30.04.2020

Kein Koller auf Korona, Teil 7 (und Ende)

DVD Wenders Im Lauf der Zeit
Werden wir in 44 Jahren so über unsere Kinos von heute staunen, wie wir heute über die Kinos in Wenders 44 Jahre altem Film staunen?
(Foto: Axel Timo Purr)

Zombies sterben nicht: Wim Wenders Im Lauf der Zeit aus dem Jahr 1976 sieht sich wie der ideale Subtext zu unserer (Corona-) Gegenwart. Sterbende Kinos, eine paralysierte Wirtschaft und Menschen auf Distanz. Aber Wenders' Film zeigt auch: am Ende geht es immer weiter, auch mit dem Kino.

Von Axel Timo Purr

»I been double-crossed now for the very last time and now I’m finally free.« – Bob Dylan, Idiot Wind, zitiert von Robert Lander (Hanns Zischler) in Im Lauf der Zeit

»Es gibt doch nur das Leben. Den Tod gibts doch gar nicht.« – Marquard Bohm in Im Lauf der Zeit

»Heute Abend? Da bin ich im Kino.« – Pauline (Lisa Kreuzer) in Im Lauf der Zeit

»So wie es jetzt ist, ist es besser, es gibt kein Kino mehr, als dass es ein Kino gibt, wie es jetzt ist.« – Kino­be­sit­zerin im Epilog von Im Lauf der Zeit

Den frühen Wim Wenders nach so vielen Jahren auf kleinem Bild­schirm wieder­sehen zu wollen, macht immerhin nicht soviel Angst wie sich Tarkowski in seiner mittleren Schaf­fens­phase – etwa dem Stalker – anzun­ähern, auch wenn Wenders' Im Lauf der Zeit ebenfalls knapp drei Stunden lang ist und wie bei Tarkowski auch bei Wenders nur wenig gespro­chen wird und natürlich beide Regis­seure explizit für die große Leinwand konzi­piert haben. Aber ganz schnell wird klar, dass selbst die kleine Angst über­flüssig war, dass Wenders' Film über zwei Männer in ihrer Lebens­krise, über sterbende Klein­stadt- und Dorfkinos im BRD-Zonen­rand­ge­biet zur DDR, über die Krise des deutschen Films in den 1970ern und ein para­ly­siertes Deutsch­land der Teilung so gut wie nicht gealtert ist.

Gut, ein paar graue Haare gibt es schon: etwa die manchmal dann doch etwas aufge­setzt wirkenden Buddy-Dialoge, vor allem die über Frauen, in denen Bruno (Rüdiger Vogler) und Robert (Hanns Zischler) etwa über die Unmö­g­lich­keit räso­nieren, mit einer Frau zusam­men­zu­sein, ohne dabei sein Ich zu verlieren, mehr noch, als man ja selbst »in« einer Frau einsam bis auf die Knochen bleibe – das ruft dann doch eher ein Schmun­zeln als Begeis­te­rung hervor. Aber egal, kommt Draht rum.

Im Lauf der Zeit
Eher ein Schmun­zeln als Begeis­te­rung (Foto: Purr/DVD)

Denn der Rest ist umso besser. Was für ein Film! Allein schon dieses Schwarz­weiß, das Licht und die Kamera von Robby Müller und Martin Schäfer über und in den versehrten Land­schaften und Indus­trie­ruinen des Zonen­rand­ge­bietes der BRD, den entkernten und entseelten Räumen dahin­sie­chender Kinos, die selbst noch auf DVD (40 Zoll TV-Bild­schirm) und der gestreamten Version (bei Google Play und 6.44 Zoll Smart­phone­bild­schirm) eine Kraft entfalten, einen Sog, der Jack Whites Statement zum Hören von Musik auch für den Film bestätigt, dass gute Musik nämlich auf jedem Abspiel­gerät funk­tio­niert, egal wie schrottig es auch sei, denn gute Musik ist immer gut. So ist es auch mit dem Film, so ist es mit Wenders' Im Lauf der Zeit.

Aber es ist nicht nur die Kamera Robby Müllers und Martin Schäfers oder der tolle Sound­track von Axel Linstädt, der grandiose Schnitt von Peter Przygodda und das Ensemble um Rüdiger Vogeler und Hanns Zischler, nein es ist dann auch Wenders und seine Geschichte, die er hier erzählt und wie er sie erzählt.

Im Lauf der Zeit
Leere Straßen und sterbende Kinos in heute undenk­baren »Locations« (Foto: Purr/DVD)

Wenders erzählt vom ewigen Verschwinden des Kinos, das sich in seiner kurzen Geschichte noch jedem Freier angedient hat, das damals wie heute und immer wieder am Wandel der Zeiten und seinen eigenen Schwach­stellen zu scheitern droht. Von Jobver­lusten während des Übergangs zum Tonfilm, von der Erstar­kung des Fern­se­hens und der Trans­for­ma­tion der Kinos zu Sex- und Action-Abspiel-(Ab-)orten, die nicht mehr gepflegt, sondern nur noch miss­braucht werden. Er zeigt Kinos wie das Roxy in Helmstedt und die Post Licht­spiele mit ihrer umwer­fenden Lisa Kreuzer an der Kasse und Kinos in Ortschaften, von denen man heute kaum mehr glauben kann, dass es so etwas wirklich mal gegeben hat. Nicht nur wegen ihrer Vorführ- und Publi­kums­räume, in denen Stricke (symbo­lisch) für den Suizid bereit liegen oder Frauen mit Schei­den­krampf von Sani­tä­tern abgeholt werden müssen, sondern allein schon der Größe der Orte wegen, in denen es damals noch Kinos gab. Werden wir in 44 Jahren auch so über unsere Kinos von heute staunen?

Im Lauf der Zeit
Das Verschwinden einer ganzen Welt (Foto: Purr/DVD)

Aber Wenders erzählt auch vom Verschwinden einer ganzen Welt, von Fabriken und Zeitungen, die still­stehen, von einer Schwei­ne­metz­gerei in Ostheim und ihrem verwit­terten Namens­schild, von Eltern, die gestorben sind oder noch mumi­fi­ziert leben. Er erzählt zärtlich und aufbe­geh­rend zugleich, wie das (analoge) Setzen einer Zeitung einst funk­tio­nierte und folgt in gran­diosen Kame­ra­fahrten den alten, roten Uerdinger Schie­nen­bussen (und anderen Zügen), die es wie die Strecken, auf denen sie fuhren, heute nicht mehr gibt. Er zeigt Land­schaften, die wie ihre wirt­schaft­li­chen Adern, die sie einst mit Nähr­stoffen versorgten, erstarrt sind, in denen das Einzige, was noch (in den weißen Sand) läuft, die Kackwurst aus dem Po von Rüdiger Vogeler ist.

Im Lauf der Zeit
Erstarrte Land­schaften, in denen nur noch eins läuft (Foto: Purr/DVD)

Und er erzählt von dem geteilten Deutsch­land, für das die Teilung in Ansätzen gleich­be­deu­tend mit dem war, was Corona heute mit uns macht. Er erzählt von Menschen auf Distanz, die heute jeden Virologen glücklich machen würden, denn nicht einmal Sex gibt es zwischen Bruno und Pauline. Wenders erzählt aber nicht nur vom Still­stand in Bezie­hungen, sondern auch vom Ende einer analogen Welt, die durch Rüdiger Vogelers Reparatur-Service für Kino­pro­jek­toren noch ein wenig länger am Tropf hängt und überlebt. Wie ein Arzt und Bestatter in einer Person fährt er von Kino zu Kino. Hilft, wo es noch geht, und entnimmt die Organe, wenn es zu spät ist, um sie einem anderen notlei­denden Patienten wieder einzu­setzen. Einige dieser Projek­toren werden wie in einem Sarkophag in Brunos Möbel­laster mit Münchner Kenn­zei­chen durch Deutsch­land gefahren, während Bruno auf einem anderen Analog-Relikt aus alten Zeiten, einem »Walkman«-Single-Plat­ten­spieler, Musik hört. Die nicht schweigen wollenden Stimmen der Toten.

Und auch alles andere lebt trotz Still­stand weiter, stand und steht aus Gräbern auf wie Zombies. Mit Wenders (und so vielen anderen Regis­seuren) wurde der Neue Deutsche Film trotz Report-, Leder­hosen-, Edgar-Wallace- und Lümmel­filmen fast schon Main­stream, entstanden immer mehr, neue, kleine Kinos in den Städten, etablierten sich Autoren­film-Selbst­hil­fe­or­ga­ni­sa­tionen wie der Film­verlag der Autoren genauso wie die Programm­kinos. In Wenders' dysto­pi­scher »Zwischen­raum­rea­lität« von Im Lauf der Zeit ist das alles kaum vorstellbar. Und heute: längst vergessen. Ein Deutsch­land ohne Teilung? Undenkbar. Ein paar Jahr­zehnte schon ein alter Hut. Im Lauf der Zeit halt.

Im Lauf der Zeit
»Es muss alles anders werden. So long, R.« (Foto: Purr/DVD)

Eine Regel fürs Überleben gibt Wenders zwar nicht, aber ein so guter wie banaler Rat an die Tür einer US-Armee-Baracke geheftet tut es im Grunde auch: »Es muss alles anders werden. So long, R.«. Und er hat damit Recht behalten. Der deutsche Film und die deutschen Kinos sind ganz anders geworden, so, wie sich das damals wohl kaum wer hätte vorstellen können, und so, wie es dann auch nach Corona gewesen sein wird.

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Wim Wenders Im Lauf der Zeit ist als Stream bei Google Play
(2,99 €), als DVD gebraucht und neu erhält­lich und als Teil der unbedingt empfeh­lens­werten 50-teiligen DVD Box der Film­verlag der Autoren-Edition, die es inzwi­schen statt für ursprüng­lich 349,00 € für 249,00 € gibt.