06.05.2015

Fieber­kurven des Doku­men­tar­films

Daniel Sponsel
Daniel Sponsel, seit 2010 Leiter des Dok.fest, ist Fan von Fieberkurven, an denen sich der wachsende Erfolg des Festivals ablesen lässt. Das zweite Interesse des leidenschaftlichen Marathonläufers gilt dem Wetter. Er weiß: gutes Wetter heißt nicht strahlend Sonnenschein. Vor grauem Himmel hebt sich die neue Dok.fest-Farbe, ein leuchtendes Orange, auch viel besser ab.
Foto: Dok.fest

Das Münchner DOK.fest wird 30 – Herzlichen Glückwunsch!

Von Felicitas Hübner

»Kann ein Doku­men­tar­film die Welt verändern?«, fragt Daniel Sponsel. Als Festi­val­leiter des DOK.festes wird er diese rheto­risch-spie­le­risch-neckische Frage sowieso mit »Ja« beant­worten müssen. Die Welt werden Filme eher nicht verändern, aber zumindest den Blick auf sie. Auch in seinem dreißigsten Jahr zeigt das DOK.fest Filme, die den Blick verändern. Mit Gebär­druck sowie Kinder­wunsch­theorie und -praxis setzte sich die 1970 geborene Ina Borrmann in ihrem Film Alle 28 Tage ausein­ander. Die meis­ter­hafte Montage Une jeunesse allemande von Jean-Gabriel Périot porträ­tiert die Anfänge der RAF vor den Kulissen der BRD der 1960er Jahre. Es ist ein Wieder­sehen mit Holger Meins, Ulrike Meinhof und Horst Mahler. Laura Poitras begleitet in Citi­zen­four Edward Snowden und den insze­nierten Skandal um ihn. Sehens­wert mit und ohne Oscar.

DOK.retro

Anläss­lich von Jubiläen blickt man auch zurück: Das aller­erste DOK.fest fand 1985 und in zwei Kinosälen statt. Die drei Festi­val­lei­terInnen Gudrun Geyer (von 1985 bis 2001), Hermann Barth (von 2002 bis 2009) und Daniel Sponsel (seit 2010) haben das DOK.fest zu einem der größten Festivals für den künst­le­ri­schen Doku­men­tar­film in Europa entwi­ckelt.

Die Gründung des Doku­men­tar­film­fes­ti­vals geht auf die Initia­tive der baye­ri­schen Sektion der Arbeits­ge­mein­schaft Doku­men­tar­film zurück, die sich zum Ziel gesetzt hatte, den doku­men­ta­ri­schen Film zu popu­la­ri­sieren und einem breiten Publikum zugäng­lich zu machen. In Zusam­men­ar­beit mit dem Verein »Filmstadt München«, einem Zusam­men­schluss örtlicher Film­initia­tiven, konnte 1985 das Inter­na­tio­nale Doku­men­tar­film­fes­tival München mit städ­ti­scher Unter­s­tüt­zung an den Start gehen. Zur Leiterin wurde Gudrun Geyer berufen, die innerhalb eines Jahr­zehnts ein großes, weltweit aner­kanntes Doku­men­tar­film­fes­tival aufbaute, ab Mitte der Neunziger nur zu verglei­chen mit den Festivals in Leipzig, Amsterdam, Nyon oder Yamagata.

Nach dem Rücktritt Gudrun Geyers 2001 übernahm Hermann Barth im Auftrag des neu gegrün­deten Vereins Inter­na­tio­nales Doku­men­tar­film­fes­tival München die Aufgabe, das Festival in München, Deutsch­land und weltweit weiter zu profi­lieren. Seit 2002 firmiert das Festival unter dem Marken­namen DOK.fest mit erwei­tertem Programm, und er enga­gierte Grafik­de­si­gner Gerwin Schmidt, der Jahr für Jahr eine Motiv­serie entwarf, mit dem die Stadt fächen­de­ckend plaka­tiert wurde. Das DOK.fest München bietet seither einen Rückblick auf die wich­tigsten Filme des Jahres, begleitet Filmo­gra­fien renom­mierter Filme­ma­cherInnen, unter­s­tützt Filme­ma­cherInnen aus so genannten »low produc­tion countries«, auch geldwert mit dem neu einge­führten »Horizonte«-Preis, und sorgt für nach­hal­tige Verbin­dungen zwischen etablierten Regis­seurInnen und Nachwuchs.

Die Plakate von Gerwin Schmidt greifen seit 2002 ins Stadtbild ein – heute in leuch­tendem Orange.

2009 geht Hermann Barth. Die neue Leitung übernimmt 2010 Daniel Sponsel mit der anfäng­li­chen geschäfts­füh­renden Unter­s­tüt­zung von Christian Pfeil. Aus dieser Zusam­men­ar­beit entstand neben dem Orange als Festi­val­farbe und den einpräg­samen Sekti­ons­ti­teln »DOK.reihe«, auch die Bayern­reihe DOK.tour. Daniel Sponsel setzt auf das bewährte Erfolgs­kon­zept des bundes­weit größten Festivals für lange Doku­men­tar­filme und erweitert es um die neuen Reihen DOK.deutsch, DOK.guest und wech­selnden Themen­reihen, kehrt zur Retro­spek­tive zurück, die unter Hermann Barth wegen zu hoher Kosten abge­schafft worden war, und präsen­tiert seitdem in Pres­se­kon­fe­renzen steigende Fieber­kurven von Geld­mit­teln und Zuschau­er­zahlen.

DOK.aktuell

Weil es nun eben schon das 30. DOK.fest ist, wird heuer im Deutschen Theater eröffnet. Passend zur Location ist der Eröff­nungs­film ein Film aus der Schau­stel­ler­branche, ein Zirkus­film. Der dänische Film The Circus Dynasty ist atmo­sphäri­sches und hoch emotio­nales Kino, ein visueller Augen­schmaus. Er zeigt eine Liebes­ge­schichte zwischen den Nach­kommen zweier berühmter Zirkus­fa­mi­lien. (Do. 07.05., 20:00 Uhr, Deutsches Theater / Fr. 08.05., 21:30 Uhr, City 1 / Do. 14.05., 16:00 Uhr, Rio 2 / Sa. 16.05., 20:00 Uhr, Rio 1)

Eröffnet wird 2015 mit einem Zirkus­film: The Circus Dynasty

Die zweite Jubiläums­zu­gabe ist die Verlän­ge­rung der Spiel­dauer des oran­ge­far­benen Festivals. Waren es sonst sieben Tage, werden in diesem Jahr über einen Zeitraum von zehn (!) Tagen um die 140 Filme gezeigt.

Neben den Wett­be­werbs­reihen DOK.inter­na­tional, DOK.deutsch, DOK.horizonte gibt es viele spannende Specials wie DOK.money, DOK.network Africa, DOK.music Open Air und Best-of-Oscars.

Die Rote Armee Fraktion erschüt­terte einst das west­deut­sche Abendland. Doch noch immer ist die RAF histo­risch nicht einge­ordnet. In der Wett­be­werbs­reihe DOK.deutsch beschäf­tigt sich der Filme­ma­cher Simon Brückner nicht nur aus sehr persön­li­chen Gründen mit seinem Vater Peter Brückner, der als vermeint­li­cher RAF-Sympa­thi­sant von seiner Tätigkeit als Dozent suspen­diert worden war. In seinem Film Aus dem Abseits geht Simon Brückner auf Spuren­suche nach seinem verstor­benen Vater, der als links­in­tel­lek­tu­eller poli­ti­scher Psycho­loge einer der zentralen Unter­s­tützer der deutschen Studen­ten­be­we­gung war. Barbara Sich­ter­mann ist Publi­zistin, Schrift­stel­lerin, eine der Intel­lek­tu­ellen der 68er-Gene­ra­tion und Simon Brückners Mutter. (So. 10.05., 18:00 Uhr, Rio 1 / Mi. 13.05., 19:00 Uhr, Film­mu­seum / Fr. 15.05., 14:00 Uhr, City 3)

Exhi­bi­tio­nismus à la Facebook und noch schlimmer – eine zeit­geis­tige Selbst­in­sze­nie­rung, die weh tut: In der Reihe DOK.deutsch läuft Elec­troboy von Marcel Gisler aus der Schweiz. Die kunter­bunte Geschichte des Beau Florian Burkhardt ist die eines unglaub­li­chen Self­mademan mit dem unauf­halt­samen Bedürfnis nach Reizü­ber­flu­tung: Snow­board­profi, welt­berühmtes Topmodel, Inter­net­pio­nier, Designer, Musiker und Autor. Was ihm in all den Jahren nicht gelingt, ist, zu sich selbst zu finden. Ein facet­ten­rei­ches Portrait mit tiefem Einblick in familiäre Abgründe. (Sa. 09.05., 18:00 Uhr, City 2 / Mi. 13.05., 21:00 Uhr, Rio 2 / Do. 14.05., 20:00 Uhr, City 3 / Sa. 16.05., 22:00 Uhr, ARRI)

DOK.programm

»Und plötzlich klettern sie raus aus den Nach­richten und sind da«, schrieb letztes Jahr artechock-Autorin Natascha Gerold in ihrer DOK.fest-Ankün­di­gung. Auch dieses Jahr wird viel geklet­tert. Und alles ist sehr da. Dass Demo­kra­tien in Afrika ein schwie­riges Unter­fangen seien, sagte der simbab­wi­sche Präsi­denten Robert Mugabe. Mit dieser Thematik beschäf­tigt sich Camilla Nielsson in ihrem Film Democrats, der in der Wett­be­werbs­reihe DOK.inter­na­tional gezeigt wird. Von 2009 bis 2012 beglei­tete Camilla Nielsson den Prozess der Verfas­sungs­re­form in Simbabwe. Sie zeichnet nicht nur ein einfühl­sames Porträt der beiden haupt­ver­ant­wort­li­chen Politiker, sondern bietet einen einzig­ar­tigen Blick hinter die Kulissen des poli­ti­schen Systems. (So. 10.05., 15:00 Uhr, ARRI / Do. 14.05., 11:00 Uhr, Museum Fünf Konti­nente / Fr. 15.05., 19:00 Uhr, Museum Fünf Konti­nente / Sa. 16.05., 16:00 Uhr, Atelier 1)

For the Lost von Pierre-Yves Vande­weerd – ein bild­ge­wal­tiger Schäf­chen­film

Im wirklich breiten Themen­spek­trum des DOK.fest-Programms tummeln sich neben Reali­ti­schem Surreales, Entrücktes und (Alb)traum­haftes: Schäfchen zählen, Schäfchen numme­rieren, vergessen, was Schäfchen sind … Zum DOK.inter­na­tio­nalen-Reper­toire des dies­jäh­rigen DOK.festes gehört For the lost (Les Tour­mentes) von Pierre-Yves Vande­weerd. Die wilde Einsam­keit der Land­schaft im Languedoc, ein Schäfer – oder ist es eine Schäferin? – der seine Schafe über die karstige Hochebene treibt: Kurz­ge­schlossen mit den Verlo­renen, Verges­senen, Verrückten. For the lost ist eine bild­ge­wal­tige Medi­ta­tion zu Vergessen und Gedächtnis. In farb­ent­sät­tigten und gewal­tigen Bildern hat Vande­weerd eine sugges­tive Symphonie kompo­niert. (So. 10.05., 16:30 Uhr, Film­mu­seum / Mi. 13.05., 21:30 Uhr, Film­mu­seum / Do. 14.05. 16:00, Vortrags­saal der Biblio­thek im Gasteig)

Bertolt Brecht ließ Mackie Messer in seiner »Drei­gro­schen­oper« »Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?« fragen. Mit vielen weiteren monetären Fragen beschäf­tigen sich sieben Filme über die Finanz­wirt­schaft und Werte­sys­teme, die im Special DOK.money gezeigt werden.

Über dem ersten könnte der Mittel­finger von Yanis Varou­fakis schweben. In einer Deutsch­land­pre­miere läuft Agora von Yorgos Avge­ro­poulos. Grie­chen­land steht vor dem Staats­bank­rott und muss das einschnei­dendste Spar­pro­gramm der Geschichte umsetzen – mit fatalen Folgen für das Volk. Vier Jahre lang verfolgt der Film die Ereig­nisse der Schul­den­krise aus der Perspek­tive Grie­chen­lands. (Do. 14.05., 20:00 Uhr, Rio 1 / Fr. 15.05., 17:00 Uhr, Rio 2 / So. 17.05., 16:00, Vortrags­saal der Biblio­thek im Gasteig). Das Film­ge­spräch findet am 14. Mai nach der Film­vor­füh­rung mit dem Regisseur Yorgos Avge­ro­poulos, der Co-Produ­zentin Anastasia Skoubri und dem Kommu­ni­ka­tions- und Lite­ra­tur­wis­sen­schaftler, zugleich Leiter des Grie­chi­schen Hauses Westend, Costas Giana­cacos, statt.

Seine Welt­pre­miere erlebt der spanisch-deutsche Film Falciani und der Banken­skandal von Ben Lewis. Ben Lewis erzählt die unfass­bare Geschichte des Hervé Falcianis, dem Edward Snowden der Finanz­welt. Falcianis unge­heurer Daten­dieb­stahl ließ 2008 die Welt­banken erzittern: Seine Liste ging in die jüngere Wirt­schafts­ge­schichte ein – und löste allein in Deutsch­land tausende Selbst­an­zeigen aus. (Sa. 09.05., 20:00 Uhr, ARRI / Mo. 11.05., 20:30 Uhr, HFF / Sa. 16.05., 16:00 Uhr, Museum Fünf Konti­nente / So. 17.05., 16:00 Uhr, Film­mu­seum)

Z32 von Avi Mograbi. Dem israe­li­schen Regisseur ist die dies­jäh­rige Retro­spek­tive gewidmet

Avi Mograbi erhielt im Jahr 2009 den Konrad-Wolf-Preis der Berliner Akademie der Künste, die ihn als »enga­gierten Zeit­zeugen der Konflikte im Nahen Osten« würdigte. Die dies­jäh­rige Retro­spek­tive des DOK.festes ist Mograbi gewidmet. Avi Mograbi gehört zu den inno­va­tiven und zugleich kontro­versen israe­li­schen Filme­ma­chern seiner Gene­ra­tion. Seine Filme setzen sich durchwegs kritisch mit der israe­li­schen Palästina-Politik ausein­ander. Ganz besonders hervor­zu­heben ist sein Film Z32. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Nachdem sechs israe­li­sche Soldaten erschossen worden waren, tötet ein israe­li­scher Ex-Elite­soldat zwei unbe­tei­ligte Paläs­ti­nenser. Der IDF-Soldat bekennt sich zur Rache­ak­tion. Die Schuld wird ihn ihn ein Leben lang begleiten. Mograbis »doku­men­ta­ri­sche Musical-Tragödie« reflek­tiert ästhe­tisch innovativ und engagiert Fragen von Zeugen­schaft und Sprach­lo­sig­keit. (So. 10.05., 18:30 Uhr, Film­mu­seum)

In der Gast­land­reihe DOK.guest werden Inde­pen­dent-Filme aus und über China gezeigt. Das Film­schul­fes­tival ist als »Festival im Festival« erneut Gastgeber für Studie­rende und ihre Filme von dreizehn renom­mierten Film­hoch­schulen. Für Kinder, Jugend­liche und Schulen bietet DOK.education eigene Filme mit medi­en­pä­d­ago­gi­schen Workshops, und beim DOK.forum trifft sich in der Münchner HFF die Branche zur Perspek­tive des doku­men­ta­ri­schen Erzählens einschließ­lich Inter­ac­tive Media.

DOK.artechock

artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland erklärt uns die Film- und Zeit­ge­schichte und wie alles zusam­men­hängt: Von Caligari zu Hitler

Und das DOK.fest Nr. 30 kommt selbst­ver­s­tänd­lich nicht ohne artechock aus. Artechock-Guru Rüdiger Suchsland doku­men­tiert in seinem Filmdebüt die Zeit Von Caligari zu Hitler. Die Weimarer Republik war in Deutsch­land auch eine Blütezeit des Kinos. Das junge Medium schien wie dafür geschaffen, den Span­nungen der Gesell­schaft zwischen Krise und Freiheit Ausdruck zu geben. In diesem Klima wuchs eine Gene­ra­tion von Filme­ma­chern heran, die die Entwick­lung des Kinos entschei­dend prägen sollte: Friedrich Wilhelm Murnau, Fritz Lang, Walter Ruttmann und Robert Wiene machten erste filmische Gehver­suche. Sie schufen Ikonen der Populär­kultur und erwiesen sich zugleich als Visionäre einer düsteren Entwick­lung. (So. 10.05., 14:00 Uhr, Film­mu­seum / Mo. 11.05., 20:00 Uhr, Vortrags­saal der Biblio­thek im Gasteig)
Der Filme­ma­cher und Kritiker ist anwesend und zugleich in der Jury, um über den besten deutsch­spra­chigen Doku­men­tar­film zu befinden.

30. DOK.fest München, 07.-17.05.2015, diverse Spielstätten. Das DOK.fest ist eine Veran­stal­tung der Filmstadt München e.V. und wird u.a. gefördert vom Kultur­re­ferat der Landes­haupt­stadt München. Das ausführ­liche Programm sowie Spielplan, Tickets, ein tages­ak­tu­elles DOK.blog und alles andere gibt es unter www.dokfest-muenchen.de