15.02.2013
63. Berlinale 2013

In der Bären­falle

Before Midnight
Ehrlich und wahr – dadurch tief:
Before Midnight

Auf der Berlinale mit Edelmann und Willmann

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

Tief im unwirt­li­chen Dickicht des Bärenjagd-Gebiets. Auf dem Jägersitz (Reihe M, Platz 11+12). Die Gedanken mäandern durch den Bilder­wald. Da, plötzlich! Schnapp! Hinein­ge­tappt! Eiserne Zähne graben sich einem ins Schien­bein der Aufmerk­sam­keit. Und lassen nicht mehr los.
So sehr SIE sich inzwi­schen bestimmt wünschen, dass wir von dieser Metapher ablassen, sehnen wir uns nach gut der Hälfte des Festivals nach solchen Momenten der Ergrif­fen­heit.
Freilich: Köder pflastern unseren Weg. Aber je offen­sicht­li­cher sie ausgelegt wurden, je unwahr­schein­li­cher ist es, dass man auch in die Falle geht. Je mehr Angst ein Film an den Tag legt, dass man ihm entwi­schen könnte, desto mehr Flucht­in­stinkt entwi­ckelt man.

Es ist schon ein enormes Pech, wenn man irgendwo im Nichts in so einem großen Land wie Amerika genau in eine Bären­falle tritt: Das bemerkt in Thomas Arslans drögem Berliner Schule-Western Gold sogar einer der von der beschwer­li­chen Reise desil­lu­sio­nierten deutschs­täm­migen Schürfer (Lars Rudolph) selbst. Anders gesagt: Wenn drama­tur­gisch nichts anderes mehr hilft, packt der Plot das Fangeisen aus.
Das ist nicht nur in Gold so: Denis Coté verliert ebenfalls das Vertrauen darauf, dass in der Ruhe die (Über­zeu­gungs-) Kraft liegt. Auch er setzt auf Schock­wir­kung mittels tatsäch­li­cher Bären­fallen gegen Ende von Vic + Flo ont vu un ours. (»Vic + Flo haben einen Bären gesehen« – im unwahr­schein­li­chen Falle einer Berlinale-Auszeich­nung haben sämtliche Redak­tionen schon vorge­fer­tigte Kalauer parat.) Was bis dahin eher eine Charak­ter­studie ist über ein lesbi­sches Paar, das sich nach einer längeren Gefäng­nis­strafe und einem Umzug in die Provinz wieder zusam­men­finden muss, wird schlag­artig zum Genrekino. Wogegen wir ja an sich nichts haben – nur wirkt es hier so forciert, dass es genau den gegen­tei­ligen als den gewünschten Effekt hat. Die Aggres­si­vität der Wendung packt einen nicht, sondern sie zerreißt das Gespinst der feinen psycho­lo­gi­schen Figu­ren­zeich­nung zugunsten eines rein äußer­li­chen, körper­li­chen (Mit-)Leidens.

Bruno Dumonts Camille Claudel 1915 hält sich mit emotio­nalem Vorspiel erst gar nicht auf. Und auch nicht mit Camille Claudel als Künst­lerin oder Person. Er wirft einen sofort und total in die kalte, isolierte Welt einer klös­ter­li­chen Irren­an­stalt. Und entlässt einen über andert­halb Stunden nicht mehr aus dem perma­nenten Wahn von Schreien, Weinen, Greinen, Sabbern, Heulen, Zähne­klap­pern und Ritual. Das ist filmisch freilich sehr gut gemacht: Juliette Binoche leidet mit wahrer Inbrunst, und es ist wohl der Wett­be­werbs­film mit der bewuss­test gesetzten Bild­kom­po­si­tion.
Dennoch: Die Vehemenz, mit der der Film vom Publikum Emotionen einfor­dert, steht in keinem Verhältnis zum gebotenen Erkennt­nis­ge­winn. Außer, dass anhand von Claudels Bruder Religion als insti­tu­tio­na­li­sierte Form von Wahn­vor­stel­lung vorge­führt wird, reduziert sich dieser auf: »Kranken Menschen geht es schlecht. Medi­zi­ni­sche Diagnose und Versor­gung 1915 nicht ausge­reift. Schade um die große Künst­lerin.«
Aber obwohl sich der Film auf Tage­buch­ein­träge, Brief­wechsel, medi­zi­ni­sche Dokumente stützt, öffnen sich keine wirklich intimen, indi­vi­du­ellen Einblicke. Die Haupt­figur wirkt austauschbar. Es ist, als würde der Film sich durch den Namen Claudel lediglich Bedeutung, Gewicht aneignen.
Die ausge­dehnten Groß­auf­nahmen leidender oder kranker Gesichter lassen keine Nähe entstehen, sondern nur körper­liche Distanz­lo­sig­keit. Der Film lässt weder Wahl noch Raum, Reflek­tion in den eigenen Blick zu legen; minu­ten­lang gafft man auf die Zahn­ruinen einer Insassin, teil­nahmslos, weil Dumont nie den Menschen zeigt, sondern ihn nur dessen Äußer­lich­keit als Sinnbild inter­es­siert.

Das ist nah an der Leiden­s­por­no­gra­phie, Freakshow. Ein Vorwurf, den man Ulrich Seidl oft macht. Der aber auch bei Paradies: Hoffnung einmal mehr nicht zutrifft. Für Seidl sind alle radikal gleich, und auch gleich (un-)mündig, sich vor der Kamera bloß­zu­stellen. Es gibt bei ihm keine Unter­schei­dung zwischen Norma­lität und Anor­ma­lität. (Anders eben als bei Camille Claudel 1915, der eine Heldin hat, die man aus unwür­diger Gesell­schaft errettet wünscht.) Die Betreuer des Diätcamps für über­ge­wich­tige Kinder sind nicht »erwach­sener«, nicht weniger hilfs­be­dürftig als ihre Schütz­linge. Seidl ist scho­nungslos – aber zu jedem und allen. Und er führt niemanden vor – weil es niemanden gibt, der sich auf sicherer Zuschau­er­seite wähnen dürfte.
Hoffnung ist nicht der stärkste Teil der Paradies:-Trilogie. Manches an ihm wirkt einen Tick zu offen­sicht­lich, zu konstru­iert. Aber auch er hat diesen für Seidl unge­wohnten Hauch an Zuneigung zu den Menschen. Vor allem in den starken Momenten, in denen die puber­tie­renden Mädchen unter sich sind. Für Seidl-Verhält­nisse fast eine Feel-Good-Movie: Er lässt das Publikum so hoff­nungs­voll zurück, dass bei der Nacht­vor­stel­lung im Haus der Berliner Fest­spiele das Publikum sich sogar dazu hinreißen lässt, beim »If you're happy and you know it, clap your fat«-Song im Abspann (nur halb ironisch) mitzu­klat­schen.

Eigent­lich aber ist man ja nicht zum Spaß hier. Der typische Festi­val­film handelt nun einmal vom Gewicht der Welt und der Gram­ge­beugt­heit der Menschen. Hätte das Festival einen Namen, er wäre: Ernst. Wenigs­tens ein Film aber huldigt – freilich außer Konkur­renz – dem Eska­pismus. Ein großes, buntes Hollywood-Spektakel. Ein Musical sogar!
Eine echte Alter­na­tive zu all den Elenden: Les Miséra­bles.
Ein glamouröses Star­auf­gebot singt welt­be­kannte Ohrwürmer, über Zwangs­ar­beit, Selbst­mord, Kinder­aus­beu­tung und Prosti­tu­tion. Der Film, basierend auf dem Musi­cal­welt­erfolg, basierend auf dem Roman von Victor Hugo, basierend auf einer fran­zö­si­schen Revo­lu­tion (nein, nicht der), kreist um ähnliche Themen wie die Werke im Wett­be­werb; man blickt auch mehr als genug in weinende, leid­ver­zerrte Gesichter in extremer Nahauf­nahme. Hier jedoch nimmt die Kritik die Mani­pu­la­tion übel, denn der Film stellt seine Künst­lich­keit offen aus.
Dabei ist diese Ehrlich­keit mehr zu schätzen als die Behaup­tung von Authen­ti­zität bei nicht weniger insze­nierten Sozi­al­dramen. Oft dienen die ästhe­ti­schen Zeichen für vorgeb­lich kunst­losen »Realismus« nur dazu, dem Publikum die Verpflich­tung aufzu­er­legen, ergriffen zu sein. Und das Nach­ge­machte gilt als wertlos. Dabei belehrt uns Geoffrey Rush als bril­lanter Kunst­auk­tio­nator in Guiseppe Torna­tores raffi­niertem The Best Offer so schön: »Ich habe nur gesagt, es ist eine Fälschung, ich habe nicht gesagt, es ist nicht schön«.

Welch absurde Ausmaße dieses Streben nach vermeint­lich größt­mög­li­cher Authen­ti­zität ange­nommen hat, zeigt sich in dem konzep­tio­nellen, unzu­gäng­li­chen Film­pro­jekt Matar extraños (»Killing Strangers«). Zu Beginn infor­miert uns eine Texttafel darüber, dass die drei männ­li­chen Haupt­rollen ursprüng­lich von Laien­dar­stel­lern gespielt werden sollten, letzt­end­lich aber doch profes­sio­nelle Schau­spieler besetzt wurden. Das Bedürfnis des Regis­seurs, sich für diese Entschei­dung zu recht­fer­tigen, lässt seine Über­zeu­gung vermuten, es hätte ein paar Zuschauer vom Verlassen des Saals abhalten können, wären die bedeu­tungs­schwan­geren Sofa­mo­no­loge über die mexi­ka­ni­sche Revo­lu­tion nur holpriger vorge­tragen worden.

Hand in Hand damit geht oft der Irrglaube, dass ein Film um so wert­voller und wahrer ist, je ostinater er einen zermür­benden Tonfall durchhält, je ausnahms­loser das Erleben der Figuren aus Freud­lo­sig­keit besteht. Dabei sind es gerade jene Filme, die nicht so permanent und penetrant darauf pochen, wie schlimm alles ist, die wirklich über­zeugen, die einen erreichen.
Die Charak­tere in Yoji Yamadas Tôkyô kazoku (»Tokyo Family«) etwa – einem so gewitzt wie zart moder­ni­sierten Remake von Ozus Tokyo mono­ga­tari – durch­leben das gesamte Spektrum an Erfah­rungen. Und zwar ohne aufge­setztes Drama. Ausge­rechnet den tragischsten Moment erzählt Yamada gleichsam über Bande, über die einzige gänzlich komische Figur des Films. Und genau das verleiht dem Film eine solche Mensch­lich­keit, Größe – ja: Würde.
Und der chile­ni­sche Wett­be­werbs­bei­trag Gloria (Regie: Sebastián Lelio) ist nicht zuletzt deswegen zum eindeu­tigen Favorit bei Publikum wie Kritik geworden, weil er seiner rund 60-jährigen, geschie­denen, lebens­be­ja­henden Prot­ago­nistin eben nicht mehr aufbürdet als die Kompli­ka­tionen ihres Alltags. Und dabei beweist, dass es nicht zwangs­weise extremer Situa­tionen oder Schick­sals­schläge bedarf, um etwas Wesent­li­ches zu berühren.

Es gibt wenige Filme, mit denen so viele Menschen eine so lebens­lange Verbun­den­heit spüren, wie mit Richard Link­la­ters Before Sunrise. Und zwar gerade, weil da scheinbar nicht mehr als geredet wird über einen nicht außer­ge­wöhn­li­chen Lebens­mo­ment – der einen aber auch selber essen­tiell beschäf­tigt, oder beschäf­tigt hat.
Wenn wir nun in Before Midnight Celine und Jesse zum dritten Mal begegnen, hat sich am Grund­prinzip nichts geändert. Nur sie, wir und das Leben haben sich weiter­be­wegt. Es ist wie ein Treffen mit alten Bekannten, die einem immer noch etwas zu erzählen haben – und mit denen man sich nun über andere Themen unterhält. Ihr Leben ist einge­rastet, viele Optionen sind durchs Raster gefallen.
Und so unspek­ta­kulär der Film nach außen daher­kommt, so ehrlich und wahr, und dadurch tief ist er.

Edelmann, Willmann & Greta Gerwig sind sich einig: Letztere – Haupt­dar­stel­lerin und Co-Autorin des beglü­ckenden Frances Ha – sagt auf der Pres­se­kon­fe­renz, die Filme, die sie am meisten packen, sind nicht jene, die zu einseitig drama­tisch sind. »Es sind Filme über Trauriges, die lustig sind. Oder lustige Filme, die etwas Trauriges haben.«