26.03.2020

Kein Koller auf Korona, Teil 2

Sam Mendes American Beauty
Einer der am meisten überschätzten Filme der letzten Jahrzehnte oder weiterhin eines der bahnbrechendsten Debüts?
(Foto: A.T. Purr, DVD Cover)

Endlich Zeit, um alte Liebschaften aufzufrischen oder zu verstoßen – ein Blick auf Sam Mendes American Beauty, 20 Jahre nach dem überraschenden Oscar-Gewinn

Von Axel Timo Purr

»It was one of those days when it’s a minute away from snowing and there’s this electri­city in the air, you can almost hear it. Right? And this bag was just dancing with me. Like a little kid begging me to play with it. For fifteen minutes. That’s the day I realized that there was this entire life behind things, and this incredibly benevo­lent force that wanted me to know there was no reason to be afraid, ever. Video’s a poor excuse, I know. But it helps me remember... I need to remember... Sometimes there’s so much beauty in the world, I feel like I can’t take it, and my heart is just going to cave in.« – Ricky Fitts (Wes Bentley) in American Beauty

Arno Schmidt hat einmal gesagt, dass man in der Beur­tei­lung von Büchern vorsichtig sein muss, denn nicht jedes Buch funk­tio­niert in jedem Alter. Wenn man dann noch den natür­li­chen Alte­rungs­pro­zess eines Buches selbst hinzu­zählt, wird es erst recht kompli­ziert. Nicht anders ist das bei Filmen. Nur wenige Filme »altern« gut, nur wenige Filme begeis­tern einen 20-jährigen so wie einen 40- oder 60-jährigen. Bei den Corona-bedingten Ausgeh­be­schrän­kungen und den leeren Münchner Straßen musste ich plötzlich an einen Film denken, der vor über 20 Jahren ebenfalls leere Straßen zeigte, der Menschen zeigte, die trotz ihrer fami­liären oder freun­schaft­li­chen Nähe in weitem Abstand vonein­ander saßen, oder sich gleich über den Umweg einer Kamera unter­hielten, dessen Bild­kom­po­si­tion sich an die Bilder von Edward Hopper und René Magritte anlehnte, und der auch vom Sterben in einer Welt handelte, die eigent­lich das ewige Leben in Form von totaler Sicher­heit abonniert zu haben schien.

American Beauty war Sam Mendes' Regie-Debüt. Und was für eins. Nicht nur wegen des Karten­haus-ähnlichen Drehbuchs von Allan Ball, der zerset­zenden, ambi­va­lenten Wucht ihrer Haupt­dar­steller, allen voran Kevin Spacey und Annette Bening, einer großar­tigen, sogar­tigen Kamera (Conrad Hall), und einem Score (Thomas Newman), das sich in die Handlung hineinpochte wie ein Meißel in den Alltags­stein. Und dann natürlich die Preise. Baftas, Golden Globes und die Oscars im Jahr 2000. Vor allem waren die Oscars für einen Film über­ra­schend, der an den Grund­festen des ameri­ka­ni­schen Traums rüttelte, der über sexuelle Unter­drü­ckung, Drogen­konsum, Schwu­len­angst und dysfunk­tio­nale Familien in ameri­ka­ni­schen Vorort­i­dyllen erzählte, wie es vorher viel­leicht nur David Lynch in Blue Velvet (1986) gemacht hatte. Aber Mendes ging noch weiter. Anders als bei Lynch bricht das Böse nicht von außen als Frank (Dennis Hopper) in die heile Welt, sondern intrinsisch, wird aus sich selbst heraus erschüt­tert. Durch eine Art Rite de passage ihrer eigenen Akteure, Erwach­sene und Jugend­liche zugleich, die ähnlich wie Dennis Hopper und Peter Fonda in Easy Rider (1969) das durch Sicher­heits­be­dürfnis in Liebe, Beruf und Politik zube­to­nierte Amerika der weißen Vorstädte verlassen und sich befreien wollen. »Easy Rider« der bürger­li­chen Vorstädte, die so wie die Easy Rider der Hippie-Zeit bei ihren Ausbruchs­ver­su­chen scheitern.

Aber American Beauty war gerade im Jahr seines Erschei­nens, als er sich vom in wenigen Kinos gestar­teten Arthouse-Geheim­tipp zum Block­buster entwi­ckelte, natürlich viel mehr, war eine »Leer­stelle« für Alles und Jeden, allein schon die englische Wikipedia zu AMERICAN BEAUTY zu lesen, ist ein exege­ti­scher Parforce­ritt.
Doch bei allem Inter­pre­ta­ti­ons­spiel­raum, den Lobes­hymnen der Kritiker im Jahr seines Erschei­nens und des Jahrs danach, und all den Preisen wurde es immer stiller um American Beauty. Sam Mendes hat sich erst wieder dem Theater zugewandt und dann weiter Filme gemacht, hat sich James Bond einver­leibt (Skyfall, Spectre) und einige große Kriege des 20. Jahr­hun­derts (Jarhead, 1917). Sein Debüt galt zwar weiterhin als moderner Klassiker, wurde aber von ameri­ka­ni­scher Seite zunehmend kriti­scher betrachtet und kulmi­nierte im letzten Jahr schließ­lich in einen langen Artikel von Matthew Jacobs in der Huffington Post, der der verblas­senden Bedeutung von American Beauty einen endgül­tigen Grabstein zu setzen schien.

Plötzlich war Sam Mendes kein Vorläufer von Andrea Arnold und ihrem American Honey mehr, einer der Engländer, die Amerika besser als jeder Ameri­kaner zu demas­kieren verstehen, sondern als Regisseur ein Kind seiner Zeit, das Homo­phobie und Pädo­philie viel zu ober­fläch­lich hinter­fragte und das dann auch noch mit einem Kevin Spacey in der dementspre­chenden Rolle, dem im Rahmen der aufbrau­senden MeToo-Debatte 2017 eben genau das vorge­worfen wurde, was er in American Beauty so kongenial verkör­perte, der dort eine Minder­jäh­rige sexuell belästigt. Ein Film, der spätes­tens nach 9/11 völlig verstaubt wirke und – einer meist über­schätzten Filme der letzten 20 Jahre sei.

An einem Corona-Abend in München sieht sich Sam Mendes dann aber ganz anders. Sind die leeren Straßen, die Mendes zeigt, plötzlich sehr vertraut, ist dann aber vor allem der hohe Preis, den wir für unser Sicher­heits­be­dürfnis zahlen, so aktuell wie eh und je. Mehr noch, sieht sich Mendes' Film als hoch­bri­santes Blueprint für das, was gerade nach 9/11 in den Mittel­punkt großer ameri­ka­ni­scher Film­erzäh­lungen floss: der Iden­ti­täts­ver­lust und Untergang der weißen Mittel­stands­fa­milie, der Verlust plau­si­bler, glaub­wür­diger Rollen­mo­delle, wie er dann in BREAKING BAD (hier auf Helmut Müller-Sievers Essay zur »Kinematik des Erzählens« verlinkt) oder der ersten Staffel von TRUE DETECTIVE oder auch in Andrea Arnolds American Honey weiter­er­zählt wurde, der mit Mendes' Film im Hinter­grund fast wie eine Fort­set­zung funk­tio­niert.
Und dann ist da natürlich noch die Frage nach Authen­ti­zität in digitalen Zeiten, nach glaub­wür­diger, offener Kommu­ni­ka­tion, nicht vom Kapi­ta­lismus zerfres­senen Moral­vor­stel­lungen, in denen ein Sofa nur ein Sofa und gnaden­lose Ehrlich­keit der einzige Rettungs­anker für das eigene Überleben ist. American Beauty bildet auch dies­be­zü­g­lich unsere Gegenwart fast schon prophe­tisch ab: zertrüm­mert Alltags­rou­tinen durch die Ausbuch­sta­bie­rung dieser Routinen, so wie es in den letzten Jahren die Literatur von Karl Ove Knausgård oder Annie Ernaux gemacht hat und zeigt in den Video-Dialog-Sequenzen der jugend­li­chen Prot­ago­nisten vor allem das, was heute Alltag ist – ein Ich, das erst durch die digitale Entfer­nung – damals die Kamera, heute die sozialen Medien – zu sich und einer neuen, offenen, aber auch hier schon völlig Ich-bezogenen Identität findet.

Und Spaceys Lester Burnham und sein im Nach­hinein so oft kriti­sierter und vor allem für Spacey fast schon als beweis­tra­gend für Spaceys wirk­li­ches Leben gewer­teter Lolita-Komplex in American Beauty? Lassen wir ihn doch selbst sprechen, Lester oder Spacey, oder ist es nicht doch Alan Ball oder gar Sam Mendes? In seinen letzten Worten, als die Kamera von Conrad Hill einen letzten Blick auf die Corona-verlas­sene Vorstadt wirft:

»I guess I could be pretty pissed off about what happened to me, but it’s hard to stay mad when there’s so much beauty in the world. Sometimes I feel like I’m seeing it all at once and it’s too much. My heart fills up like a balloon that’s about to burst. And then I remember to relax, and stop trying to hold on to it. And then it flows through me like rain and I can’t feel anything but gratitude for every single moment of my stupid little life. You have no idea what I’m talking about I’m sure, but don’t worry, you will someday.«