu über­winden. – Axel Timo Purr

BUNNYLOVR (USA 2025 · R: Katarina Zhu · CineVi­sion)

Porno­gra­phie verbindet. Porno­gra­phie entfremdet. Die junge, chine­sisch-ameri­ka­ni­sche Rebecca – gespielt von der Regis­seurin selbst – verdingt sich als Camgirl. Findet dabei zu einem Kunden eine seltsame Verbin­dung. Zunächst abge­si­chert durch das virtuell-trans­ak­tio­nale Verhältnis. Bis ein Geschenk von ihm alles verwir­rend lebendig, taktil macht. Auch zum ster­bens­kranken Vater, einer Künstler-Freundin schwebt Rebecca stets zwischen Distanz und Nähe. Der Film erinnert an die Zustände des einsamen Driftens ohne rechtes Andocken an die Welt bei Paul Schrader. Die Bilder stets ganz nah an den Gesich­tern, das Außen verschwim­mend, verschwin­dend wie bei den Bild­schirm­fens­tern. Im Nachlass des Vaters findet Rebecca VHS-Pornos. Ein Moment der Verbin­dung, der Entfrem­dung. – Thomas Willmann

LE CITTÀ DI PIANURA (DE/IT 2025 · R: Francesco Sossai · Wett­be­werb CineCoPro)

Lust­volles Capriccio vom letzten Absacker. Von Bar zu Bar geht es durch das Hinter­land von Venetien, Heimat des in Berlin lebenden Francesco Sossai. Entlegene Winkel und verlas­sene Häuser offenbart diese trinks­e­lige Pikareske mit zwei schon gezeich­neten Säufern und einem Archi­tek­tur­stu­denten aus dem neapo­li­ta­ni­schen Stadtteil Pianura, der in Nord­ita­lien einen Bildungs­roman der ganz spezi­ellen Sorte durch­läuft. Gefilmt wurde auf 16mm, die raue Grob­kör­nig­keit passt zur anar­chi­schen Bewegung der frei­geis­tigen Figuren-Kombo. Alkohol wird hier zum Treib­stoff der Fahrt und entgegen dem ernüch­terten Zeitgeist nicht in Frage gestellt. Auf einer anderen Eben ist dies jedoch eine umso nüch­ter­nere Entde­ckungs­tour eines herun­ter­ge­kom­menen Italiens, das seine Schönheit in der bruta­lis­ti­schen Tomba Brion von Carlo Scarpa versenkt hat. – Dunja Bialas

»L’ultimo« – so heißt auf Italie­nisch der Drüber­streuer, das Flucht­ach­terl, dieser eine nun aber wirklich letzte Drink eines langen Abends. In diesem Film zieht der sich dann ein bisserl hin. Zwei glor­reiche Kack­spechte, einst klein­kri­mi­nell, wollen ihren Spezl, der lang nach Argen­ti­nien geflohen war, vom Flughafen abholen. Doch da kommt mancher Irrweg, ein schüch­terner, neapo­li­ta­ni­scher Archi­tek­tur­stu­dent und eben diverse »letzte« Biere, Schnäpse und derglei­chen dazwi­schen. So dass es zwei Tage durchs Veneto geht. Zu schratt­liger Musik und mit einer insge­heimen Trauer für das, was seit ein paar Jahren mit dieser Land­schaft geschieht. Es gibt kein »andermal«, heißt es. Ein »Ultimo« wird dereinst der aller­letzte sein. Ein wunder­barer One for the Road-Movie. – Thomas Willmann

CIUDAD SIN SUEÑO (ES 2025 · R: Guillermo Galoe · Wett­be­werb CineVi­sion)

Portrait eines Ortes. Tagsüber werden die verblie­benen Unter­künfte im Sektor 6 des Slums Cañada Real am Rande von Madrid zerstört. Nachts am Feuer werden den Kindern Mythen und Legenden der Nach­bar­schaft erzählt. On location und mit Laien­dar­stel­lern gefilmt, portrai­tiert der spanische Filme­ma­cher Guillermo Galoe in seinem Spiel­film­debüt diesen Ort und die dort lebenden Menschen. Es ist ein radikaler und tief huma­nis­ti­scher Blick auf die Eigen­ge­setz­lich­keiten des Milieus, der sich aus der Erfah­rungs­welt des 15-jährigen Roma-Jungen Toni (Antonio Fernández Gabarre) entwi­ckelt. Das Gefühl für den Ort vermit­telt sich am eindrucks­vollsten, wenn Toni die Umgebung mit seinem Handy filmt: Er sieht und perspek­ti­viert seine Umgebung, wodurch der Film seinem Sujet aus der Mitte seiner Figuren heraus so nahe wie möglich kommt. – Amelie Hoch­häusler, LMU München

DANKE FÜR NICHTS (DE 2025 · R: Stella Marie Markert · Neues Deutsches Kino)

Für immer und dich. Wie in #Schwar­ze­schafe, einem weiteren Beitrag der Reihe Neues Deutsches Kino, stehen auch in Stella Marie Markerts Film vermeint­liche Berliner Loser im Zentrum der Erzählung. Doch verschluckt sich #Schwar­ze­schafe immer wieder an seinen Kalauern, ist der Humor bei Markert fein dosiert, manchmal schwarz, manchmal zärtlich. Denn Markert schaut sehr genau auf die Charak­tere ihrer vier Mädchen, die in einer WG für betreutes Wohnen mit ihrem Coming-of-Age und ihren Defiziten hadern. Wer an Kikas dämlicher Mädchen-WG Freude hat, sollte diesen groß­ar­tigen Film über Leben­lernen unbedingt sehen. Denn anders als die dort geskrip­tete Realität, ist das hier die bessere Realität, allein schon Malous bizarre Geschichte lohnt den Besuch dieses Film, der völlig folge­richtig mit einem Lied Rio Reisers schließt. – Axel Timo Purr

THE EXPOSURE (CH, GB 2025 · R: Thomas Imbach · Wett­be­werb CineMas­ters)

The Exposure
(Foto: Filmfest München | Thomas Imbach)

Fräulein Elses Stream of Conscious­ness. Der Schweizer Thomas Imbach hat der hundert­jäh­rigen Novelle von Arthur Schnitzler eine filmische Form gegeben, die auf der tech­ni­schen Ebene den neuar­tigen Gedan­ken­strom der lite­ra­ri­schen Vorlage von 1924 überträgt. Else ist hier Lili, die im Urlaub in eine Zwangs­lage gerät, als die Mutter sie dazu bringen will, einen gewissen Dorsay um Geld zu bitten – der Vater hat eine beträcht­liche Summe verspielt, Gefängnis droht. Einge­zwängt von zwei potenten Männern – hier das Fami­li­en­ober­haupt, dort der schmie­rige Fami­li­en­freund – muss sich Lili entscheiden, ob sie ihren nackten Körper gegen Geld dem Male Gaze aussetzt. Das thema­ti­siert früh »Me too«, bei Imbach übersetzt sich das in eine rasante Insze­nie­rung vor einer 3D-Projek­tion, gefilmt in 16mm-Tief­kör­nig­keit, während die Gedanken unauf­haltsam in einen Strudel geraten. – Dunja Bialas

Träume und Gedan­ken­ströme. Lili ist zu Besuch bei ihrer Tante, als sie plötzlich ein Telegram ihrer Mutter erhält: Sie soll einen wohl­ha­benden Freund der Familie um Geld bitten, um die Schulden ihres Vaters zu tilgen. Wir begleiten Lili dabei vor allem durch ihre Gedanken, die dem Zuschauer als so gut wie ständige Off-Text Beglei­tung mitge­teilt werden. Das Konzept ist überaus inter­es­sant und die visuelle Aufbe­rei­tung in 16mm ausschließ­lich im Studio mit 3D-Projek­tionen gedreht, ist sehr anspre­chend. Unglück­li­cher­weise stellt sich bald heraus, dass Lilis Gedanken sich letztlich ständig im Kreis drehen, so wie es der Film auch tut. An den 16mm Bildern sieht man sich ebenso allzu schnell satt, weswegen der Film spätes­tens zum dritten Akt seine Lang­at­mig­keit auch nicht durch Traum­se­quenzen und Tanz­ein­lagen verschleiern kann. Positiv hervor­heben sollte man dennoch Haupt­dar­stel­lerin Deleila Piasko, die die Doppel­rolle aus Gedan­ken­stimme und leben­diger Figur mit Bravour meistert. – Christian Schmuck, LMU München

Die Wolken von Sils Maria ziehen nur in einem Insert kurz vorüber. Sonst bewegt sich diese Adaption von »Fräulein Else« in virtu­ellen Räumen. Imbach nutzt eine »virtual produc­tion« in am Set gene­rierten Digi­tal­ku­lissen à la The Mandalo­rian für eine expe­ri­men­tel­lere Ästhetik. Filmt die Projek­tionen in 16mm ab. Schnitz­lers Gedan­ken­strom-Novelle ist dafür ein sehr dankbarer Stoff. Er liefert einen psycho­lo­gi­schen Grund, keine Totalen zu zeigen. Passt stimmig zu dem Treiben in einem halb-irrealen Zustand. Bleibt aber die Frage, was iherseits die Bebil­de­rung, die titel­ge­bende Mischung aus Bloßstel­lung und Belich­tung, wirklich an Mehrwert bringt, den der Text nicht fiebriger, dichter bietet. Und ohne grausigen Elektro-Charleston. – Thomas Willmann

DIE FARBEN DER ZEIT (FRA 2025 · R: Cédric Klapisch · Spotlight)

Verschrän­kung der Zeit. Cédric Klapisch, der sich neben seinen leichten, roman­ti­schen Komödien seit Mein Stück vom Kuchen (2010) auch für gesell­schaft­liche Trans­for­ma­tionen inter­es­siert, verschränkt in seinem neuesten Film die Vergan­gen­heit der impres­sio­nis­ti­schen Malerei mit unserer neoli­be­ralen Gegenwart, erzählt über Familie als Lang­zeit­ex­pe­ri­ment und das Ringen um Identität im Gestern und Heute. Das ist so klug wie poetisch und bei weitem nicht nur ein Ausflug in die Malerei, sondern viel mehr ein berüh­render Versuch, Gesell­schafts­wer­dung eine filmische Form und eine Geschichte zu geben. – Axel Timo Purr

DAS GLÜCK DER TÜCHTIGEN (DE 2025 · R: Franz Müller · Neues Deutsches Kino)

Das Glück der Tüchtigen
(Foto: Filmfest München | Franz Müller)

Tauschwerte und Dampf­ma­schinen. Beinahe doku­men­ta­risch beob­ach­tend verfolgt dieser Film das Reihen­haus-Patchwork-Leben der Super­markt-Betrei­berin Mira: Der Lebens­ge­fährte verzockt gelie­henes Geld für dubiose Crypto-Währung, das Super-Markt-Werbe­schild fällt vom Himmel und begräbt zwei geparkte PKWs unter sich. Nur zwei Beispiele aus diesem sehr lustigen, klugen Film, der seine rand­stän­dige, unauf­ge­regte Haltung nie verlässt, nahe bei seinen Figuren bleibt, ihnen einfach folgt, sie aus dem Film treten und wieder hinein­finden lässt. Alle sind sie verloren in den merk­wür­digen Systemen der Gesell­schaft, abhängig von Verträgen, die sie beständig umgeben. Geld und Liebe, alles hat seinen Tauschwert.
Zum Glück steckt in dieser Absur­dität des Daseins eine Menge Ironie, darf man trotz allem noch lachen über diese beste aller Welten. – Benedikt Gunten­taler, LMU München

Klas­sen­ver­hält­nisse. Franz Müller, Regisseur aus dem Umfeld von »Revolver« und dem Kölner Filmclub 813, befasst sich seit vielen Jahren mit dem Klas­sismus im Film. Dies schlägt sich jetzt in seinem neuesten Werk nieder, in dem eine Super­markt-Leiterin gegen die Insolvenz und den Zusam­men­bruch ihrer Existenz ankämpft. Das Glück zerrinnt ihr förmlich unter den Händen, während die eigene Mutter sie kriti­siert, sich immer »nach unten« zu orien­tieren. So geht es vom Reihen­haus-Hausmann-zwei-Kinder mit einem, wenn auch stres­sigen, so doch funk­tio­nie­renden Alltag rapide in die Zerschla­gung der klein­bür­ger­li­chen Verhält­nisse. Da dies aber ein Kölner Film ist, regiert hier die trocken-humorige Bestands­auf­nahme eines Lebens, das sich nicht mehr in den Griff kriegen lässt, durch­setzt von etlichen Insider-Anspie­lungen, von der Nummer des Hotel­zim­mers 813 ange­fangen bis zum Pärchen in einer Bar. – Dunja Bialas

Wenn das Leben aus dem Takt rappt. Seit dem ersten Teil Die Liebe der Kinder sind 16 Jahre vergangen – und Mira scheint alles im Griff zu haben: Eine glück­liche Ehe, zwei Kinder und nun auch ihre eigene Super­markt­fi­liale. Wäre da nicht ihr Ehemann – ein Ex-Rapper mit Hang zu windigen Krypto-Träumen –, der im Hand­um­drehen das von Miras Stief­vater geliehene Geld in zwie­lich­tigen Geschäften versenkt. Und ab hier gerät alles aus der Spur – denn Mira verschweigt die Wahrheit. Ange­sichts des Ernstes der Lage vollführt Franz Müllers zweiter Teil seiner Trilogie einen gelun­genen Spagat zwischen Exis­tenz­sorgen und Alltags­komik. Er erzählt vom Wackeln auf dem Hochseil namens Fami­li­en­leben – insbe­son­dere, wenn es sich um eine Patch­work­fa­milie handelt – mit feinem Gespür für Tragi­komik und Timing. Die fran­zö­sisch anmutende Filmmusik verleiht einen Hauch Leich­tig­keit und Melan­cholie. Eine schräge und zum Schmun­zeln bringende Tragi­komödie darüber, was passiert, wenn das Leben plötzlich aus dem Takt gerät – oder rappt. – Tanja Moll

Du musst dich nicht immer nach unten orien­tieren. Gnaden­lose Alltags­spi­ralen in Lever­kusen. Was dröge klingen mag, wird unter der Regie von Franz Müller zu einem regel­rechten Alltags­krimi, in dem soziale Hier­ar­chien, Herkunfts­ge­schichten und familiäre Erwar­tungs­hal­tungen genauso ins Schwanken geraten wie der Balance-Akt zwischen Lüge und Wahrheit. Die Reihen­haus­rea­lität ist dabei genauso aufregend wie die ernüch­ternden Arbeits­ver­hält­nisse der Super­markt­lei­terin Mira und der brenn­glas­ar­tige Blick von Müller auf die Bezie­hungen seiner Prot­ago­nisten. Das Müller hier eine Geschichte weiter­erzählt, die er vor 16 Jahren in Die Liebe der Kinder begonnen hat, stört gar nicht. Der Film steht wie ein Monolith für sich, macht aber natürlich unfassbar neugierig auf den Anfang dieser hyper­realen Lebens­li­nien. – Axel Timo Purr

UN GRAN CASINO (AT 2025 · R: Daniel Hoesl · Wett­be­werb CineRe­bels)

Bruta­lis­tisch und erhaben thront das 13-stöckige Gebäude des Spiel­ca­sinos in Campione d’Italia über den Ufern des Luganer Sees. In seinem poeti­schen Filmessay in puris­ti­schem Schwarz-Weiß beschwört Daniel Hoesl die kapi­ta­lis­ti­schen Geister, die hier in einer italie­ni­schen Enklave und Steu­er­oase in der Schweiz ihr Unwesen treiben. Nach dem sati­ri­schen Spielfilm Veni Vidi Vici wendet sich Hoesl damit wieder expe­ri­men­tel­leren Formen zu. Seine filmische Medi­ta­tion über die unsicht­bare Hand des Markts wird getragen von dem glei­cher­maßen luziden wie unaus­lot­baren Text des Drama­ti­kers Thomas Köck. Dazu erklingen düster-abgrün­dige Songs der Band Ja, Panik, deren Sänger Andreas Spechtl auch als Darsteller mitwirkt. Doch vor allem die glei­tenden Fahrten der Kamera schlagen einen in Bann. Sie umkreisen das Casino beharr­lich, erkunden die Straßen und die Land­schaft der Umgebung und erzeugen jenen somnam­bulen und doch klar­sich­tigen Schwe­be­zu­stand, der den Inbegriff des Kinos ausmacht. – Wolfgang Lasinger

Unsicht­bare Hände bestimmen diesen poeti­schen Essayfilm nach Text­vor­lage von Thomas Köck. In wunder­schönstem Schwarz­weiß werden wir dazu einge­laden, durch Campione d’Italia zu schweben, im trance­ar­tigen Zustand den Phantomen und Geistern des Kapitals, der Wirt­schaft, des Glücks­spiels beizu­wohnen. Nie weiß man, wohin die Reise geht, ob man nun Dokument oder Spiel beob­achtet, eine Pulp-Novel liest, oder sich ins letzte Jahr in Marienbad zurück­träumt. Das Voice-Over gibt Gedanken vor, die sich nie ganz in den Bildern mate­ria­li­sieren, nie real werden können, die wie alles in dieser verwun­schenen Stadt, in diesem anmutigen Film, in der Schwebe hängen. Wie schade, dass die echte Schweiz so real sein, Farben besitzen muss, nicht wirklich dieser Nichtort ist, der Styx, besiedelt von Männern in klas­si­schen Anzügen, Frauen in schwarzen Kostümen. Wie schade, dass dieses auf Zelluloid gebannte Toten­reich nur 80 Minuten anhält. – Benedikt Gunten­taler, LMU München

HARD TRUTHS (GB 2024 · R: Mike Leigh · Wett­be­werb CineMas­ters)

Frau am Rande des Nerven­zu­sam­men­bruchs. Pansy hat unglaub­lich schlechte Laune, schimpft sich durch den Alltag, entfes­selt Streit, wann auch immer sich die Gele­gen­heit ergibt. Spoiler: Es gibt etliche. Unter der Wut und dem Zorn aber verbirgt sich viel Trauer, das macht Mike Leigh mit viel Gespür für seine Haupt­figur deutlich. Depres­sion und unver­ar­bei­tete Erleb­nisse verwan­deln sich unter seiner Regie zu einer durch und durch komischen Schwarz­gal­lig­keit . Diese Film-Trou­vaille des 82-jährigen Briten spielt zudem zur Gänze in der blacken Community, die Weißen sind Rand­fi­guren, fungieren als Möbel­ver­käu­fe­rinnen, Kassie­re­rinnen etc. Eine Umkehrung der sonst in europäi­schen Filmen abge­bil­deten rassi­schen Norm­ver­hält­nisse, die bravourös funk­tio­niert, uns aber weniger einen mora­li­schen, denn einen zutiefst huma­nis­ti­schen Spiegel vorhält. – Dunja Bialas

Empathie lehren. Das macht Mike Leigh mit seinen Filmen, indem er uns für oft zunächst unsympathische Figuren mitfühlen lässt. Hier zeigt er uns den Alltag von Pansy, einer mittelalten, britischen Frau, die auf den ersten Blick nur zwischen zwei Emotionen springt: Wut und Hass. Manchmal auch beides auf einmal. So werden im Supermarkt, beim Zahnarzt oder auf dem Parkplatz erstmal alle angeschrien. In der ersten Hälfte kommt es auch zu lustigen Situationen, ohne dass wir über sie lachen. Aber je mehr Zeit wir mit Pansy und ihrer Familie verbringen, desto mehr sehen wir den Schmerz und die Trauer in ihr. Das alles funktioniert nur so gut, weil Marianne Jean-Baptiste eine Jahrhundert-Performance abliefert, die wahnsinnig aktuell ist. Ohne einen wertenden Blick zeigt uns Mike Leigh Depressionen in der modernen Welt und letztendlich, wie sehr wir doch andere Menschen brauchen. – Nicolai Meußling, LMU München

HOLY MEAT (DE 2025 · R: Alison Kuhn · Neues Deutsches Kino)

Das wieder­ge­fun­dene Leben. Schwä­bi­sche Provinz meets Berlin meets Katho­li­zismus – in souver­äner paral­leler Erzähl­technik gelingt es Alison Kuhn, unsere ganze frag­men­tierte Gegenwart in einem kleinen schwä­bi­schen Dorf zu bündeln und so berührend wie klug und komisch davon zu erzählen, was es braucht, um sich bei all dem Irrsinn, den unsere Welt heute ausmacht, zu eman­zi­pieren und wieder- und neu zu erfinden. Die Ensem­ble­leis­tung ist stark und die Dialoge ein Genuss und der erzäh­le­ri­sche Anker – eine von Pater Iversens veran­stal­tete Laien­thea­ter­in­sze­nie­rung ist ein großer Spaß. Und das nicht nur, weil sie an Oskar Panizzas Liebes­konzil erinnert. – Axel Timo Purr

Passi­ons­spiel wird absurder Rave. Holy Meat erfrischt mit Humor, der situativ und aus den Figuren selbst entsteht, ohne platte Witze zu brauchen. Alle wirken schräg, aber echt. Gerade das macht viele Szenen amüsant und gleich­zeitig mensch­lich, während eine gelungene multi­per­spek­ti­vi­sche Erzähl­weise die persön­li­chen Schick­sale in der schwä­bi­schen Pfarr­ge­meinde Winte­ringen mitein­ander verwebt. Die Ausein­an­der­set­zung mit der katho­li­schen Kirche ist mal satirisch, mal ernsthaft. Visuell kreative Vignetten, die ein Stück Fleisch insze­nieren, unter­strei­chen die Absur­dität des Gesche­hens. Ein unge­wöhn­lich unter­halt­samer und berüh­render Film von Alison Kuhn. – Lara Pleyer, LMU München

HOME ENTERTAINMENT (DE 2025 · R: Dietrich Brüg­ge­mann · Neues Deutsches Kino)

Die Belie­big­keit des Lebens. Dietrich Brüg­ge­manns kluges Kammer­spiel handelt an der Ober­fläche vom vermurksten Abend eines Paares, das sich auf der Suche nach Beschäf­ti­gung an den Untiefen des digitalen Alltags reibt. Doch sehr subtil erzählt der Film mit Nadine Dubois und Joseph Bundschuh in groß­ar­tiger Präsenz auch von einer Gesell­schaft der Belie­big­keit, in der selbst Sex nur eine Möglich­keit ist und das Leben so wichtig und unwichtig wie ein Fußball­spiel ist. Eine reale Dystopie, so noncha­lant erzählt, dass es die pure Freude und abgrün­digster Grusel ist. – Axel Timo Purr

Die Qual der Wahl. »Ich will ja nichts sagen, aber dieses Atmen klingt Deutsch.« Endlich hat sich das Paar beim gemütlich geplanten Fern­seh­abend auf einen Film geeinigt, da naht schon die nächste Kata­strophe: Synchron­fas­sung, welch Graus. Also wird weiter­ge­scrollt durch die schier endlosen Optionen der Abend­ge­stal­tung. Die Film­aus­wahl ist zu groß, der Algo­rithmus keine Hilfe, das Passwort fürs Strea­ming­konto vergessen, das Internet ruckelt. Es muss so sein: Die Situation eskaliert im über­schau­baren, zwischen­mensch­li­chen Rahmen. Dabei könnte alles so einfach sein, doch am Ende bleibt eine unsichere Unzu­frie­den­heit mit dem Leben. Auch beim Zuschauer: Der Film wagt nie mehr Tiefe, verlässt sich ganz auf Wieder­erken­nung alltäg­li­cher Szenen, ohne den scharfen Blick eines Polt oder Loriot. Wer sich damit zufrieden gibt, hat sich für den richtigen Film entschieden, immerhin. – Anna Edelmann

KIKA (Belgien 2024 · R: Alexe Poukine · Wettbewerb CineMasters)

Leicht­füßiges Sozi­al­drama im Rotlicht-Milieu. Die Sozi­al­ar­bei­terin Kika erfährt gerade, dass sie schwanger ist, als sie die Nachricht erreicht, dass ihr Partner nicht mehr lebt. Aufgrund von Geld­pro­blemen mit einem Kleinkind sowie einem weiteren auf dem Weg, beschließt sie, als Sexwor­kerin anzu­fangen. Während sie zunächst nur sehr wenig Dienst­leis­tungen anbietet, betritt sie die Welt der bizarren BDSM Praktiken und dehnt dabei ihre Grenzen immer weiter aus. Mit ihrem Debütfilm gelingt Alexe Poukine ein betrü­bendes Sozi­al­drama, welches dennoch witzige wie auch schöne Momente bietet. Trotz einiger drama­tur­gi­schen Holp­rig­keiten ist der Film am Ende ein hervor­ra­gender Mix aus Drama und Satire, mit expli­ziten Schärfen, die jedoch stets respekt­voll gegenüber der Sexworker-Community ist. Zudem bietet Manon Clavel in der titel­ge­benden Rolle der Kika eine meis­ter­hafte Darbie­tung, die den Film mit Leich­tig­keit trägt. – Chris Schmuck, LMU München

KLARA (DE 2025 · R: Christina Tour­natzés · Neues Deutsches Kino)

Damit man mir glaubt. Selbst­er­mäch­ti­gung und die Arti­ku­lie­rung von Miss­brauchs­er­fah­rung sind kein Kind unserer Gegenwart, sondern gab es schon Anfang der 1960er Jahre. Ein wenig statisch und einer Versuchs­an­ord­nung gleich, erzählt Christina Tour­natzés die wahre Geschichte der 12-jährigen Karla. Die Statik macht Sinn, denn Tour­natzés unterlegt sie mit einer immer wieder düsteren, poeti­schen Bild­sprache und Dialogen, durch die sich ihr über­ra­gendes Ensemble regel­recht ringen muss, denn es wird spürbar, dass hier erzählt wird, worüber bislang stets geschwiegen wurde. Und die Erkenntnis, dass vor Gericht die Wahrheit nicht ermittelt, sondern nur verhan­delt wird, erinnert an Lars Kraumes Der Staat gegen Fritz Bauer, in dem ebenfalls die bleierne Zeit der früher BRD erklärte, warum wir unser heutiges Deutsch­land so ist, wie es ist. – Axel Timo Purr

THE KLIMPERCLOWN (D 2024 · R: Helge Schneider & Sandro Giampetro · Spotlight)

Gibt’s einen freieren Geist hier­zu­lande? Als Helge Schneider? Bei dem jeder Abend auf der Bühne so impro­vi­siert ist wie die gesamte Karriere. Und allein dem Prinzip folgt: Taugt mir das grade? Seine filmische Auto­bio­gra­phie geht entspre­chend noch einen Schritt weiter als seine Spiel­filme: Kein Produk­ti­ons­brim­bo­rium mehr. Sondern nur Helge, sein lang­jäh­riger Gitarrist Sandro Giam­pietro, eine kleine Digi­tal­ka­mera sowie Helges Privat­ar­chiv an Heim-Schmal­filmen und Video­b­än­dern. Und eine große Lust am Spielen. Die Über­ra­schungs­gäste reichen von Peter Kraus bis Alexander Kluge. Der Geist Schlin­gen­siefs ist sehr präsent. Und unter groß­zü­giger Ausspa­rung vieles Privatem springt der Film zwischen Kind­heits­er­in­ne­rung, Musik­mo­menten, Filmgenre-Hommagen, Abhängen in Spanien. Zwischen Dokument und Fiktion. Äh – Underdox, wie wär’s...? – Thomas Willmann

THE LIFE OF CHUCK (USA 2024 · R: Mike Flanagan · Spotlight)

Ich bin Vielheit. Mike Flanagans konge­niale Umsetzung eines Kurz­ro­mans von Stephen King zeigt nicht nur, dass King weit mehr als nur ein Best­sel­ler­autor mit Horror­schwer­punkt ist, sondern wie so oft, auch hier nah am Puls unserer Gegenwart operiert. Es ist eine so lyrische wie analy­ti­sche Geschichte, in der nicht nur der Lauf der Zeit umgedreht, sondern auch die Mathe­matik als die Quelle von exis­ten­ti­eller Wahrheit in den Raum gestellt wird. Und dann ist da noch Walt Whitmans »Song of Myself« und die schöne Trau­rig­keit ob der Erkenntnis, dass wir alle mehr sind, als wir zumeist glauben. Im engli­schen Original erzählt übrigens Nick Offerman aus dem Off die verbin­denden Passagen, was an sich den Film schon lohnt. – Axel Timo Purr

Wer ist Chuck? Eine Frage, die anfangs immer wieder gestellt wird, aber eigent­lich den ganzen Film beschreibt. Beant­wortet wird sie durch die Menschen, die er trifft, die Welt, in der er lebt und die Dinge, die er tut. Das klingt zwar abstrakt, ist es aber nicht. Denn trotz einem bunten Mix an Genres (mal magischer Realismus, mal Tanzfilm), bleibt der Film bei Chuck und bei den großen Fragen des Lebens. Das wiederum klingt kitschig... und das ist es auch. Ebenso ist es wenig subtil und oft sehr senti­mental, aber trotzdem funk­tio­niert der Film, weil er so ehrlich und authen­tisch ist. Er schämt sich nicht für den Kitsch, es wird nie selbst­iro­nisch oder präten­tiös, geschweige denn lang­weilig. Die großen Fragen werden mit einer lebens­be­ja­henden Leich­tig­keit aufge­griffen, sodass man nach dem Film die ganze Welt anders sieht. – Nicolai Meußling, LMU München

LEONORA IM MORGENLICHT (DE, MEX, ROU, UK 2025 · R: Thor Klein, Lena Vurma · Wett­be­werb CineCoPro)

Ein Künstler-Biopic – und es geht kaum um Kunst? Das kann funk­tio­nieren, sogar sehr gut. Über 15 Jahre folgen wir der Surrea­listin Leonora Carrington durch die Welt, toll von Olivia Vinall gespielt und ebenso toll mit der Kamera einge­fangen. Sie flieht vor dem Kind­heits­trauma, vor dem Wahnsinn, vor dem Krieg in Europa. Am Ende steht ein neuer Anfang. Dabei bleibt der Film auf ihre Person fokus­siert, selten sehen wir sie malen, noch seltener ihre Gemälde. Das wird filmisch ersetzt: mit dem Produk­ti­ons­de­sign, der Kamera, dem Schau­spiel. Selbst mit dem hölzernen Dialog wird ein subtiler Surrea­lismus erzeugt, und es wird sehr deutlich, wie die Welt Leonora geprägt hat. Am Ende hätte man jedoch gern mehr über die Rolle der Kunst in Leonoras Leben erfahren. Deshalb sollte man sich nach dem Film unbedingt ihre Gemälde ansehen, das ergänzt sich dann sehr gut – im Nach­hinein. – Nicolai Meußling, LMU München

MILITANTROPOS (FR, AT, UKR 2025 · R: Yeli­za­veta Smith, Alina Gorlova, Simon Mozgovyi · Wett­be­werb CineMas­ters)

»Ich habe geträumt, dass ich gestorben bin«, sagt ein junger Soldat zu seinen Freunden am Lager­feuer. Eine andere Frau feiert die Tage, an denen sie noch am Leben ist. Kinder spielen zwischen Schutt und Asche und essen Kirschen. Auf unge­schönte Art und Weise gibt der Film Einblicke in einen Albtraum, der für die Ukrai­ne­rinnen und Ukrainer Realität geworden ist – und sie zu »Mili­t­an­tropos«, »Solda­ten­men­schen«. Eine neue Spezies Mensch, die lernen muss, mit dem Alltag im Krieg umzugehen. Ausbil­dung an der Waffe am Morgen und Melo­nen­ernte am Abend. Mohn­blu­men­felder und Bilder aus dem Command-Center. Tränen des Abschieds und Tanzen bis zum Morgen­grauen. Gerade diese Kontras­tie­rungen sind es, die den Film auszeichnen und die berühren. Ein mehr als gelun­gener Auftakt zum doku­men­ta­ri­schen Tripty­chon »The days I would like to forget«. Entstanden aus 100 Terrabyte Material. Es sind Geschichten über Menschen. Über die Hilf­lo­sig­keit, die Stärke, das Weinen und das Lachen. – Amelie Fenske, LMU München

Im Krieg ist der Mensch nicht mehr Mensch. Er ist eine Mischung von Mensch und Soldat, der seinen Sinn verliert und versucht, diesen Sinn wieder zu finden. Diese Ansicht vertritt der Film, dessen Titel eine Mischung der latei­ni­schen und grie­chi­schen Wörter für »Soldat« und »Mensch« ist. Er zeigt impres­sio­nen­haft die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung im Krieg – Evaku­ie­rungs­züge, zerstörte Dörfer, aber auch Solda­ten­bri­garden im Schüt­zen­graben und bei der Aufklärung. Dabei wird bis auf Erläu­te­rungen zu dieser Spezies von Mensch nichts kommen­tiert, die Bilder sprechen quasi für sich selbst. Die Bruta­lität und Ausweg­s­lo­sig­keit des Krieges wird so scho­nungslos an das Publikum heran­ge­bracht, ebenso die Verrohung. Die Gefahr, die Bilder auch glori­fi­zie­rend auslegen zu können, wird durch die auf mehrere Momente aufge­teilte Begriffs­klärung rela­ti­viert. Leider verliert der Film in seinem Verlauf etwas an seiner Eindrück­lich­keit, wenn zunehmend hörbar zusätz­liche Klänge auf die Tonspur hinzu­ge­fügt werden. – Paula Ruppert, LMU München

MIROIRS NO. 3 (DE 2025 · R: Christian Petzold · Spotlight)

Die uner­träg­liche Leich­tig­keit des Sommers. Wieder ein Sommer­film und wieder wird viel Fahrrad gefahren. Doch anders als in Christian Petzolds groß­ar­tigem Roter Himmel, bei dem sich Petzold mit Leer­stellen und Symbo­lismen merklich zurück­ge­halten hatte, wirkt sein neuer Film mehr wie eine enig­ma­ti­sche Skizze und eine Rück­be­sin­nung auf frühere Filme, stehen Leer­stellen und Symbole zentral im erzäh­le­ri­schen Raum, kann der Zuschauer nicht nur darüber sinnieren, ob die von Paula Beer verkör­perte Laura ihre Mutter so verloren hat wie Barbara Auers Betty ihre Tochter. Doch Petzold verliert sich nicht in den Leer­stellen, denn auch in Miroirs No. 3 hat er mit der Rolle des Max – wunder­voll gespielt von Enno Trebs – wieder einen tumben Toren wie vor zwei Jahren Thomas Schubert als Leon in seine Erzählung mit einge­bunden. Dadurch entstehen Zauber­mo­mente wie das Bier­trinken beim „Titelsong“ des Films und eine mürrische Radfahrt über die Felder. Und die Stille und Noncha­lance, mit der Petzold sein Drama in den letzten 20 Minuten auflöst, ist dann eine wahre Freude. – Axel Timo Purr

Der Trost des Vergan­genen. Ein Autounfall bringt Laura durch Zufall ins Haus von Betty, die sie daraufhin umsorgt. Gemeinsam mit deren Ehemann Rüdiger und Sohn Max entstehen Familien-ähnliche Verhältnisse, welche je zu zerbrechen scheinen, als die Vergangenheit die Figuren langsam einholt. Christian Petzolds neuer Film glänzt vor allem durch seine spannende Ausgangslage und seine sehr gute Besetzung. Am Scheideweg zwischen Thriller und psychologisierendem Drama entscheidet sich der Film für zweiteres, was ihm jedoch nicht guttut. Früh legt Petzold die Karten seiner Geschichte auf den Tisch und gibt so ein wenig auch die Trümpfe aus der Hand. Für den psychologischen Ansatz bleibt man zu sehr auf Distanz zu den Figuren und bekommt zu wenig Dimensionen, in denen eben jene sich bewegen. – Chris Schmuck, LMU München

8 Stunden nach dem Film. Ein Auto­un­fall, Lauras Freund verun­glückt tödlich, sie aber überlebt ohne Verlet­zungen, begibt sich in Obhut einer drei­köp­figen Familie. Der Aufent­halt ist frei gewählt, eine Auszeit auf dem Land. Schnell aber tun sich unaus­ge­spro­chene Wunden auf, die Vergan­gen­heit legt sich über diese temporäre Patch­work­fa­milie, baut Nähe wie Distanz auf. Ästhe­tisch nähert sich der Film diesem emotio­nalem Mysterium kaum, bleibt distan­ziert, adaptiert die verrä­te­ri­sche Bieder­meier-Idylle ohne Brüche. Das macht es schwer, zu Miroirs No. 3 vorzu­dringen, den inhä­renten Kitsch, die perfor­ma­tive Verträumt­heit nach­zu­voll­ziehen. Erst in der Nach­be­trach­tung beginnen sich die Motive zu sepa­rieren, geis­ter­haft mitein­ander zu kommu­ni­zieren. Was hat man hier überhaupt gesehen, und warum erscheinen all die Offen­sicht­lich­keiten auf einmal so poetisch, so rätsel­haft, so melan­cho­lisch? – Benedikt Gunten­taler, LMU München

MISSING*LINK (DE 2025 · R: Michael Baumann · Neues Deutsches Kino)

Die Angst vor dem Leben. So wie Hanna Doose 2022 auf dem Filmfest München mit Wann kommst du meine Wunden küssen? Patchwork-Iden­ti­täten in kathar­ti­sche Abgründe schickte, so insze­niert auch Michael Baumann sein Fami­li­en­stell­dichein als radikale Frage­stel­lung, wie weit die Freiheit taugt, um die Angst vor dem Leben und den Kampf um Selbst­ver­wirk­li­chung zu bewäl­tigen. Das ist psycho­lo­gisch dicht und über­zeu­gend umgesetzt und mit dem wichtigen Fokus auf das Coming-of-Age der vor ihrem 14-jährigen Geburtstag stehenden Mia, weitet Baumann die Perspek­tive erheblich. Wie er die unter­schied­li­chen Gene­ra­tionen mitein­ander verschränkt, alle glei­cher­maßen verzwei­felt auf der Suche nach dem Glück im Leben, ist so subtil wie alltäg­lich. Neben all den darge­stellten, lauten Verwer­fungen, nimmt sich Baumann jedoch auch Zeit für poetische Momente, wird sein Blick zärtlich, nicht nur bei dem von allen Darstel­lern großartig gespielten Ende dieses Films. – Axel Timo Purr

OMAHA (USA 2025 · R: Cole Webley · Wett­be­werb CineKindl)

Omaha
(Foto: Filmfest München | Cole Webley)

Kinder haften für ihre Eltern. Nicht »herz­er­grei­fend« (Katalog), sondern abgrund­tief grausam wie das Märchen von Hänsel und Gretel ist, was in Cole Webleys Roadmovie den Kinder­fi­guren wider­fährt. Da ist die Abgabe des Fami­li­en­hundes ins Tierheim erst der Auftakt in diesem Kinder­seelen-Trauma. Der Sound­track und die Bilder folgen, fast schon zu aufge­setzt, den gängigen Inde­pen­dent-Standards. Immer wieder wird gegen die Sonne gefilmt, wird das Schmut­zige und das Alltäg­liche überhöht, während die Fahrt nach Nebraska im Gitarren-Sound badet. Die Figuren und die Grund­kon­stel­la­tion werden dabei kaum erzählt, auch gibt es keine Perspek­tive der Kinder, die die Undurch­schau­bar­keit der Situation plausibel gemacht hätte. Als American Inde­pen­dent hätte man sich den Film eingehen lassen, weil er sich gut ins Genre fügt. Aber als »Cine-Kindl«? – Dunja Bialas

Sundance-Darling. Indiefilm mit Indie-Musik, mit guten Kinder-Schau­spieler*innen, mit (natürlich) einem nied­li­chen Hund, mit Drachen­steigen, Hotel-Pools, Feuerwerk und einem Besuch im Zoo. Mit Männern, die schwarzen Bart tragen, Kapu­zen­pull­over, das Herz zwar am rechten Fleck haben, nicht aber über ihre Gefühle reden können: Daraus entsteht ein klas­si­scher US-Road-Trip mit schön gewählten Locations, der andeutend bleibt, moment­weise erzählt. Passend dazu: Der große poli­ti­sche Pauken­schlag wird nach­ge­reicht, als Texttafel darf er den Abspann einleiten, konkre­ti­siert die vergan­genen 80 Minuten von außerhalb. Man hätte sich diese Infor­ma­tion früher gewünscht, einen poli­ti­schen Bezug, der verhan­delt wird, dringlich ist, der sich nicht lediglich ohnmächtig senti­mental – wie hier – durch den Film zieht. So aber bleibt Omaha beim souver­änen Gefühls­kino stehen. – Benedikt Gunten­taler, LMU München

Roadmovie im Indie-Gewand. Ein Vater weckt morgens früh seine Kinder und fährt mit ihnen in eine zunächst ungewisse Zukunft. Von nun an sehen wir eine schier endlose Autofahrt, gedan­ken­ver­lo­rene Blicke und spielende Kinder, die wie die Zuschauer nicht so recht wissen, was los ist. Cole Webley hat das Indie-Film Handbuch gründlich studiert und kommen­tiert im Subtext die ameri­ka­ni­sche Gesell­schaft. Die wirklich inter­es­santen Aspekte seiner Geschichte deckt er jedoch erst im Abspann auf. Der wohl erhoffte Schlag in die Magen­grube bleibt aus. Mit seinen 83 Minuten Laufzeit sieht sich der Film zwar recht bequem und kurz­weilig, sein Potenzial bleibt jedoch auf der Strecke. Die Einord­nung in den Wett­be­werb CineKindl kann man obendrein mehr als frag­würdig finden, bedenkt man worauf der Film hinaus will. Damit also ange­schnallt für eine Autofahrt »Indie« Bedeu­tungs­lo­sig­keit. – Christian Schmuck, LMU München

Neuanfang geht immer, in den Weiten der west­li­chen Bundes­staaten: Das ist einer der funda­men­talen US-Mythen. Doch der Roadtrip in Omaha ist keiner der Selbst(neuer)findung. Kapi­ta­lismus und Kinder machen die Nummer vom einsamen Cowboy schwer: Ein verwit­weter, bank­rotter Vater packt – aus Gründen, die wie auch die Verortung Ende der ‘00er erst im Abspann voll klar werden – seine Kinder ins Auto nach Nebraska. Die neun­jäh­rige Ella, der langsam dämmert, dass Eltern nicht immer alles im Griff haben. Der sechs­jäh­rige Charlie, für den alles ein unhin­ter­fragtes Abenteuer ist. Mitunter sind die halligen Gitar­ren­flächen im Sound­track, das Licht etwas zu geschmäck­le­risch. Aber im Kern ist Omaha ein stark gespieltes, hartes Stück über unum­kehr­bare falsche Abbie­gungen im Leben. – Thomas Willmann

OXANA – ein Leben für Freiheit ((FRA 2024 · R: Charlène Favier· Spotlight))

Die ukrai­ni­sche Jeanne D’Arc: Aus einer jungen konven­tio­nellen Ikonen­ma­lerin wird eine mutige Rebellin, eine radikale Künst­lerin und Mitgrün­derin der Femen-Protest­be­we­gung gegen patri­ar­chale Gewalt und für weibliche Selbst­be­stim­mung. Aus Gold und Farbe werden Wut und Blut, aus Heilig­keit Protest. Im Schatten patri­ar­chaler Gewalt wächst eine Idee: Freiheit – mit nackter Haut als Leinwand, mit Parolen als Pinsel­strich (»Brüste sind unsere Waffe!«). Anfäng­lich erscheinen die Reden junger Frauen wie ein Bühnen­mo­nolog, indem sie sich mit großen Sprüchen über­trumpfen. Doch Schicht um Schicht verändert sich der Ton – wird ernster, dunkler, bedroh­li­cher. Die plaka­tiven Gesten wandeln sich zu einem unnach­gie­bigen Flüstern in der Sprache der Kunst. Die Kamera bleibt dicht an Oxanas Gesicht, folgt jeder Zuckung, dringt tief in ihr Inneres ein und offenbart die Facetten einer starken, zugleich verletz­li­chen Frau. Eine Hommage an Mut, Wut und die Kraft weib­li­cher Selbst­be­stim­mung. – Tanja Moll

PERLA (AT, SK 2025 · R: Alexandra Makarová · Wett­be­werb CineMas­ters)

Die Vergan­gen­heit kehrt wieder. 1981: Die in Wien lebende Künst­lerin Perla (Rebeka Poláková) begibt sich Jahre nach ihrer trau­ma­ti­schen Flucht zurück in die Tsche­cho­slo­wakei. Gespalten zwischen dem erfüllten Fami­li­en­leben mit ihrer Tochter und ihrem Mann (Simon Schwarz) und verdrängten Schuld­ge­fühlen, gräbt Perla in ihrer Vergan­gen­heit und muss nun auch in diesen Abgrund blicken. Der Film erzählt von der Wieder­kehr des Verges­senen: alte Photo­gra­phien tauchen wieder auf, die altbe­kannten Räume füllen sich mit Erin­ne­rungen. Die Sound­ebene des Films teilt das Innen­leben von Perla mit: ein herz­schlag­ar­tiger Klang oder gefühls­be­to­nende Kompo­si­tionen schaffen emotio­nale Nähe zu ihr. Alexandra Makarovás Film ist eine tief­grün­dige Studie der Titel­figur, die zugleich für eine trans­ge­ne­ra­tio­nale Erfahrung steht. – Amelie Hoch­häusler, LMU München

Kunst­ga­lerie. 1980 in Wien: Perla stammt aus der Tsche­cho­slo­wakei, ist Malerin. Gemeinsam mit Tochter Julia zieht sie zum reichen Geliebten Josef. Alles scheint perfekt, dann klingelt das Telefon: Ex-Mann Andrej hat Krebs, bittet um einen viel­leicht letzten Besuch in der Heimat. In wunder­baren Bild­kom­po­si­tionen erzählt Perla vom Mysterium der geschei­terten, nie verges­senen Liebe, verbindet dieses Sehn­suchts-Thema mit einer Emigra­ti­ons­ge­schichte. Das Filmkorn legt sich melan­cho­lisch auf die Bilder, jede Szene evoziert einen reich­hal­tigen Still­stand, man fürchtet sich beinahe vor den Schnitten, möchte im eigenen Tempo verweilen. Leider ist die Drama­turgie nicht konzen­triert genug, stellt immer wieder die Story in den Vorder­grund, wo doch gerade die verfüh­re­ri­sche Unein­deu­tig­keit das Herz dieses Films ist. – Benedikt Gunten­taler, LMU München

PROMIS LE CIEL (FR, QA, TN 2025 · R: Erige Sehiri · Wett­be­werb CineMas­ters)

Stim­mungs­volles Verspre­chen. Der titel­ge­bende Himmel erscheint in der künst­le­ri­schen Gestal­tung: ein abendlich-atmo­sphäri­scher Farbton legt sich über die Bilder. Die Handlung folgt drei nach Tunesien emigrierten ivori­schen Frauen, deren Glaube an Gemein­schaft und Zugehö­rig­keit durch ihre poli­ti­sche Gefähr­dung immer mehr verloren geht. Die betäu­benden Straßen­geräu­sche, aus der Ferne spre­chende Stimmen und bis zur Unkennt­lich­keit verschwom­mene Gesichter, vermit­teln das Gefühl der inneren Unruhe in den Bewe­gungen der Straße. Die fran­zö­sisch-tune­si­sche Regis­seurin Erige Sehiri folgt mit Fein­ge­fühl den Sorgen ihrer Figuren, und schafft durch die Bilder des Films einen stim­mungs­in­ten­siven Raum, der ein hoff­nungs­volles Verspre­chen an die Prot­ago­nis­tinnen zurück­geben möchte. – Amelie Hoch­häusler, LMU München

SIRÂT (FR, ES 2025 · R: Óliver Laxe · Wett­be­werb CineMas­ters)

Tour de Force durch die Wüste. Ein Rave in Marokko: Ausge­las­senes Tanzen, sphäri­sche, harte Musik, eine Lichtshow, die eine Treppe in die alles umge­benden Felsen zeichnet. Mitten­drin: Vater und Sohn, sie suchen die ausge­ris­sene Tochter. Schon der erste Bruch in diesem Film, der erste Stör­faktor in der eigens erschaf­fenen, rand­stän­digen Harmonie.
Weitere werden folgen, werden ein abgrün­diges, pessi­mis­ti­sches Bild unserer Welt zeichnen. Ständig im Hinter­grund: Der Krieg, eine bevor­ste­hende Apoka­lypse, und die traurige Erkenntnis, dass jener Kampf nie temporär bleiben wird, dass sich die Bomben in die Geschichte einschreiben, in den Boden, in die Land­schaften. Eine Aussichts­lo­sig­keit entsteht, der die Freiräume genommen wurden, in der keiner mehr tanzen kann, sich lediglich linear nach vorne bewegen lässt. – Benedikt Gunten­taler, LMU München

SECHSWOCHENAMT (DE 2025 · R: Jacque­line Jansen · Neues Deutsches Kino)

Arith­metik des Todes. Ein Film über den Tod und die Trauer, ganz und gar im Alltäg­li­chen verankert, einer kleinen Stadt in NRW. Die Regis­seurin folgt ihrer jungen Prot­ago­nistin Lore, die mit dem Tod ihrer Mutter sich nicht nur dem Verlust dieser Beziehung stellen, sondern auch die Bezie­hungen hinter­fragen muss, die ihr bislang selbst­ver­s­tänd­lich schienen und die sich durch den Tod der Mutter schlag­artig ändern. Momente der Zärt­lich­keit finden genauso Raum wie Momente beißender Banalität. Und die Formen der Trauer und die Fragi­lität der Bezie­hungen sind in Jansens Bildern genau so komplex präsen­tiert wie in dem kürzlich erschienen islän­di­schen Trau­er­drama Wenn das Licht zerbricht. – Axel Timo Purr

Im Pande­mie­früh­ling 2020 stirbt Lores Mutter mit Mitte fünfzig an Krebs. Die Tochter ist nun auf sich allein gestellt, trotz wohl­mei­nender Menschen, die in char­mantem rhei­ni­schem Platt auf sie einreden und auf dem katho­li­schen »Sechs­wo­chenamt« bestehen. Lore will jedoch den Wunsch der Verstor­benen nach einer Seebe­stat­tung erfüllen. In langen Kame­ra­ein­stel­lungen zeigt Jacque­line Jansen in ihrem auto­bio­gra­fisch moti­vierten Film die Stadien des Verlusts, den die Einzel­kämp­ferin Lore durchlebt. Neben der Titel­rolle in Die Nichte des Poli­zisten brilliert Haupt­dar­stel­lerin Magdalena Laubisch auch in dieser rhei­ni­schen Elegie mit komischen Elementen. Allen Wider­s­tänden zum Trotz finan­zierte die Regis­seurin ihr Vorhaben mit Hilfe von 25 Unter­nehmen ihrer Heimat­re­gion. Diesem berüh­renden Film über den Umgang mit dem Tod sind dringend ein Verleih und viele Zuschauer zu wünschen. – Katrin Hill­gruber

STILLER (DE/CH 2025 · R: Stefan Haupt · Wett­be­werb CineCoPro)

Für die Schule. Stefan Haupt lässt den Romank­las­siker von Max Frisch so wie er ist, nimmt dem Ende aller­dings etwas von der Tragik. Mit klas­si­schen schwarz­weißen Rück­blenden wird schul­buch­haft die farbige Gegenwart erklärt. Das große Ensemble – allen voran Albrecht Schuch und Paula Beer in liebevoll insze­niertem Zeit­ko­lorit – tun ihr Bestes, diesen Meilen­stein deutscher Literatur zum Leben zu erwecken. Das gelingt jedoch nur partiell, ist zu vieles zu statisch und gelingt es Haupt vor allem nicht, das brennend aktuelle Thema von Frischs Roman deutlich und spürbar zu machen. Dafür hätte der Film mutiger sein müssen, hätte Haupt den Roman in die Gegenwart hieven und von seinem histo­ri­schen Korsett befreien müssen, denn schließ­lich ist es ja unsere ganze Gegenwart, die an einer Iden­ti­täts­krise genauso leidet wie Frischs Romanheld Anatol Stiller. Eine solide Verfil­mung aber immerhin für jene, die nicht mehr lesen wollen und für den Schul­un­ter­richt sowieso. – Axel Timo Purr

Roman­ad­ap­tion mit Star­be­set­zung. Albrecht Schuch und Paula Beer harmo­nieren fantas­tisch mitein­ander. Als Film für sich genommen funk­tio­niert die Geschichte um James Larkin White, der für den verschol­lenen Anatol Stiller gehalten wird, ganz gut. Es fehlt ein wenig an ästhe­ti­schen Einfällen und Ausschöp­fung der psycho­lo­gi­schen Facetten der Geschichte. Die Frage, ob der Film seiner Roman­vor­lage von Max Frisch gerecht wird, lässt sich wohl exakt so beant­worten wie sie bei jeder Verfil­mung eines Lite­ra­tur­klas­si­kers zu beant­worten ist: Wie könnte er es jemals für Fans des Buches? – Chris Schmuck, LMU München

SULLA TERRA LEGGERI (IT 2024 · R: Sara Fgaier · Inter­na­tional Inde­pend­ents)

Der Staub der Zeit. Nach dem Tod seiner Frau verliert Gian nicht nur den Boden unter den Füßen – seine immense Trauer löst eine Amnesie aus. Mithilfe der Tage­bücher aus seiner Jugend versucht er, die Erin­ne­rung an die große Liebe seines Lebens herauf­zu­kit­zeln – und damit auch sich selbst wieder­zu­finden. Rück­blenden verschmelzen mit der Gegenwart; Fetzen aus histo­ri­schen Aufnahmen huschen wie Gians bild­ge­wor­denes Seelen­leben über die Leinwand. Die »leichte Erde« aus dem Titel hat jedoch nichts Schwe­re­loses an sich: Viel­leicht aus Sorge, dem Thema der Trauer nicht gerecht zu werden, überlädt der Film jedes Blümchen, jede Geste, jedes Wort, ja, selbst jede Katze, mit einer unbe­weg­li­chen, erdrü­ckenden Gewich­tig­keit – und wirkt dabei anti­quiert wie der Staub auf alten Tage­büchern. – Anna Edelmann

TAXI MONAMOUR (IT 2025 · R: Ciro De Caro · Inter­na­tional Inde­pend­ents)

Eine zufällige Begegnung bringt Anna (Rosa Pala­sciano) und Nadiya (Yeva Sai) nachts an einer Bushal­te­stelle zusammen: der Bus will einfach nicht kommen. Sie teilen sich also ein Taxi nach Hause, und von nun an verbringen sie Tag für Tag mehr Zeit mitein­ander. Der Film deutet die gesund­heit­li­chen Probleme der Italie­nerin Anna und die Erschöp­fung der aus der Ukraine geflüch­teten Nadiya an, befreit diese Themen jedoch von jeglicher Schwere, sodass die Verbin­dung der beiden Frauen ganz im Fokus steht. Der italie­ni­sche Regisseur Ciro De Caro hat einen sanften Blick auf seine Figuren, will deren Beziehung nicht ausbuch­sta­bieren, er inter­es­siert sich vielmehr für ein bestimmtes Gefühl beim Sehen des Films. Die Kame­rafüh­rung ist wie ein Tanz, sie bewegt sich immer mit oder zwischen den Figuren und wird damit zum verbin­denden Glied. – Amelie Hoch­häusler, LMU München

TORNADO (UK · R: John Maclean · Reihe: Spotlight)

91 Minuten Verfol­gungs­jagd. Es ist 1790 und die junge Samurai »Tornado« wird durch die schot­ti­schen Highlands von Banditen gejagt. Inhalt­lich lässt sich nicht viel mehr sagen, die Verfol­gungs­jagd steht im Zentrum. Dieses High-Concept funk­tio­niert zwar größ­ten­teils, leidet aber unter zwei Aspekten:
Zum einen entsteht eine drama­tur­gi­sche Zuspit­zung nur unna­tür­lich durch Zufälle und nicht nach­voll­zieh­bare Entschei­dungen. Dadurch fällt es schwer, mit den Figuren mitzu­fühlen und sie bleiben ziemlich flach, trotz toller Schau­spieler. Zum anderen versteht man oft nicht, wo sich die Figuren eigent­lich befinden, statt Spannung wird Verwir­rung erzeugt. Die visuelle Geografie ist bei Verfol­gungs­szenen leider besonders wichtig und sticht in der sonst sehr guten Insze­nie­rung stark raus.
Trotzdem verlässt man als Genre-Fan das Kino nicht enttäuscht – dafür funk­tio­nieren Anfang und Ende zu gut. – Nicolai Meußling, LMU München

UNTERWEGS IM NAMEN DER KAISERIN (DE 2025 · R: Jovana Reisinger · Neues Deutsches Kino)

Unterwegs im Namen der Kaiserin
(Foto: Filmfest München | Jovana Reisinger)

Post-, Neo- oder einfach nur Glamour-Femi­nismus: Jovana Reisin­gers Sissi-Fantasie ist eine poin­tierte Persi­flage auf den Jugend- und Schön­heits­wahn, der nicht erst seit »Longevity« trendet. Das nahm schon in den Jahren der jungen Kaiserin ihren Anfang. Reisinger schickt Romy (Julia Windisch­bauer), Karlheinz (Thomas Hauser) und Magda Gustav (Benjamin Radjai­pour) als Fin-de-siècle-Trio auf eine stylische Pilger­schaft, auf der sie die Reinkar­na­tion von Kaiserin Sissi in einem ihrer Luxus­körper erwarten. Als Will­kom­mens­kultur eignen sie sich den Habitus der ersten Schön­heits­kö­nigin an: Beauty-Treat­ments, Jungsuppe und üppige Püree- und Nach­spei­se­bomben gehören ebenso dazu wie zarte Schlei­fen­ohr­ringe, Abend­roben und eine fein zise­lierte Sprache aus der Feder der begna­deten Schrei­berin Jovana Reisinger. Ihr Sissy-Universum ist raum­grei­fend, Ganz­kör­per­kult, Instal­la­tion und Perfor­mance – und ein wunder­barer Spaß. – Dunja Bialas

VIDEOHEAVEN (USA 2025 · R: Alex Ross Perry · Inter­na­tional Inde­pend­ents)

Tech­no­logie ist vergäng­lich. Aber somit zu Lebzeiten ein Marker und Spiegel ihrer Ära. Alex Ross Perry schreibt hier eine fast dreis­tün­dige Kultur­ge­schichte der Video­theken. Erzählt ausschließ­lich entlang derer fiktio­na­li­sierter Abbildung in Spiel­filmen und Serien. Eine Quadratur der Medi­en­ge­schichte. Der Deep Dive lohnt allein schon wegen der Fülle an obskuren Ausschnitten. Dem essay­is­ti­schen Voice over merkt man zwar an, dass er auf einer akade­mi­schen Arbeit basiert. Maya Hawkes Stimme macht ihn aber zum Glück weniger papieren. Sie selbst tritt freilich auf als Video­the­karin in STRANGER THINGS. Ihr Papa Ethan als Almereydas HAMLET beim »To be or not to be« zwischen den Cassetten-Gängen. Fraglich, ob dereinst dem Streaming ein solch schönes Epitaph gewidmet werden kann. – Thomas Willmann

VITTORIA (ITA 2024 · R: Casey Kauffman, Ales­sandro Cassigoli · Wett­be­werb CineRe­bels)

Nicht ohne meine Tochter. Das auf einer realen Geschichte basie­rende Drama über die 40-jährige Besit­zerin eines Friseur­la­dens, die trotz dreier Söhne sich sehn­lichst auch noch eine Tochter wünscht und schließ­lich auf die ernüch­ternde Adop­ti­ons­wirt­schaft ange­wiesen ist, besticht durch ethno­gra­fisch flirrende Blicke in das Neapel der Gegenwart und eine fast schon doku­men­ta­risch erzählte Alltags­ge­schichte, die so hyperreal daher­kommt, das sich der Betrachter tatsäch­lich in das darge­stellte Fami­li­en­leben mühelos inte­grieren kann und mehr als er viel­leicht will vom Italien und Europa unserer Gegenwart verstehen lernt. – Axel Timo Purr

Die Sieg­reiche. »Im Traum sehe ich meinen Vater mit einem Mädchen an der Hand. Er sagte mir vor seinem Tod: 'Du solltest eine Tochter haben'«. Das lässt sie nicht los, Jasmine, Friseurin aus Neapel, verhei­ratet, drei Söhne. Und mit dem unbän­digen Wunsch nach einer Tochter, für die sie alles in Bewegung setzt. Sie sagt: »Ich bin glücklich, wenn ich an sie denke.« Unge­duldig und entgegen aller Wider­s­tände verfolgt sie den lang­wie­rigen Adop­ti­ons­pro­zess. Sie steht nicht still – und die Kamera auch nicht. Es ist unglaub­lich kunstvoll, wie Casey Kauffman und Ales­sandro Cassiglio dieses Reenact­ment der wahren Geschichte von Marilena »Jasmine« Amato (sie spielt sich selbst) filmisch gestalten. Die Grenzen von Traum und Realität, von Fiktio­nalem und Doku­men­ta­ri­schem verschwimmen. Und so erscheint das Ende ihrer Reise fast zu schön, um wahr zu sein. Ein buchs­täb­li­cher »Full-Circle-Moment«. – Amelie Fenske, LMU München

WINTER IN SOKCHO (FR 2024 · R: Koya Kamura · Wett­be­werb CineVi­sion)

Die Schönheit der realen Dinge. Soo-Ha arbeitet in einem Gasthaus, in welches eines Tages der fran­zö­si­sche Künstler Yan Kerrand auf unbe­stimmte Zeit einzieht. Nach anfäng­li­cher Abneigung zeigt sie ihm ihr Heimat­dorf Sokcho, während sie ihn immer mehr als Instru­men­ta­li­sie­rung ihres leib­li­chen, fran­zö­si­schen Vaters sieht, der ihre Mutter vor ihrer Geburt verlassen hat. Visionär ist die Synopsis dieser Roman­ver­fil­mung nicht gerade, doch den eher durch­schnitt­li­chen Korpus befüllt Koya Kamura mit Culture-Clash, Gesell­schafts­kritik und Liebe zu echten Emotionen. Ob es um Schön­heits­ideale in Südkorea oder das Vermit­teln des Kultur­ge­dächt­nisses des Landes geht, Kamura findet einen Weg, seinen Themen­pool in leise Poesie zu verwan­deln. Die selbst gestellten Klischee-Fallen des Plots werden in ange­nehmer Weise umgangen. Durch die hervor­ra­genden Leis­tungen der Haupt­dar­steller Bella Kim und Roschdy Zem trägt der Film auch bis zum Schluss. Ein stiller Film, in dem man sich gut verlieren kann. – Christian Schmuck, LMU München

YES (DE, FR, IL, CY 2025 · R: Nadav Lapid · Wett­be­werb CineMas­ters)

Zwei Party­clowns: Y und seine Freundin Jasmine durch­streifen das wilde Nacht­leben Israels, enter­tainen sich und die Bour­geoisie mit sexuellen Gefäl­lig­keiten, Drogen, dem nächsten Exzess. The Good Life eben. Dann die Chance: Y soll eine neue, pole­mi­sche, aggres­sive Natio­nal­hymne kompo­nieren, zum Preis der Moral auf die Seite der Elite wechseln. Wie eine Grund­satz­dis­kus­sion klingt diese Prämisse, Yes aber ist an solch ausge­son­derten Fragen nicht inter­es­siert, stellt ein Bombar­de­ment auf allen Ebenen dar. Satirisch überhöht bis in die Absur­dität hinein insze­niert Lapid ein cine­as­ti­sches Fest: Wilde Schnitte und Zooms, Köpfe, die zu Bild­schirmen werden, Liebe, Familie, Identität, Heimat, alles wird in ohren­be­täu­bender Laut­stärke auf der Leinwand vermengt. Eine wunder­voll poli­ti­sche, intel­li­gente Desori­en­tie­rung, der schönste aller Zustände. – Benedikt Gunten­taler, LMU München

ZIRKUSKIND (DE 2025 · R: Julia Lemke, Anna Koch · Wett­be­werb CineKindl)

Ein anderes Leben. Nachdem die Entwick­lung des Stoffes 2021 von der Initia­tive Der Besondere Kinder­film gefördert wurde, ging es für diesen beson­deren doku­men­ta­ri­schen Kinder­film über eine kleinen Zirkus und die letzten Nomaden und den wohl ältesten Zirkus­di­rektor in Deutsch­land tatsäch­lich nur noch bergauf. Und was für ein Ergebnis! Über die Erin­ne­rungen des alten Mannes, die liebevoll animiert darge­stellt werden und den Alltag seines Urenkels Santino wird eine Gegenwelt zum Alltag »normaler« deutscher Familien darge­stellt, der verblüf­fender nicht sein könnte. Julia Lemke und Anna Koch vermeiden dabei aber jeglichen Exotismus, sondern zeigen einfach ein anderes Leben, das dennoch Teil des deutschen Alltags ist. Was früher ganz und gar nicht selbst­ver­s­tänd­lich war, was der kluge Exkurs in die NS-Erin­ne­rungen des Groß­va­ters eindrucks­voll illu­mi­nieren. – Axel Timo Purr

ZWEIGSTELLE (DE 2025 · R: Julius Grimm · Neues Deutsches Kino)

Sterben als Therapie. Das Kontrast­pro­gramm zu Jacque­line Jansens Sechs­wo­chenamt (s.o.). Ist es bei Jansen jedoch auto­fik­tio­nale Inten­sität, die sich an büro­kra­ti­sierten Struk­turen persön­li­cher und behörd­li­cher Art reibt, steht in Julius Grimms Groteske ein Gedan­ken­spiel im Zentrum der Erzählung, das sich nicht um die Verblie­benen, sondern um die Toten und ihr Leben im Himmel­reich kümmert. Das ist meist banaler, bayerisch gefärbter Klamauk und an klein­kind­liche Fantasien über das Leben »im Jenseits« angelehnt wie etwa der Notaus­gang in den Himmel und auch hier spielt die Büro­kratie wie bei Jansen eine wichtige, dann aber rein komö­di­an­ti­sche Rolle. Doch dann und wann gelingen Grimm mit seinem starken, jedoch allzu oft um Over­ac­ting bemühten Ensemble auch schön Tiefen. Nicht nur im Müller­schen Volksbad und ange­sichts des Nichts, das immer schon so war, sondern auch beim Abgleich der Karma­qua­li­täten des Verstor­benen. Tod, wo ist dein Stachel? – Axel Timo Purr

ZWEITLAND (D, I, AUT 2025 · R: Michael Kofler · Wett­be­werb CineCoPro)

Feuer­nacht im Juni 1961. In Südtirol werden reihen­weise Strom­masten in die Luft gesprengt. Das Ziel: Autonomie von Italien, zu dem die Region nach dem ersten Weltkrieg, vom Norden in Öster­reich getrennt, zugeteilt wurde. Zweitland behandelt diese turbu­lente Zeit als Spielfilm aus Sicht einer Familie, deren Oberhaupt sich aktiv im gewalt­samen Wider­stand beteiligt. Während er nur noch die gewalt­same Revolte als Weg zu Autonomie und Gleich­be­rech­ti­gung sieht, spricht seine Frau fließend Italie­nisch und bemüht sich um Dialog mit der italie­ni­schen Bevöl­ke­rung – die, was der Film leider verschweigt, unter Mussolini teils zwangs­weise nach Südtirol umge­sie­delt wurde. Die Zerreiß­probe der Familie wird mit der Gewalt und Verun­si­che­rung auf beiden Seiten verwoben, wobei sich der Film dabei zwischen­zeit­lich leider etwas verliert. Es ist jedoch sehr schön, diese Epoche auf der großen Leinwand zu sehen – es gäbe noch viele weitere Aspekte zu erzählen. – Paula Ruppert, LMU München