19.02.2016
66. Berlinale 2016

Fiktionen des Wirk­li­chen

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert: Eldorado XXI
Sieht nur auf den ersten Blick wie ein Dokumentarfilm aus: Eldorado XXI

Filme, die nur so tun, als wären sie Dokumentarfilme

Von Dunja Bialas

Als Grenz­gänger kann man sie bezeichnen, Grat­wan­derer und Seil­tänzer: Filme, die mit dem Vokabular von Doku­men­tar­filmen sprechen, sich aber mitsamt den Wirk­lich­keits­an­teilen, die sie in der real doku­men­tier­baren Welt aufsam­meln, über den Abgrund der Fiktion begeben. Ob dies leicht­fertig oder mit Bravour geschieht: das hat viel zu tun mit dem Stand­punkt des Betrach­ters. Denn das Spiel mit dem Wirk­li­chen gerät unter dem Blick der Doku­mentar-Verfechter zu einer Wirk­lich­keits­ver­fäl­schung, zu einer waghal­sigen Abkehr von der Verpflich­tung zu Methodik und Ethik des Doku­men­ta­risten. Bewun­de­rung erfährt der Balan­ceakt von allen Kino-Träumern: die das Zusam­men­treffen von Doku­men­ta­tion und Fiktion begrüßen, weil es das Imaginäre, den diffusen Unter­grund von Erzäh­lungen, Mythen und Träumen, der das Wirkliche begleitet, hervor­treten l ässt.

Apichat­pong Weer­a­set­hakul hat für die Seelen­wan­de­rung des Wirk­li­chen eine neue filmische Metapher geschaffen: Vapour. In seinem Kurzfilm, der auf der Woche der Kritik parallel zur Berlinale gezeigt wurde, schickt der thailän­di­sche Regisseur eine Wolke durch den Ort, an dem er wohnt: Wie Dampf und Nebel, aber auch unheil­voll wie Rauch­schwaden eines bereits gelöschten Feuers, wandert sie durch die Häuser des Ortes, bahnt sich ihren Weg durch die Fenster und Türen. Der Ort ist real, das Bild wirkt doku­men­ta­risch, der Vorfall ist es nicht. Unsi­cher­heit gegenüber dem Darge­stellten kommt auf und die vage Vermutung, es mit einer poli­ti­schen Anspie­lung zu tun zu haben. Auf der Website heißt es: »Vapour takes place at Toongha village in Mae Ram district that has been Apichat­pong’s home for the past eight years. The village is one of several areas in the country that are plagued with land manage­ment issues. For the past sixty years, it has been a batt­le­ground between the people and the state.« Auch ein Versuch, Werk und Wirk­lich­keit zu fassen.

Zwei Autoren des dies­jäh­rigen Forum-Programms schickten ähnlich wie Weer­a­set­hakul eine Wolke des Imaginären durch ihre doku­men­ta­risch ange­legten Werke: Der deutsche Regisseur Philip Scheffner und die Portu­giesin Salomé Lamas. Beide zeigen die Wirk­lich­keit als Dipositiv, als Anordnung, in die sie eingreifen. Philip Scheffner, der hier bereits mit seinem insze­nierten Film-im-Doku­men­tar­film And-Ek Ghes vorge­stellt wurde, hat in dem zweiten, ebenfalls im Forum präsen­tierten Film Havarie die Wirk­lich­keit gedehnt, bis sie sich in ihrer ganzen Deut­lich­keit zu erkennen gibt: Havarie, das ist der Schiff­bruch mit Zuschauer. Ein Video, das ein Urlauber bei einer Kreuz­fahrt aufge­nommen hat, ist die Bild-Spur des Films: ein bemanntes Boot treibt auf dem offenen Meer. Hier wurde aus erhöhter Perspek­tive gefilmt: vom Deck des Dampfers aus, aus der Sicher­heit des festen Schiffs und aus der Comfort­zone des Urlaubers. In Sicht­weite das Boot, ein Schlauch­boot mit sechs bis sieben Personen, erkennbar nur als Silhou­etten, das Boot sichtlich steuerlos, treibend: eines der ersten Dokumente der Migration über das Mittel­meer, das Video wurde 2012 aufge­nommen. Gefilmt hat der Ire Terry Diamond, der seinen Film auf Youtube stellte. »It wasn’t in the media at the time«, erläutert Diamond bei der Premiere, er fand es wichtig, dass die Welt erfährt, was sich auf dem Mittel­meer abspielt. Philip Scheffner zeigt die drei­ein­halb-Minuten-Sequenz in Einzel­bild-Abfolge und dehnt sie so auf die Länge von einein­halb Stunden. Aus dem Off ertönt eine Collage von Stimmen: ein Kapitän eines Contai­ner­schiffs, Anrufe einer Frau, die von ihrer bevor­ste­henden Abreise erzählt, eine Liebes­ge­schichte, die sich auf der Tonspur vollzieht. Scheffner hat aus den Frag­menten des Aufbruchs und der Überfahrt, aus Stimmen und Situa­tionen, die der Havarie des Bootes voraus­ge­gangen sein oder sie begleitet haben könnten, eine Tonspur gesponnen; Grundlage ist der gleich­na­mige Krimi­nal­roman seiner Co-Autorin Merle Kröger. So entsteigen, ähnlich wie in seinem Film The Halfmoon Files (2007), den Zwischen­räumen der Einzel­bilder die Geschichten der Menschen wie Gespenster- und Geis­ter­ge­schichten.

Natürlich erfahren wir nichts über die realen Schick­sale der im Meer Trei­benden, auch blendet Scheffner sowohl den Ort als auch die weitere Entwick­lung aus (wurden die Hava­risten gerettet?). Alles wird, wie in der Dehnung der Aufnahme, zeitent­hoben, der Wirk­lich­keit entrissen. Univer­sa­lität macht sich breit und Anthro­po­logie: die Gewor­fen­heit des Menschen ange­sichts seiner Träume und Wünsche.

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Philip Scheffner, das darf nicht vergessen werden, hat für die Tonspur in weiten Teilen gleich­falls in der Art des Doku­men­tar­fil­mers gear­beitet. Er reiste nach Nord­afrika, in die Orte des Aufbre­chens und zu den Küsten­wa­chen am Mittel­meer und filmte die inter­viewten Menschen. Später behielt er von den Aufnahmen nur die Tonspur behielt. Er hat, indem er das Anfangs­bild für seinen Film, das im Meer treibende Boot, nicht durch andere Bilder bedrängte oder ergänzte, trotz aller Bear­bei­tung und künst­le­ri­scher Entfer­nung, die Essenz des Bildes und des Hergangs bewahrt.

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Auch Eldorado XXI sieht nur auf den ersten Blick wie ein Doku­men­tar­film aus. Er ist ein filmi­sches Gemälde das direkt in die Vorhölle führt: in die Goldminen der perua­ni­schen Anden. Die Portu­giesin Salomé Lamas zeigt in dichten Tableaus die Arbeits­welt der Minen­ar­beiter, vor allem aber der Arbei­te­rinnen, die sich zu einer neuen Orga­ni­sa­tion formieren. »Se vende cubos«, steht auf einer der vielen Wellblech-Baracken, die sich silber­grau in das steile Fels­massiv ducken: Container zu verkaufen, als Unter­kunft für die zahllosen Gold­su­cher, die auf eigene Faust arbeiten. Der Ort ist mehr als unwirt­lich und, wie Lamas im Anschluss über die Dreh­ar­beiten erzählt, kein Ort, an dem sich Menschen aufhalten sollten: zu hoch, zu kalt, zu entlegen, „on the edge of the world“. Sechs Wochen hat sie in den Anden gedreht, ist jeden Tag ins Tal zurück­ge­fahren und hat sich dennoch an die Höhe gewöhnt, damit sie nicht, wenn sie filmt, als einzige mit Sauer­stoff­maske arbeiten muss.

Den Ort und ihre Prot­ago­nisten hat sie gecastet: nach dem spek­ta­kulär Extremen, nach der Möglich­keit, in Andeu­tungen eine Geschichte erzählen zu können. Lamas Film ging eine Instal­la­tion voraus, die als erste Sequenz enthalten ist: man sieht bei Dunkel­heit die Arbei­te­rinnen und Arbeiter in Schutz­klei­dung den schie­fer­be­deckten Hang hinauf und hinun­ter­gehen, in einer nie abreißenden Auf- und Abwärts­be­we­gungen, nur denkbar in einer räum­li­chen Paradoxie wie bei Gödel, Escher, Bach: das Hinauf führt im selben Moment wieder hinunter. Die eins­tün­dige Anfangs­se­quenz ist der Auftakt zur Schil­de­rung einer Vorhölle in mythi­scher Dimension. Aus dem Off ertönt während­dessen eine Sendung des Frühs­tücks­ra­dios, die gut gelaunt über Aspekte des Goldes, der Rechte der Arbeiter, kommende Geset­zes­än­de­rungen durch die Regierung infor­miert.

Nach dem dichten Auftakt wird im weiteren Platz für die Prot­ago­nis­tinnen gemacht. Man sieht sie bei der Arbeit in den steilen Hängen, bei harschem Schnee­sturm oder tief im Schlamm stehend. Alles ist mehr als unwirt­lich, ein perma­nentes Donner­grollen liegt über dem weit­ge­fassten Plateau, auf dem sich die Häuser und das Laufen der vielen Minen­ar­bei­tern wie auf einem Gemälde von Breughel ausnehmen.

Natürlich lässt sich hier die Frage stellen, ob Lamas mit ihrem Film nicht einen Beitrag zum Exploita­tion-Kino macht, indem sie die Schick­sale der Menschen für ihre eigenen Zwecke „miss­braucht“. Dies wäre dann: Aus ihrem Schicksal ein über­wäl­ti­gendes und depri­mie­rendes Kunstwerk geschaffen zu haben, das die Welt in mythische Dimen­sionen bringt. Wäre aber ein Doku­men­tar­film, der auf die Über­höhung und auf die Gestal­tung seiner Bilder zugunsten der Effekte des Realen verzichtet, der Wirk­lich­keit näher? Lamas schafft einen akustisch-visuellen Erleb­nis­raum, der direkt auf die Psyche unserer Wahr­neh­mung zielt. Der Schrecken des Groß­ar­tigen ist bei ihr glei­cher­maßen erfahrbar.