28.05.2017
70. Filmfestspiele Cannes 2017

The winner takes it all...

Fatih Akins Aus dem Nichts
NSU-Thriller auf höchstem Niveau: Fatih Akins Aus dem Nichts
(Foto: Warner Bros. Entertainment GmbH)

Bauchgefühle und Luxusprobleme, lieben oder hassen – Cannes-Notizen, 13. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Fußball ist das Spiel, Borussia seine Seele.«
Auf der Fanseite des BVB

»Campeones, campeones...« Til Kadritzke und ich feierten den Pokalsieg von Borussia Dortmund in der Station Taverne, dem Irish Pub von Cannes, die Spanier freuten sich über Barças 3-1, die Engländer über Arsenals Sieg gegen Chelsea, und die Argen­ti­nier freuten sich über alles. Nachdem wir im letzten Jahr bereits an diesem Ort die Meis­ter­schaft des FC Barcelona feiern konnten, scheint in diesem Jahr der Cannes Fluch endgültig gebrochen zu sein. Diego Lerer erinnerte gestern noch einmal an die vielen Nieder­lagen für Barcelona, Athletico Madrid und Borussia Dortmund, die wir in der Station Tavern erleben mussten. Und an unsre Freundin Violeta Bava, die diesen Fluch persön­lich zu verkör­pern schien. Zweimal kam es in aufein­an­der­fol­genden Jahren dazu, dass in dem Moment, in dem sie das Pub betrat ein entschei­dendes Tor für die falsche Mann­schaft fiel – unter anderem Ramos' Ausgleich gegen Athletico in letzter Minute des Cham­pi­ons­le­ague-Finales. Diesmal war sie nicht da.

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»Almodóvar is like Athletico Madrid: always in the final, never wins«, sagte Violeta aus Barcelona gestern über ihren Landsmann, den Jury­prä­si­denten. »Haneke is Real Madrid. La bestia blanca.« Wir überlegen, ob Almodóvar wohl Haneke überhaupt einen Preis geben würde. Denn schließ­lich wurde er mehr als einmal in Cannes von Haneke geschlagen, und fast immer wenn Haneke dabei war, gab es für Almódovar gar keinen Preis, selbst wenn er am Tag der Preis­ver­lei­hung favo­ri­siert war. Beider Kino ist einander so entge­gen­ge­setzt wie möglich. Barocke Opulenz gegen Askese, Emotion gegen Intel­lek­tua­lität. Ausge­las­sene Party gegen strenge Erziehung. Und doch eint beide zumindest eine Liebe zum B-Movie, die im Fall Hanekes zwar versteckt, aber doch erkennbar ist.
Aber um Haneke und seinen Film Happy End geht es wohl in der Preis­ver­lei­hung nicht. Eine dritte Goldene Palme für ihn wäre eine riesige Über­ra­schung. Happy End ist ein Film, den ich unbedingt noch mal sehen möchte, der aber bei weitem nicht der beste ist, weder von Haneke, noch unter den Filmen des Wett­be­werbs.
Dafür ruht sich der Regisseur etwas zu sehr auf bekannten Klischees vom Groß­bür­gertum aus. Inter­es­sant und für mich etwas wunder­lich ist auch, dass viele Happy End als Gesell­schafts­komödie sehen. Das kann man zwar, aber nur witzig ist der Film ja wirklich auch nicht.

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Als wir nach den Fußball­spielen mit den Spaniern und Latinos noch in bisschen zusam­men­saßen, wurden wir schnell einig: Unser Bauch­ge­fühl sagt, dass Sofia Coppola heute Abend gute Chancen auf einen Haupt-Preis hat. Denn Almodóvar wird, meinte nicht nur Violeta, »sehr darauf bedacht sein, welches Bild er als Jury­prä­si­dent für die Nachwelt abgibt«. Er wird das Bild wollen, dass er Sofia Coppola auszeichnet, endlich wieder eine Frau, und die Tochter eines Filme­ma­chers, der für ihn wichtig ist.

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Von Bauch­ge­fühlen geprägt ist auch das Kino Fatih Akins. Seine Stärke sind die Emotionen, die »starken« Frauen, und die Power der schieren druck­vollen Bewegung der Bilder. Fatih Akins neuer Film Aus dem Nichts, der dies­jäh­rige deutsche Wett­be­werbs­bei­trag, wurde von der inter­na­tio­nalen Presse über­wie­gend positiv aufge­nommen – und schon während der Woche hatte man gehört, der Film sei auf dem wichtigen Cannes-Film-Markt auf begeis­terte Reak­tionen gestoßen und habe sich in die ganze Welt verkauft.

Dass es im Festi­val­pa­lais neben viel Applaus aber auch einzelne Buhrufe gab, kann ange­sichts der Geschichte nicht über­ra­schen: Akin erzählt von einer Frau, deren Mann und Kind bei einem rechts­extremen Terror­an­schlag ermordet werden. Paral­lelen zum NSU-Terror sind nicht zufällig, und Akin zeigt auch struk­tu­rellen Rassismus. Der Film erzählt in drei Akten in ganz unter­schied­li­chen Tonlagen zuerst von der Tat und den unmit­tel­baren Folgen bis zur Verhaf­tung der Täter, dann vom Prozeß, der mit einem Frei­spruch »zweiter Klasse« »im Zweifel für den Ange­klagten« ausgeht und schließ­lich von dem, was darauf folgt: Die Pointe ist nämlich – und dies muss man enthüllen, um über den Film überhaupt sprechen zu können –, dass Krugers Figur dann das Recht in die eigene Hand nimmt: Am Schluss sprengt sie die Mörder per Selbst­mord­at­tentat ins Jenseits – eine weibliche Kohlhaas, die Selbst­justiz und Rache übt, und der auf Erden nicht zu helfen ist.

»Das ist die Entschei­dung des Charak­ters«, vertei­digte Akin seine Figur auf der Pres­se­kon­fe­renz nach dem Film. »Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich Frau und Kind verlöre.« Leider sind die mittleren Passagen über Justiz und Staats­an­walt­schaft der Schwach­punkt der Films, der in erster Linie ein mora­li­sches Drama ist, in dem der Charakter der Mutter, ihr Leid und der Umgang damit, ganz im Zentrum steht. Die Frage der Selbst­justiz, der Kohlhaas-Konflikt zwischen Gerech­tig­keit und Gewalt, Recht und Terror, wird nicht wirklich ausge­tragen. Akin zeichnet auf der Leinwand ein schwarzes Bild unser gegen­wär­tigen Welt.

Zusam­men­ge­halten wird das in erster Linie durch die Deutsche, Französin und Holly­wood­schau­spie­lerin Diane Krueger, die in der Haupt­rolle (für mich) über­ra­schend über­zeu­gend auftritt.
Insgesamt ist mir der Film zu vage. Dem Zuschauer eine Geschichte vorzu­setzen und dann zu sagen, man solle wählen, wie sie moralisch zu beur­teilen sei, nervt. Das ist keine Offenheit, sondern Feigheit. Und wenn man die Geschichte einer mora­li­schen Selbst­mord­at­ten­tä­terin erzählt, muss man sich ein bisschen posi­tio­nieren.

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Unver­s­tänd­lich finde ich aller­dings, wenn die geschätzte und sonst auf poli­ti­sche Korrekt­heit großen Wert legende Hannah Pilarcyk nun ausge­rechnet Fatih Akin vorwirft, dass er die Rolle der Witwe eines Nazi-Terror­an­schlag mit einer vor, dass er diese Rolle mit »einer blonden Bio-Deutschen« besetzt. Es geht hier Akin – der übrigens mit einer »Bio-Deutschen« verhei­ratet ist – bestimmt nicht um Rassismus oder White­washing der »People of Colour«. Um die geht es sowieso nicht. Sondern eher darum, gerade zu zeigen, dass der deutsche Faschismus sich nicht nur gegen »X-stämmige« richtet, sondern alle trifft. Und ich möchte nicht wissen, was Hannah geschrieben hätte, wenn wir eine Kurdin oder Türkin hier als Selbst­mord­at­ten­tä­terin gesehen hätten. Das wäre erst recht ein Klischee gewesen. Narrative Reinheit dieser Art wird es sowieso nie geben, dafür stellt die poli­ti­sche Korrekt­heit der Kunst zu viele Fallen.

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In Cannes hat die Front National im ersten Wahlgang der Präsi­dent­schaft­wahl über 40 Prozent bekommen.

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Sogar der Hund ist traurig. »Why are you so sad?« Das ist der erste Satz, der in diesem Film gespro­chen wird, von einer Frau zu ihrem Hund. Sie ist die Haupt­figur in diesem überaus zähem, über zwei­ein­halb Stunden langen, gefühlt acht­stün­digen Film: Krotkaya (A Gentle Creature) des Russen Sergeij Loznitsa, der aller­dings seit 17 Jahren in Berlin lebt.

Die Frau ist die namenlose Haupt­figur, deren Höllen­fahrt durch ein zwischen Phan­tastik und Realismus unent­schlossen pendelndes Rußland­bild wir folgen müssen. Zu Beginn kommt ein Paket zurück, dass sie ihrem Mann ins Gefängnis geschickt hat, jetzt fährt sie hin um es persön­lich anzu­lie­fern. Schon nach 45 Minuten kommt sie in der Gefäng­nis­stadt an. Während der öden Zugfahrt singen Passa­giere überlaute Lieder von »Comrade Stalin«, den Kosaken und den Wolgafrauen, sodass man nicht einmal gemütlich schlafen kann. Später dann sehen wir unglaub­lich kaputte Körper und Gesichter, die saufen, grölen, Strip­poker spielen. Alle reden schlecht über alle. Und wir sehen eine Frau, die alles mit sich machen lässt – geistig und körper­lich, die nie aufmuckt, wider­steht, duldsam bis zur Verge­wal­ti­gung, einer ebenfalls zähen, minu­ten­langen Gruppen-Verge­wal­ti­gung.

Eine Männer­phan­tasie. Wenn das ein Franzose machen würde, wäre das Buh groß, bei einem Russen will das Kunst­ki­no­pu­blikum glauben, so sind sie halt.

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So sind sie aber nicht. Das ist effekt­ha­sche­ri­sches, Propa­gan­da­kino. Es gibt Hassmails und Hass­pre­diger, aber es gibt auch Hassfilme. Krotkaya ist ein solcher Hassfilm.

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»Das war, ohne zu über­treiben, wirklich die aller­schlimmste Film­erfah­rung meines Lebens. Ich habe diesen Film mit jeder Zelle verab­scheut, war körper­lich angeekelt«, sagt Nil aus Istanbul nach dem Film. »Dieser Film, das sind Schläge ins Gesicht des Zuschauers«, sagte Elisa, in Berlin lebende italie­ni­sche Regis­seurin, die für ein paar Tage in Cannes zu Besuch ist: »Loznitsa ist ein Sadist. Warum muss ich Masochist sein?«
Und gestern dann brachte es José Luis aus Spanien am besten auf den Punkt: »Dass einer sein Leben damit verbringt, die Welt durch Produc­tion Design und Schminke möglichst hässlich zu machen, ist extrem unsym­pa­thisch. Was für ein Arschloch!«

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»Cannes ist ja auch Spektakel«, sagt die Wochen­zei­tungs­re­dak­teurin in der Radio­ka­bine neben mir, käut ein paar Klischees von »fran­zö­si­schem Chau­vi­nismus« wieder, und behaup­tetet, es sei »einer der schlech­testen Cannes-Jahrgänge aller Zeiten«.

Solche Über­trei­bungen erzählen mehr über die Lage der Zunft, vor allem der Print­me­dien, als über die Filme, die man hier sieht. »Zeitungs­lesen ist über­schätzt«, sagte neulich ein mir bekannter Redakteur des Deutsch­land­funk etwas bräsig, aber in der Sache korrekt.
Noch wichtiger: Die Erschöp­fung der Kritiker, die in Cannes größer ist als sonst, nicht nur weil das Festival mit zwölf vollen Tagen noch einen Tag länger dauert als Venedig, und gleich drei Tage mehr als Berlin. Sondern weil die Filme einen mehr fordern, weil sie anstren­gender und nach­wir­kender sind.

Trotzdem habe ich diese oft miese­pe­trige Reaktion vieler Kollegen noch nie verstanden. Ich meine jetzt die ernst­haften, satis­fak­ti­ons­fähigen aus Deutsch­land. Man möchte manchmal regel­recht Mitleid mit ihnen haben, dass die Armen nach Cannes müssen, so klingen ihre Texte. In diesem Jahr ist die Miese­pe­trig­keit besonders stark. Mir geht es zwar auch so, dass ich den Wett­be­werb im Schnitt schwächer finde als letztes Jahr, aber keines­wegs schwach. Er ist nur weniger abwechs­lungs­reich, es fehlen die Werke, die man »outstan­ding« nennen würde, das Extreme, Expe­ri­men­telle, das inter­es­sant Miss­glückte, es fehlt ein Werk, das der beste Film seines Regis­seurs wäre, und es fehlen die »Crowd­p­leaser« – die es aller­dings in den Sektionen sehr wohl gibt. Ich mag auch manche Filme überhaupt nicht – aber die Ausein­an­der­set­zung sind sie wert, die Kritik. Sie sind sehr, sehr selten nur belanglos. Das unter­scheidet sie von Filmen im Wett­be­werb von Berlin und erst recht Locarno oder San Sebastián. Fast jeder Film im Wett­be­werb von Cannes würde diese Festivals schmücken, und man würde dort zu den stärksten Filmen rechnen. Diese Miese­pe­trig­keit vieler Kollegen ist also Jammern auf sehr hohem Niveau, eine Verwöhnt­heit, die die Kollegen nicht reflek­tieren. Luxus­pro­bleme.

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Lieben oder hassen, da rümpfen unsere politisch korrekten Film­kri­ti­kerInnen immer schon ihre Näschen, sooohoo kann man doch nicht über Filme reden. Kann man nicht? Kann man doch! Muss man. Fragt mal die Argen­ti­nier. Die Spanier. Die Franzosen. Die Öster­rei­cher. Sogar die Holländer.

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Wir wollen es nicht vergessen: Das Weltkino-Orakel. In vielen der letzten Festivals konnte man sich darauf verlassen, dass ein Film gewinnen würde, der sich bereits im Besitz des Leipziger Weltkino-Verleihs befand. Letztes Jahr in Cannes hat es zwar nicht ganz geklappt, aber immerhin bekamen die Filme von Olivier Assayas und Xavier Dolan wichtige Preise. In diesem Jahr hat Michael Kölmel bisher nur einen einzigen Film gekauft: L’amant double.
Der neue Film von François Ozon war über­ra­schend. Es ist ein herrlich exzen­tri­scher, souverän insze­nierter und pracht­voll ausge­stat­teter Psycho­thriller mit Hitchcock-Touch, genau jene Mischung aus B-Movie und Melodram, die Almodóvar so liebt.
Mehr dazu in den nächsten Notizen.

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Das wird also die prin­zi­pi­elle Wahl sein, die die Jury zu treffen hat, wenn sie nicht einen Kompro­miss­kan­di­daten wie François Ozons Psycho­thriller-Spiel L’amant double prämieren will: Entscheidet sie sich am Ende eines anstän­digen, aber nicht wirklich heraus­ra­genden Festi­val­jahr­gangs für huma­nis­ti­sches, offenes Kino, wie es auch die Japanerin Naomi Kawase und der Koreaner Hong Sang-soo bietet, oder eher für die anti-huma­nis­ti­schen Portraits unserer Welt als Panop­tikum aus Amoral und Dummheit: In den neuen Filmen von Michael Haneke oder des Schweden Ruben Östlund, erst recht in den beiden russi­schen Wett­be­werbs­filmen, gibt es nur schlechte Gründe, Glück und Hoffnung sind gestorben. Derar­tiges Depres­sions- und Misan­thro­pie­kino verrät die eigene Kritik, weil es keine Auswege zeigt, und sich darin noch gefällt.

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Film ist die Kunst, Cannes seine Seele.

(to be continued)