12.09.2013

Die Stars sind die Filme­ma­cher

Die andere Heimat
Reitz' Die andere Heimat – Begehren nach einer anderen Wahrheit.
(Foto: Leonine Distribution GmbH)

Drei Supernasen auf Terrorkurs, Kennedys Hirn und Jackies rosa Chanel-Hütchen, amerikanische und deutsche Romantik und ein Kino-Marathon bei den Filmfestspielen von Venedig, 3. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Ich will nicht schlecht über euch reden, es ist ja doch nur primitiv/ Aber ich verab­scheue euch wegen eurer Klein­kunst zutiefst«
(Toco­tronic)

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Zwei Menschen stehen auf einem Staudamm herum. Sie sind allein, sonst ist keine Menschen­seele zu sehen. Sie stehen da wie Statuen, unbe­weg­lich, fast wie Untote. Die zwei, das ist nach wenigen Minuten klar, wollen den Staudamm sprengen, und wir schauen ihnen jetzt erstmal eine ganze Weile dabei zu, wie sie das anstellen.

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Sie scheinen sich schon etwas besser zu kennen, aber ein Paar sind sie nicht. Sie fahren durch South Dakota, sie halten in irgend­einem Camp von Ökora­di­kalen. Am Abend läuft ein Film, eine Doku­men­ta­tion über böse Umwelt­ver­bre­chen und den Untergang der Welt. Gegen Ende des Films heißt es aus dem Off eine »Army of indi­vi­duals should stand up for the nature, for the people, for the planet.« Bei der anschließenden Diskus­sion verwei­gert sich die Regis­seurin aber auf Nachfrage jedem Lösungs­vor­schlag – es gebe nicht »die« Lösung, sondern nur viele kleine. Das wird mit dem Blick der beiden Durch­rei­senden beschrieben, man teilt deren Spott, deren sarkas­ti­sche Verach­tung für Nichts­tuer und Laber­säcke.

Die zwei kaufen ein Motorboot, zahlen Cash. »Cash – the poor peoples money« heißt es. Das Boot heißt »Night Moves« und gibt Kelly Reichardts Film den Namen – das ist nicht nur mal ein schöner Name, sondern auch ein guter Einfall. Dana, die junge Frau ist deutlich klarer, cooler, härter als Josh. Das zeigt sich auch, als die beiden einen Dritten treffen, den Ex-Marine Harmon, und mit ihm Dünger kaufen, um daraus Spreng­stoff zu machen. Das Boot wird dann damit voll­ge­stopft, es wird zu Wasser gelassen und nach einer knappen Film­stunde ist es endlich am Staudamm angelangt und der Zünder aktiviert. Puh!
Da hält ein Auto wegen einer Panne. Man schaut sich nervös an. Fährt dann zurück, um den Zünder wieder abzu­stellen.

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Geht’s noch? Was sind das denn für Terro­risten? fragt sich der gemeine Zuschauer. Nur der Künstler, der ja von Natur aus besonders anteil­neh­mend ist, fragt sich das natürlich nicht. Der versteht den Terror­softie, wenn ihm plötzlich Skrupel kommen.

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Gott­sei­dank ist alles recht­zeitig repariert und der Staudamm geht doch noch hoch. Unsere drei Super­nasen fahren weg, durch­queren eine Poli­zei­sperre – oh oh oh, das war aber knapp denkt jeder, der noch keinen Tatort gesehen hat, und weiß, dass es jetzt der Drama­turgie nicht zuträg­lich wäre, würden sie geschnappt. Dann trennt man sich. Wir folgen Josh, dem lahm­ar­schigsten und nerdigsten der drei, der norma­ler­weise auf einer Ökofarm Gemüse putzt.

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Der ist jetzt sehr nervös, immer wenn ein Auto kommt, obwohl da dann nur jemand drinsitzt, der Biosalat kaufen möchte. Und weil beim Stau­damm­sprengen die Flutwelle irgend­einen Camper verschluckt hat, dessen Familie jetzt eine sympa­thi­sche Webseite schaltet, werden unsere Möch­te­gern-Radikalen ganz traurig, und bekommen Gewis­sens­bisse. Dana bekommt sogar einen schlimmen roten Haut­aus­schlag, obwohl der auch von den Chemi­ka­lien stammen könnte, die sie gemischt hat. Die anfäng­lich halbwegs inter­es­sante, wenn auch lahm insze­nierte Fall­studie mündet mit anderen Worten in Paranoia und ein unan­ge­nehm mora­lis­ti­sches Traktat, in die wohl­be­kannte ameri­ka­ni­sche Schuld-Scheiße, die man in jedem zweiten US-Film irgend­wann serviert bekommt.

Visuell symbo­li­siert das die Kamera, indem sie immer zu lange und zu bedeu­tungs­voll auf den Gesich­tern steht, oder dann zurück­fährt und sich nach oben schraubt, sodass wir irgend­wann wie der liebe Gott, voller Güte aber auch sehr klar im Urteil auf die kleinen Sünder­lein herab­gu­cken.

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Die Menschen in Kelly Reichardts Filmen werden von Schau­spie­lern wie Dakota Fanning und Jesse Eisenberg gespielt, sind aber scheinbar unge­schminkt (natürlich nicht wirklich, im Gegenteil ist es schwierig, sie so aussehen zu lassen), oft hässlich, unge­wa­schen, sie haben abgekaute Fingernägel, und die Masken­bild­nerin hat ihnen gehörig Dreck auf die Hände geschmiert. Dieser heute leider viel zu häufige natu­ra­lis­ti­sche Authen­ti­zi­täts­fe­ti­schismus macht Reichardts Filme so wenig besser, wie irgend­welche anderen. Nicht nur weil man den Masken­bildner als abwesend anwesend doch sieht. Sondern weil es die Konzen­tra­tion des Zuschauers ablenkt vom Wesent­li­chen, gerade Distanz herstellt, wo es sie doch abbauen sollte. Night Moves könnte auch der Titel eines Film Noir aus den vierziger, fünfziger Jahren sein, und ganz ehrlich gesagt waren die Filme damals ja nicht schlechter, bloß weil es sich erkennbar um Studio­pro­duk­tionen handelte.

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Hier muss es sich also um Kunst handeln – wenigs­tens dies ist bei Night Moves sofort klar, wenn auch sonst nichts, denn so vage, so ausdruckslos sind Menschen nur in einem bestimmten Typ von Kunst­filmen. Aufge­la­dene Banalität.
Das elegante kunst­ge­werb­liche Verbergen des Eigent­li­chen, dieses ständige Wegschauen, immer wenn’s inter­es­sant wird, nervt am gegen­wär­tigen Kunstkino zusehends. Die Form wird hier Ersatz für inhalt­liche Leere, mehr aber noch für fehlende Haltung.

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Night Moves ist das Arty-Farty-Pendant zu The Company You Keep und The East. Irgendwie geht’s um Protest, Wider­stand und – uiuiui – Terro­rismus. Junge Junge. Und irgendwie auch nicht. Botschaften solle man mit der Post schicken labern solche Filme­ma­cher dann gern, wenn man sie fragt, warum es nicht etwas klarer sein könnte, warum denn bitte alles vage gehalten werden müsse.

Im Pres­se­heft behauptet die Regis­seurin, der Film sei »a tale of suspense and a medi­ta­tion on the conse­quences of political extremism. When do legi­ti­mate convic­tions truly demand illegal behaviors? What happens to a person’s political prin­ci­ples when they find their back against the wall?« Keine einzige dieser Fragen beant­wortet der Film auch nur im Ansatz. Alles leere Behaup­tungen, aufge­bla­sene Banalität, Mora­li­sieren.

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Inter­es­sant ist der Film nur insofern, als dass Reichardt indirekt zeigt, dass die ganzen Ökoak­ti­visten alles Loser sind, dass der Film klarmacht, warum es im Westen keine Revo­lu­tion gibt.
»Das hätten wir besser gemacht« sagt auch Hans Hurch aus Wien, mit dem man so schön über Filme lästern kann, wie mit kaum einem anderen.

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Auch ansonsten zeitigt der Wett­be­werb von Venedig in diesem Jahr bislang verhal­tene Resultate. Die großen Höhe­punkte bleiben ebenso aus, wie die totalen Reinfälle, wie die Filme, über die man sich streiten kann. Die bisher gezeigten Filme sind keine schlechten, aber auch nicht richtig gut. Inhalt­lich sind es oft histo­ri­sche oder private Stoffe, kaum Filme, die sich mit unserer gemein­samen Wirk­lich­keit oder der Politik ausein­an­der­setzen, sich abar­beiten an der Gegenwart. Einzige Ausnahme eben Night Moves. Künst­le­risch ist das Wett­be­werbs­kino ein Kino der Ausspa­rungen, des Verzichts, ästhe­ti­sche Pädagogik, die insgesamt sehr asketisch und puri­ta­nisch wirkt – was natürlich auch etwas damit zu tun hat, dass hier viele Ameri­kaner laufen.

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Erwähnen muss man neben Reichardt zwei weitere US-ameri­ka­ni­sche Produk­tionen: Parkland von Peter Landes­mann, eine Rekon­struk­tion des Lebens von fünf Menschen an den vier Tagen um den Mord an John F. Kennedy in Dallas. as Ganze basiert auf einem Sachbuch, und der Film wirkt auch so – Reenact­ment mit bekannten Darstel­lern, von Tom Hanks produ­ziert. Visuell lebt das vom »Mad Men«-Appeal der Sechziger-Ästhetik, mit Ziga­ret­ten­rauch und Leder­ses­seln.

Politisch ist vieles falsch. Denn wenn man dem Film auch gern durch­gehen lässt, dass er an der Mytho­logie des großen Kennedy und der Bedeutung des Tages von Dallas mitstrickt, dass er der Verselb­stän­di­gung der Legenden nichts entge­gen­setzt, sie nicht rela­ti­viert, durch­kreuzt, sondern durch Gravitas, Pathos und Musik noch auflädt, dann wird es doch zu blöde, und hier sehr kenn­zeich­nend für unsere politisch-apathi­sche, sozial-kindische Epoche, wenn alles auf eine denkbar banale priva­tis­ti­sche Ebene herun­ter­ge­bro­chen wird, auf das soge­nannte »mensch­liche Element«. Das ist natürlich Unsinn und Ideologie.

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Man kennt den Ausgang der Fahrt um die Ecke Elm Street/Huston Street. Das macht es dem Film nicht einfacher. Er verlegt sich auf die kleinen Anekdoten, die in ihrer Konkret­heit im Einzelnen immer inter­es­sant sind. Aber völlig banal, fürs Große Ganze irrele­vant. Oder was lernen wir, wie verändert es unseren Blick, wenn wir erfahren, wer eigent­lich den Sarg von Oswald getragen hat. Dass man die Innen­ein­rich­tung von Airforce One aufsägte, um den Sarg Kennedys hinein­zu­be­kommen, weil der nicht im Gepäck­fach trans­por­tiert werden sollte. Dass auf Kennedys Bauch, als er auf der Bahre ins Hospital fuhr Jackies rosa Chanel-Hütchen lag. Dass sich noch auf dem Rückflug auf dem blut besu­delten Hals des einen Security-Typen Hirn­spritzer Kennedys befanden. Wie der Secret-Service an den Zapruder-Film kam. Dass sich die Ärzte mit der CIA stritten, wo Kennedy obduziert wird. Dass Oswald im gleichen Hospital, dem Parkland, dass dem Film den Namen gibt, genau einen Tag später lag, wie der Präsident, und vom gleichen Team operiert wurde.
Das wissen wir jetzt also alles. Was wir nicht wissen: Was bedeutet eigent­lich »inter­es­sant«?

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Und dann Child of God vom Multi­ta­lent James Franco nach einer Novelle von Cormac McCarthy: Eine White-Trash-Studie in dessen Zentrum ein junger, tief gestörter Anal­phabet steht: Einsam und verwahr­lost lebt er im Wald, und verliebt sich irgend­wann in eine Leiche, mit bizarr schreck­li­chen Folgen. Wir müssen und werden über diesen Film noch länger schreiben, denn ganz schlecht ist der keines­wegs. Es überwiegt aber alles die Frage, warum ein gebil­deter studierter bürger­li­cher Mensch wie Franco sich für so einen Voll­idioten inter­es­siert, und warum es uns inter­es­sieren sollte, dem zwei Stunden auf den Fersen zu sei. Cormac McCarthy, klar. Francos letzter Film war eine Faulkner-Verfil­mung.
Ähnlich wie Reichardt geht es hier um schöne Darstel­lung des Häss­li­chen; bei Franco ist alles aber viel viel ästhe­ti­sierter. Sein Blick aber auch viel mehr von oben herab.

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Sonnen­durch­strahlt, schnee­be­deckt, blut­be­su­delt oder unschuldig scheinend – der Wald hat viele Gesichter und im deutschen Film noch einige mehr. Die ersten zwei Festival-Tage in Venedig standen im Zeichen dieses deutschen Kinos – gleich drei Filme von insgesamt fast neun Stunden Länge bildeten einen kleinen Marathon für sich, und für die Bericht­erstatter die berichten und die Förderer und Darsteller, die sich feiern lassen wollten. Besonders bemer­kens­wert war auch die – neben den Wald­bil­dern – zweite Gemein­sam­keit der deutschen Filme: Als drei kommen ohne einen einzigen Star aus, und verzichten fast völlig auf bekannte Gesichter – sieht man einmal von Marita Breuer ab, die in Edgar Reitz' Die andere Heimat die Mutter des Helden spielt, und so den Kreis zu ihrem Auftritt in der Haupt­rolle von Reitz' erster Heimat vor 33 Jahren schließt, von Steffi Kühnert, die im gleichen Film eine Nerven­säge von Schwie­ger­mutter verkör­pert, und von Jördis Triebel, die als Mutter zweier »Wolfs­kinder« in Rick Oster­manns gleich­na­migem Debüt nach 15 Film­mi­nuten einen kläg­li­chen Tod stirbt.
Ansonsten unbe­kannte, aber spannend anzu­se­hende Gesichter. Die Stars sind in Venedig die Filme­ma­cher.

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»Die Dinge nehmen erst einen Sinn an, wenn sie zu Ende sind – denn dann beginnt die Geschichte.«
(Jean-Luc Godard)

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Kino sei zeigen, nicht nachher drüber reden, schrieb ich neulich. Da beginnt auch schon ein Irrtum unseres Freundes Philip Gröning, jeden­falls ein halber Irrtum. Denn der freute sich am Wochen­ende, dass nach der Premiere seines Films soviel darüber geredet worden sei, »und zwar über die richtigen Dinge«, also nicht darüber wieviel der Film gekostet habe, und wo gedreht wurde. Das ist natürlich schön, vor allem für einen Regisseur, und kann doch meiner Ansicht nach nicht der Hauptsinn der Sache sein. Die Stärke von Grönings Film, in dem selbst übrigens bemer­kens­wert wenig geredet wird, ist denn meiner Ansicht auch das was er zeigt, und wie, und nicht was man nachher drüber redet, wobei ich mich da ganz ausdrück­lich einschließe. Denn erstmal stammelt man, sucht man einen Weg durch das, was man gesehen hat. Die Frau des Poli­zisten von Philip Gröning im Wett­be­werb ist ein Film, der einen tagelang durchs Festival begleitet, mit dem man so schnell nicht fertig wird.

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»Anfang Kapitel 1« erklärt ein Insert. da ahnt man noch nicht, was kommt. Auch als nach knapp zwei Minuten ein zweites Insert erscheint, und erklärt »Ende Kapitel 1«, ist dies im Kino ein Lacher. Man glaubt an einen Gag des Regis­seurs, aber spätes­tens bei Nummer 5 schleicht sich die Erkenntnis ein, dass das so weiter­geht, und die Kapitel nur in Ausnah­me­fällen länger als 5 Minuten sind. 175 Film­mi­nuten, da kommt man auf eine Menge Kapitel, und wenn man die Blenden mit den »Anfang« und »Ende« wegließe, wäre der Film bestimmt gut 20 Minuten kürzer. Muss das so sein? Eher nicht, aber es muss uns schon klar sein: Der Regisseur will sein Publikum erziehen und auch ein wenig nerven, freund­li­cher ausge­drückt in einen Zustand bringen.

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Das erste Kapitel zeigt einen Wald, den Blick durch Bäume hindurch, ein Tier, das such bewegt, und eine Schär­fen­ver­stel­lung. das erinnert uns gleich zu Beginn an unsere Situation: Wir sind Beob­achter und in diesem Fall sollten wir es genau nehmen damit. Viel­leicht geht es auch für uns vor allem darum, dass man die Dinge sehr unter­schied­lich betrachten kann.

Im Kino wie überhaupt in der Kunst kann man die dieje­nigen, die handeln, nie genau von denje­nigen unter­scheiden, die die Anderen beim Handeln beob­achten. Man weiß auch, dass Beob­ach­tung selbst Handlung ist. Das gilt auch dann, wenn man sich selbst wie hier gewis­ser­maßen beim Beob­achten beob­achtet, und wiederum weiß, dass man umgekehrt vom Film dabei beob­achtet wird. Gröning bringt uns in die inter­es­sante, nicht gut erprobte Position, uns selbst als Beob­achter zu beob­achten, zugleich wie ein Profiler Indizien zu sammeln, Puzzle­s­tücke zu ordnen.

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Auch der Film selbst glänzt vor allem mit genauer Beob­ach­tungs­gabe. In knapp 60 Kapiteln, im Wechsel der vier Jahres­zeiten und auf einer Länge von fast drei Stunden, die die Geduld des Publikums ebenso stra­pa­zierte, wie sie sie immer wieder belohnt, erzählt Gröning von einer Klein­fa­milie am Nieder­rhein nahe der hollän­di­schen Grenze. Der Vater ist Polizist, die Mutter kümmert sich liebevoll um die kleine Tochter. Mit Oster­ei­er­su­chen im Wald beginnt alles. Doch allmäh­lich bekommt die Idylle sanfte Risse, die zu Abgründen werden: Der Vater ist gewalt­tätig, die Mutter hilflos – im Rückblick wirkt der Film als Vorge­schichte einer Tragödie, und zeigt Familie als »Terror­zu­sam­men­hang« (Alexander Kluge), als private Hölle. Die Familie wird zu Labor­ob­jekten einer Versuchs­an­ord­nung. Konter­ka­riert wird das durch Tiere und anderes Wilde, das immer wieder in das scheinbar geregelte Leben der Menschen einbricht.

Uner­schro­cken und elegant gelingt Gröning ein ebenso rätsel­hafter wie klarer Film über die Beob­acht­bar­keit der Welt, der den Zuschauer unerlöst entlässt.

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»Der Film handelt ja nicht nur von der häus­li­chen Gewalt, sondern er handelt auch, als Gegenpol von der Über­tra­gung von Liebe zwischen Mutter und Kind, was natürlich auch ein univer­selles Phänomen ist, wie wir alle wissen, denn sonst würden wir gar nicht exis­tieren.«
(Regisseur Philip Gröning über seinen Film)
Aller­dings: ist der Film zu lang, und die Idee der Kapitel keine wirklich gute.

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Durch Komik und heitere Gelas­sen­heit abge­fangen wird die Tragik der Fami­li­en­ge­schichte in Edgar Reitz' Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht. Zum vierten Mal wendet sich Reitz seinem Lebens­werk zu: Der Reales und Fiktion mischenden Geschichte des Dorfes Schabbach in den Wäldern des Hunsrück. Nachdem er in den ersten drei Teilen das Wech­sel­ver­hältnis zwischen Alltags­his­torie und großer Welt­ge­schichte im 20.Jahr­hun­dert bis zur Jahr­tau­send­wende fort­ge­sponnen hatte, geht Reitz nun zurück ins 19. Jahr­hun­dert in die Zeit des Vormärz zwischen 1840 und 1847. Die Feudal­herren versuchen die in den Revo­lu­tionen erkämpften Rechte der Bürger wieder zurück­zu­schrauben, während die Bauern hungern, von Miss­ernten, Seuchen, hoher Kinder­sterb­lich­keit heim­ge­sucht werden, wie auch Hand­werks­meister wie die Schmiede-Familie Simon darben. Viele wanderten aus, Deutsche waren damals Migranten. Der jüngere Sohn, Jakob träumt vom Auswan­dern nach Amerika. Dazu wird es nicht kommen, doch bis das sicher ist, vergehen vier Film­stunden mit einer dichten, und ebenso leiden­schaft­li­chen wie unsen­ti­men­talen Beschrei­bung eines Dorf­le­bens vor 170 Jahren. Edgar Reitz hat eine einmalige Art Geschichten als epische Chronik zu erzählen, deren Ruhe und Schönheit – Schwarz­weiße Bilder, die Gernot Roll filmte und die oft an nieder­län­di­sche Malerei erinnern – in Italien noch viel mehr gefeiert wird, als in Deutsch­land: Der prop­pe­volle, mit erstaun­lich jungem Publikum gefüllte Saal reagierte nach der Premiere mit minu­ten­langen standing ovations – sie waren verdient. Und der 81-jährige Reitz wirkte in seiner Freude mindes­tens 15 Jahre jünger.

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In die Heiter­keit der Feier mischt sich ein trauriger Gedanke: War das Reitz letzter Film? Wenn er in dem Tempo weiter­macht, dann ist er das nächste Mal, bei Heimat 5 über 90. Damit ist gar nichts gegen das Tempo gesagt, im Gegenteil: Denn dieser enga­gierte Schwer­ar­beiter macht ja mit jeder Heimat-Folge immer zwei, drei Filme.

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Carlos hat Edgar Reitz inter­viewt und schwärmt: »Wie Marc Aurel – von Alters­weis­heit aufge­laden.«

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Was ist die Methode Reitz? Viel­leicht ist es der Ort, der mich nach der Verwandt­schaft zum Neorea­lismus fragen lässt. Auch bei Reitz haben die Figuren immer eine überaus präzise soziale Position. Das Geschehen zwischen Einzelnen und der Gruppe, die manchmal wie ein Chor wirkt, manchmal wie eine sozialer Körper für sich, ist immer verbunden. Bezie­hungen werden visuell herge­stellt. Auch hier wieder hat der Regisseur in Jakob ein Alter Ego und er begibt sich auf Augenhöhe mit seiner Figur, seinen Prot­ago­nisten.

Wieder Schwarz­weiß und zwischen­durch wenig Farbe. Auf die hätte ich gut verzichten können, sie hebt zu betont hervor. Der Ansatz ist der einer Chronik. Mehr »und dann, und dann«, als der drama­ti­sche Bogen. In Schillers Gegen­satz­paar des Naiven und des Senti­men­ta­li­schen steht Reitz fürs Naive. Im Stili­sierten, ist er anti-senti­mental, kühl, und dabei voller einer Sehnsucht, Romantik. Das Symbo­li­sche und das Histo­ri­sche stehen bei ihm gleich­be­rech­tigt neben­ein­ander. Man denkt auch ein paarmal an Novecento.

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Eine Poesie, die in den Bildern genauso liegt, wie in schönen Sätzen: »Es ist der Menschen Natur, Ernst zu machen.« Und: »Freiheit ist nicht das Gegenteil von Gefan­gen­schaft. Sondern etwas in uns.«

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Wie genau ist das Histo­ri­sche? Gut recher­chiert in jedem Fall. Eine skep­ti­sche Gegen­these: Warum hat die Dritte Heimat damals nicht so gut funk­tio­niert? Viel­leicht, weil wir die Welt gut kannten, um die es da ging, selber in ihr lebten. Weil wir von ihr im Film nichts Neues entdecken konnten, weil wir es besser wissen. Weil das Bild der Gegenwart schief war.
Wie aber, wenn nun Reitz' Bild der Vergan­gen­heit genauso schief wäre wie das der Gegenwart?

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Der Zufall mögli­cher­weise. Er ist ein wichtiger Haupt­dar­steller in Die Andere Heimat. Schon in früheren Teilen rückte der Regisseur die Zufäl­lig­keit in Liebes­dingen ins Zentrum. Wer zusam­men­findet und glücklich zusam­men­lebt, ist nicht immer der, der zusam­men­gehört, oder gar »fürein­ander bestimmt« war.

Ein anderer Haupt­dar­steller ist die Neugier der Menschen. Die Weltent­de­ckung, der Aufbruch, der es schon bei den Argo­nauten in einem seiner ersten Filme im Zentrum stand. Das Begehren danach, eine andere Wahrheit zu suchen. Die Wissen­schaft und hoch­flie­genden Träume werden in Schabbach immer konter­ka­riert durch die Boden­s­tän­dig­keit und Enge, auch durch den Ernst des Handelns. Richtig verspielt wirken Reitz Figuren selten.

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Demge­genüber wurde Wolfs­kinder in der Orrizonti-Sektion verhal­tener aufge­nommen. Rick Ostermann hat seinen Malick gesehen und erzählt in seinem Debüt ein span­nendes Thema, auf den Spuren von Roberto Rossel­linis Deutsch­land im Jahre Null: Es geht um einen Haufen verlo­rener, eltern­loser Kinder auf der Flucht in der unmit­tel­baren Nach­kriegs­zeit. Sie schlagen sich durch Blaubeer-Wälder und Insekten-Sümpfe durch, ohne Kontakt zur Erwach­se­nen­welt. Trotzdem nur selten märchen­haft. Im Über­le­bens­kampf fallen sie wieder in einen tierhaft-primi­tiven Zustand zurück. Die Ungerührt­heit der Kinder ist fantas­tisch. Tolle Kinder­dar­steller ragten hervor in einem Film, der insgesamt mutig, aber unent­schlossen wirkt, und sein Sujet bei allen ästhe­ti­schen Dezenz manchmal zu speku­lativ und effekt­ha­sche­risch und dabei zu brav behandelt.

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Beifall schon beim Logo von The Wind Rises. Hiyao Miyazaki gehört nach Venedig. Das einzige, was uns an Hiyao Miyazaki richtig unsym­pa­thisch ist: Er verwan­delt Film­kri­tiker in Fanboys und manchmal in Voll­idioten, »cretini« wie der Italiener sagt. Die Sympathie ändert nicht daran, verstärkt nur den Schmerz der Erkenntnis, dass The Wind Rises ein richtig schwacher lang­wei­liger Film ist. Der Titel zitiert Paul Valerys berühmte Zeile »Le vent se leve ... il faut tenter de vivre.« Einmal mehr erzählt Miyazaki von Flie­ger­träumen, und von Fort­schritt und Impe­ria­lismus, von den Träumen des 20.Jahr­hun­derts, von denen wir uns immer noch erholen müssen.

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Es beginnt 1918, ein kleiner Junge in Japan liest englische Zeit­schriften, träumt vom Fliegen. Eine Idylle, die kleine Schwester bewundert den Bruder. Im Traum begegnet er Giovanni Battista Caproni, einem genialen Flug­zeug­inge­nieur. Im Traum reden sie mitein­ander. Der Kleine wird größer, studiert, wird Ingenieur bei den Mitsu­bishi-Flug­zeug­werken, einer der besten. Er ist Jiro Horikoshi und hat wirklich gelebt, der Film ist ein Biopic, ganz ohne Geister und Tran­szen­denz, wie sonst Miyazakis Filme. Auch fast ohne Apoka­lypse. Nur bei den Szenen, die das große Erdbeben von Tokio 1923 beschreiben, kommt es einmal zu der Verbin­dung aus Poesie und Abgrund, die Miyazakis Werk sonst so unnach­ahm­lich macht.

Ansonsten ist das zunächst noch ganz inter­es­sant als halb­do­ku­men­ta­ri­sche Betrach­tung der Fliegerei-Geschichte im frühen 20. Jahr­hun­dert, der G 38 von Junkers, dem japa­ni­schen Blick auf Deutsch­land mit Schubert und Thomas Mann, einem Dessau ohne Bauhaus, einem Deutsch­land ohne Not und Nazis. Nur ein Emigrant sagt einmal düster ahnend »Japan wird hochgehen« (»blew up« in den Unter­ti­teln).

Dann aber beginnt zu Mozarts Cosi Fan Tutte eine kitschige Liebes­ge­schichte, der Emigrant klimpert »Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder, das Girl hat mit TB die roman­tischste aller Krank­heiten, man schleppt sich aber so durch, und Held Jiro hat am ende endlich den Mitsu­bishi ›Zero‹-Jäger konstru­iert, mit dem Japan dann Pearl Harbour angreifen und Kamikaze-Flüge fliegen wird.
Politisch hab ich dagegen wenig, solange der Film nicht wegguckt. Weil er aber genau das tut, den Krieg einfach gar nicht zeigt, ist dieser Film nicht nur höllisch lang­weilig, sondern auch politisch die Hölle.
Entspre­chend trotzig war am Ende der Beifall der Kritiker-Cretini.«

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Aber trotzdem bitte nichts gegen Japaner! Wie es geht und dass sie besser von Apoka­lypse erzählen können, beweist Shinji Aramakis Harlock – Space Pirate 3D. Eine epische Geschichte, im arg cleanen Look von »Final Fantasy«. Trotzdem spannend, schön, Matrix meets Star Wars – eine Geschichte über Freiheit jenseits des Gesetzes, über die Einsam­keit des Menschen, mit einer Ökomes­sage und viel Empfinden für Unter­gangs­ge­fahren.