Ein plötzlicher Ruck, Scharniere rasten ein: Eine resolute
Dame mit Dutt stellt weiße Klappstühle auf. Im
Hintergrund ahnt man ein Gewässer - wie weit, wie tief,
bleibt ungewiss. "Bitte Platzzunehmen für einen
Ausflug in eine andere Welt!", scheint der Trailer des
diesjährigen Münchner Dokfests zu sagen.
Und tatsächlich passiert wieder einmal genau dass: Wir
tauchen ein in andere Realitäten, begegnen Menschen,
Orten, Zeiten, die wir sonst nie gesehen hätten. Das
Faszinierende am Dokumentarischen ist die Illusion von unmittelbar
erfahrbarer Realität, die sie vermitteln.
Doch die Kamera dokumentiert die Wirklichkeit nicht nur,
sie inszeniert sie auch und verändert die Welt, die sie
beobachtet - eine ungeheure Verantwortung, die jeder Dokumentarfilmer
schultern muss.
In Thorsten Trimpops Film DER
IRRATIONALE REST wird der Eingriff in die Wirklichkeit
zum Motor der Geschichte und zum entscheidenden Stilmittel.
1987 versuchen Susanne und Matthias, zwei junge DDR-Bürger,
in den Westen zu fliehen - und werden geschnappt. Ihre Freundin
Suse bleibt zurück und gerät dennoch in die Mühlen
der Stasi. 16 Jahre herrscht Funkstelle zwischen den Beteiligten.
Trimpop bewegt drei ehemalige Freunde zu einem Wiedersehen
- miteinander und den Orten des Geschehens - ein riskantes
Experiment.
Auch die Wiener Medienkünstlerinnen Simone Bader und
Jo Schmeiser greifen auf ihre Weise in das Leben ihrer Protagonistinnen
ein - doch geschieht das hier mit ganz anderer Zielsetzung
und folglich mittels einer völlig anderen Methode. Unter
dem Eindruck des Rechtsrucks in Österreich reisten sie
nach London, um zwölf jüdische Frauen zu befragen:
Holocaustflüchtlinge und ihre Töchter. In THINGS.
PLACES. YEARS geht es nicht darum zu Konfrontieren, Emotionen
und Betroffenheit herauszukitzeln: Die Interviewfragen, die
um jüdische und weibliche Identitäten und den schwierigen
Umgang mit dem Erbe des Holocaust kreisen, erhalten die Frauen
darum lange vorab. "Wir wollten den Frauen die Möglichkeit
geben, das zu erzählen, was Ihnen wichtig ist",
sagt Bader.
Auch in dem Film A DECENT
FACTORY stehen Frauen im Mittelpunkt. Im Auftrag des Handygiganten
Nokia nehmen zwei Ethik-Inspektorinnen die Arbeitsbedingungen
eines Zulieferers in China unter die Lupe. Denn dass die Produktion
nicht nur möglichst hohe Profite abwirft, sondern auch
moralisch sauber bleibt, wird immer mehr Investoren wichtig.
Das Haken ist nur: mit der Moral hapert es - weltweit. Die
Kamera enthüllt allerlei Verlogenheit: "Schafft
die Dinger umgehend in die Küche", ordnet ein Aufseher
an, als das toughe Damenduo aus Europe moniert, dass Kanister
mit Chemikalien in der Teeküche stehen. Vor laufender
Kamera wird das Unbehagen von gehobenem (feisten Europäern)
und mittlerem Management (feisten Chinesen) immer greifbarer.
Bis den Herren schließlich aufgeht, dass das Material
nicht nur für interne Gebrauch bei Nokia gedacht ist,
sondern womöglich im Kino gezeigt wird: Die Anwesenheit
der Kamera wird zur moralischen Instanz.
Wieder eine andere Funktion erfüllt der Akt des Filmes
im diesjährigen Eröffnungsfilm: In HORST
BUCHHOLZ MEIN PAPA dient er der Annäherung zweier
Menschen, die sich eigentlich ohnehin sehr nahe stehen sollten.
Christopher Buchholz holt seinen Vater vor die Kamera. Doch
der alte Schauspieler beherrscht das Spiel mit dem Medium
perfekt und gibt wenig preis. Offene Antworten erhält
der Sohn nicht. Und doch entsteht aus Gesprächen mit
anderen Familienmitgliedern und eingestreuten Filmsequenzen
eine Ahnung von dem Menschen, der Buchholz wirklich war. Eine
Annäherung über Umwege und eine Liebeserklärungi
Nani Fux
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