22.05.2017
70. Filmfestspiele Cannes 2017

Wer quält nicht gerne unter Palmen?

THE KILLING OF A SACRED DEER
The Killing of a Sacred Deer: großartiger Arthouse-Horror
(Foto: Alamode Film – Fabien Arséguel e.K. / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.)

Die Stunde der Regie-Sadisten: Zwischen Schmerz und Spiel, neue Filme von Michael Haneke und Yorgos Lanthimos im Wettbewerb; Cannes-Notizen, 7. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»In der Tat ging mir bereits als drei­zehn­jäh­rigem Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich, in einem Alter, wo man 'halb Kinder­spiele, halb Gott im Herzen' hat, mein erstes lite­ra­ri­sches Kinder­spiel, meine erste philo­so­phi­sche Schrei­bü­bung...«
Friedrich Nietzsche: »Zur Genea­logie der Moral«

»The Operation was a success, but unfort­u­n­a­tely the doctor didn’t make it.«
Aus: The Killing of a Sacred Deer

Auch bei Michael Haneke gilt das Prinzip: Man weiß, was man sieht. Man sieht den Film, weil er von Haneke ist, daher anders. Man kennt sein Werk, geht mit bestimmten Erwar­tungen in den Film. Zu diesen Erwar­tungen gehört bei Haneke Gewalt.

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Ist dies nun eine Komödie? Michael Haneke wirkt zwar auf viele wie ein No Nonsense-Regisseur. Tatsäch­lich aber könnte es sich bei all seinen Filmen um bittere Humo­resken handeln, um schwarzen Humor,
Happy End ist der am wenigsten plot­ge­trie­bene Film, den ich von Haneke kenne. Es ist auch der am wenigsten gewalt­tä­tige Film vom ihm seit langer Zeit. Natürlich gibt es eine Handlung, auch eine Geschichte, aber sie ist nicht so eindeutig, weniger linear, als in früheren Filmen. Die Zwei-Sätze-Synopsis des Pres­se­hefts trifft es ganz gut: »'Rundherum die Welt, und wir mitten­drin, blind.' Die Moment­auf­nahme einer bürger­li­chen europäi­schen Familie«
Ich hätte es nicht besser sagen können. Ich hätte aller­dings den ersten Satz wegge­lassen.

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Happy End ist überdies ein Film, in dem Haneke viele seiner früheren Werke sehr offen, zum Teil sogar in Einstel­lungen und Dialogen, zitiert. Für jeden erkennbar sind Amour, Caché, Benny’s Video. Etwas versteckter, aber doch aufspürbar waren im Gespräch unter Kollegen nach dem Film: Der Siebente Kontinent, Code inconnu, Das weiße Band.
Ansonsten stellt er uns eine Familie vor, für die der Ausdruck »bürger­lich« eher wie Unter­trei­bung klingt. Wenn man wie ich mit dem Terminus »Bürger­lich­keit« vor allem Bildung und Stil, eine über Gene­ra­tionen gewach­sene Kultur und Haltung verbindet, kann man hier sowieso seine Zweifel haben. Haltung fehlt, der Stil beschränkt sich auf das sehr strenge gemein­same Frühstück, und aufs Silber­be­steck. Sie sind stink­reich. Sie haben in Calais ein großes Bauun­ter­nehmen und finan­zi­elle Probleme, sie wohnen in einer Stadt­villa aus dem 19. Jahr­hun­dert mit zwei Flügeln, reprä­sen­ta­tivem Trep­pen­haus, kies­um­säumtem Garten im Innenhof und einem aggres­siven Schä­fer­hund, der viel­leicht »Blondie« heißt. Das Haus lernen wir nie komplett kennen, es gibt weniger Über­sicht­lich­keit, als oft in den Räumen von Hanekes Filmen. Das mag aber auch an der schieren Größe dieses Gebäudes liegen. Im einen Flügel wohnt der von Jean Louis Trin­tignant gespielte über 80-jährige Vater, im zweiten seine Tochter Anne (Isabelle Huppert), die das Unter­nehmen leitet und ihr Bruder Thomas (Mathieu Kassowitz), ein Karrie­re­arzt in der städ­ti­schen Klinik, der in zweiter Ehe verhei­ratet und Vater eines Klein­kinds ist. Jetzt zieht auch noch Eve mit ein, die Tochter aus Thomas' erster Ehe, deren Mutter im Kran­ken­haus liegt.
Bürger­lich ist eher Haneke selbst. Mit viel Under­state­ment mischt er die Themen »Flücht­linge« und »Migration« ähnlich wie in  Caché und Code: unbekannt unter seinen Filmteig. Der Ort Calais ist in diesem Zusam­men­hang natürlich auch nicht zufällig gewählt. Rachid und Dschamila, zwei Diener marok­ka­ni­scher Herkunft rufen Erin­ne­rungen an Caché wach. Ihre Blicke auf ihre weißen reichen Herren sind zwar devot, scheinen aber doch immer einen sehr grund­sätz­li­chen Vorwurf auszu­drü­cken. Und in zwei sehr prägnanten Szenen sieht man jeweils eine Handvoll Schwarz­afri­kaner am Rande dieser bürger­li­chen Kulissen.

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Was ist schon zufällig bei Haneke? Im Zwei­fels­fall auch nicht die Tatsache, dass die anti­mo­derne Revolte der weißen Unter­schichten der Demo­kra­tien hier ausge­spart bleibt. Le Pen-Anhänger sind in Hanekes Calais noch nicht einmal zu ahnen.
Dafür hören war zweimal Juristen beim lauten Verlesen von Verträgen. Die Legi­ti­ma­tion durch Verfahren funk­tio­niert in diesen Kreisen noch. In der Gesell­schaft vertraut man ihr zusehends nicht mehr.

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Was wird erzählt? Das genau ist lange Zeit die Frage. Es geht eher um das Tableau der Figuren, die in ihrer jewei­ligen persön­li­chen Situation sehr genau vorge­stellt werden. Der alte Vater will sterben, die Tochter die Macht im Fami­li­en­un­ter­nehmen für sich und ihren Sohn sichern, der Sohn fremd­gehen, der Sohn der Tochter badet in Selbst­mit­leid, die Tochter des Sohnes fühlt sich verloren und unhei­misch – alle sind gewis­ser­maßen ganz normal gestört.
Zugleich kann man sich aus ein paar, Haneke-üblich vagen und perma­nentes, sehr genaues Hingucken verlan­genden Andeu­tungen eine sehr klare Geschichte zusam­men­setzen, die mögli­cher­weise sogar auf eine Thriller-Handlung hinaus­läuft. Man versteht viele der Beob­ach­tungen zuerst nicht, zugleich zeigt jede Szene sehr viel über die Bezie­hungen dieser Menschen zuein­ander.
Aber sicher ist hier eben nichts, und je nachdem, was man von diesem Regisseur hält, wird man Haneke wahlweise vorhalten, dass er sich nicht festlege, entscheide, unnötig vage und pseu­do­be­deutsam sei, oder eben an ihm preisen, dass hier mal einer endlich offene Filme mache, wohltuend viel­schich­tiges Kino, viel­deutig ausleg­bare Geschichten erzähle, die der Komple­xität unserer Gegenwart gerecht werden, und den Betrachter nicht bevor­munden. Ich neige zu dieser zweiten Auslegung. Man wirft Haneke ja gern vor, didak­ti­sches Lehrer­kino zu machen – das finde ich ganz und gar nicht. Er nimmt niemanden an die Hand, hat keinen Zeige­stock, sehr wohl aber vermit­telt er seinen Zuschauern Erfah­rungen. Diese öffnen und erschließen die Welt, sie verengen sie nicht.

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Insofern ist die 13-jährige Eve auch die rätsel­haf­teste und aller Wahr­schein­lich­keit zentrale Figur des Films. Insze­niert ist sie so, dass wir mit ihr Mitleid empfinden, empa­thisch reagieren: Ein armes Kind mit engels­glei­chem immer irgendwie traurigem Gesicht, das erst Schei­dungs­opfer wurde, und jetzt bringt sich die Mutter um, und sie muss in einer völlig unbe­kannten Umgebung, bei fremden und kalten Verwandten, neu anfangen. Tatsäch­lich aber verstehen wir im Laufe des Films, dass Eve womöglich eine moderne Schwester der bösen Kinder aus »Das Weiße Band« ist: Sie lügt, ist verschlagen, spielt die Erwach­senen gegen­ein­ander aus, nachdem sie in deren Intim­leben herum­ge­schnüf­felt hat. Nach ihrem Selbst­mord­ver­such besucht sie ihr Vater Thomas im Kran­ken­haus: »Ich liebe Dich sehr« – aber das Kind antwortet ihm: »Papa! Hör auf mit dem Scheiß-Gerede. Ich habe Deine Mails und Deine Chats gelesen. Du liebst niemanden, nicht Mama, nicht Deine Frau Anais, nicht diese Claire, Deine Geliebte, und mich auch nicht. Ich will einfach nur wissen: Nimmst du mich mit, wenn Du dich von Anais trennst? Ich will nicht ins Heim.«
Und ganz am Ende erscheinen die Handy­auf­nahmen, mit denen der Film einsetzte, in neuem Licht. Betrachtet man den Film von seinem Ende her, legen sie nämlich nahe, dass Eve es war, die ihrer Mutter jenes Gift gegeben hat, das sie zuvor an Meer­schwein­chen auspro­bierte.
Die Wahrheit liegt im Auge des Betrach­ters. Der Schmerz auch. Und mehr denn je bei Haneke der ganze Film.

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In formaler Brillanz, mit ruhigen, span­nungs­vollen Tableaus und beherrscht von einem sarkas­ti­schen Unterton, in dem Haneke nach wie vor unüber­troffen bleibt, erlebt man eine filmische Fami­li­en­auf­stel­lung, die auch die Aufstel­lung einer satu­rierten Gesell­schaft ist. Es geht um soziale Dynamik in diesem harten, kühlen Film, den man zugleich als sarkas­ti­sche Komödie begreifen kann.
Sein Thema aber ist ernst: Der Untergang des Westens durch die Frivo­lität der Reichen und die Unfähig­keit, die eigenen Ideale zu leben, wie der, sich andere zu geben. Denn das Private ist auch bei Haneke immer politisch. Krise ohne Alter­na­tive, res publica amissa, Anomie.

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Im Pres­se­raum komme ich mit Gorgius ins Gespräch, einem Kollegen aus Grie­chen­land. Er fragt mich, wie ich dies und jenes fand, wir plaudern, und er sagt mir, dass er die meisten grie­chi­schen Filme blöd findet. Vor allem die, die versuchen Ange­lo­polos nach­zu­ei­fern. Darum sei die Neue Grie­chi­sche Welle so wichtig für das Land. Gorgius liebte die Filme von Tsangari und von Lanthimos, dessen Film dann am Montag­morgen gezeigt wurde, gleich nach Haneke.

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Ganz im Ernst glaube ich eher nicht, dass Haneke ein Sadist ist. Ihm macht es bestimmt Spaß, seine Zuschauer ein bisschen zu quälen, ihre Nerven zu kitzeln, aber das ist es dann auch.
Bei Lanthimos bin ich mir nicht so sicher. In dessen Filmen geht es immer um zwei Dinge: Schmerz und Spiel. Schmerz heißt: Wie macht man es, dass der Zuschauer etwas wirklich spürt, selber körper­li­chen Schmerz empfindet, wie schafft man es, dass die vierte Wand durch­bro­chen wird. Wir wollen ja im Kino sitzend gerade nicht, wie im Theater oder in einer Kunst­per­for­mance, uner­wartet direkt mitein­be­zogen werden, mitspielen müssen. Wir wollen Voyeure bleiben. Die also die Distanz aufheben?
Bei Ruben Östlunds The Square hatte ich geschrieben: Es geht um Vertrauen. Nicht so bei Haneke und Lanthimos. Diese beiden Filme sind Miss­trau­ens­filme.

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Mit Schuberts »Stabat Mater« setzt der Film ein, laut, heftig, erschüt­ternd, »Jesus Christus!« Ein mensch­li­ches Herz schlägt schnell und verwundbar, Bilder einer Operation am offenen Herzen. »Jesus Christus!!«
Der Herz­chirurg wird von Colin Farrell gespielt, mit großem Bart. Ein paar Minuten lang Leben in einem Arzt­haus­halt, Ehefrau, zwei Kinder. Der Chirurg lobt Andreas Gruentzig, und macht einen zynischen Witz: »The Operation was a success, but unfort­u­n­a­tely the doctor didn’t make it.«
Lanthimos' Kamera ist immer in Bewegung, wenn auch langsam zoomt sie an die Figuren heran. Das Reden dieser Figuren ist immer etwas zu schnell, zugleich emoti­onslos, inhalt­lich sind die Dialoge banal. Im Hinter­grund atonale Musik. Ein grund­sätz­li­cher Absur­dismus steht im Raum, ebenso wie Depres­sion. Verfrem­dungs­maß­nahmen im Kampf gegen den Natu­ra­lismus.
Es kommt Besuch von Martin, einem 16-jährigen, der in den letzten Wochen mit Steven, dem Chirurgen Kontakt aufge­nommen hat. Steven war der Arzt von Martins Vater, der nach einer Operation starb. Am nächsten Tag besucht Steven den Jungen, dessen Mutter kocht, und dann erfolglos Annähe­rungs­ver­suche macht.
Sanft geht dieses von Anfang an etwas seltsame Verhältnis in etwas anders über: Stalking. Doch da ist es schon zu spät, Stevens Tochter Kim trifft sich heimlich mit Martin, und eines Morgens kann der 13-jährige Bob nicht mehr laufen.
In der Cafeteria eröffnet Martin Steven: »Yes it is exactely what you think: Du hast einen aus meiner Familie getötet, jetzt wird einer von Deiner Familie sterben. Du hast ein paar Tage Zeit, Dich zu entscheiden, wer. Tust Du es nicht, werden alle sterben.
Jetzt kennen wir die Spiel­re­geln dieses Films. Es gibt Gewinner und Verlierer, das ist nicht zu ändern.«

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The Killing of a Sacred Deer ist groß­ar­tiger Arthouse-Horror. Lanthimos entfaltet über die Versuche des Vaters, dem Schicksal auszu­wei­chen und einen Ausweg zu finden, einen komplexen Diskurs über Spiel und Regeln, Psyche und Physis, Ratio­na­lität und Irra­tio­na­lität. Sein Film ist ein groß­ar­tiger Labor­ver­such, der zugleich einen Blick aufs Feld der grie­chi­schen Mytho­logie eröffnet: Offen­kundig ist der Mythos der Iphigenie. Der barsche Agamemnon musste für seine Schuld seine Tochter opfern. Der Filmtitel spielt darauf an, dass nach einer Legende das Mädchen in letzter Sekunde durch eine Hirschkuh ersetzt wurde. Auch hier bietet Tochter Kim an, zu sterben, und keines­wegs zufäl­li­ger­weise hat sie in einem Chor gesungen und in der Schule Iphigenie rezitiert.
Die Götter fordern auch hier ihr Opfer. Und eine barsch entschlos­sene Mutter sagt: »The most natural thing is to kill a child.« Man könne ja ein Neues machen.

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Lanthimos ist (nach Östlund und Haneke) der dritte Regisseur, der die Abgründe der west­li­chen Mittel­stands­ge­sell­schaft ins Zentrum rückt. Echte Kritik an den Verhält­nissen, eine Schärfe, mit der die latente Verach­tung zur expli­ziten Verach­tung wird, fehlt allen drei Filmen. Ebenso eine Utopie. Sie sind als selbst-kritische, aber nie selbst-über­schrei­tende Filme komplett dem verhaftet, was sie kriti­sieren; sie sind zutiefst bourgois.
Im Unter­schied zu den beiden anderen gibt Lanthimos aller­dings dem Zufall mehr Raum, und erlaubt er sich die Provo­ka­tion durch Mytho­logie und Geheimnis. Es gibt viele offene Stellen hier, aber Lanthimos wirft keine Nebel­kerzen. Er zeigt seine Wunde.

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Die Sicht auf die Erwach­senen-Welt mit Kinder­augen, das Opfer der Kinder für die Sünden der Erwach­senen – das verbindet mindes­tens vier Filme, auch Hanekes und Lanthimos'. Ebenso der Pessi­mismus vieler Filme, trotzdem es sich um Komödien handelt. Und das neue Interesse für Darwi­nismus – den Gehorsam gegenüber der Evolution und dem Recht des Stärkeren.
Die letzte Szene von Hanekes Film ist die groß­ar­tigste, eine die die Sicht der Zuschauer auf vieles Vorher­ge­hende verändert: Zwei Partners in Crime, zugleich eine Szene voller sarkas­ti­schem schwarzen Humor.

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Nach der Vorstel­lung von Haneke saßen Nil aus der Türkei, Ronald aus Holland und ich erstmal beim Italiener hinter dem Palais, um uns bei Pizza und Salat von der Erfahrung zu erholen und zu überlegen, ob man »Happy End« auch als Komödie verstehen kann. Da geht Adèle Haenel die Straße entlang; ganz allein, und nicht aufge­bre­zelt mit den Outfits irgend­wel­cher Model-Label, sondern in weiten Arbei­ter­hosen und Leder­stie­feln.

(to be continued)