Requiem

Deutschland 2006 · 92 min. · FSK: ab 12
Regie: Hans-Christian Schmid
Drehbuch:
Kamera: Bogumil Godfrejow
Darsteller: Sandra Hüller, Burghart Klaußner, Imogen Kogge, Friederike Adolph, Anna Blome u.a.

Tagebuch eines Landmädchens

Wahn und Befrei­ungs­kampf

Ein Mensch verlässt seine Welt und findet sich in der neuen nicht zurecht. Eine Tochter wird mit der Lieb­lo­sig­keit ihrer Mutter nicht fertig. Eine Tief­gläu­bige flüchtet sich in religiöse Visionen. Eine Kranke wird von ihrer Krankheit eingeholt; eine immer schon Labile endgültig verrückt. Es ist nur eine einzige Person, von der hier die Rede ist: Michaela, die Haupt­figur von Requiem, mit großer Inten­sität gespielt von der Basler Thea­ter­schau­spie­lerin Sandra Hüller in ihrer ersten Filmrolle. Wer sie hier sieht, der kann das Staunen wieder lernen. Hüller sorgt dafür, dass sich das Mädchen dem Zuschauer immer wieder entzieht, und genau deswegen wird man nicht fertig mit dieser Michaela, glaubt nicht, sie verstanden zu haben und tut sie nicht vorschnell ab.

Diese Michaela ist ein junges Mädchen, das in den frühen 70ern aus der schwä­bi­schen Alp nach Tübingen kommt und ein Pädagogik-Studium beginnt. Ihre Eltern und sie selbst sind streng katho­lisch, Epilep­ti­kerin ist sie auch noch, und irgend­wann im ersten Semester beginnen die Probleme: Sie hat Anfälle, arbeitet unun­ter­bro­chen, verhält sich zunehmend etwas wunder­lich, und schließ­lich bekommt sie auch noch religiöse Visionen. Mal meint sie »ein Dämon« sei in sie gefahren, dann wieder iden­ti­fi­ziert sie sich mit einer Heiligen; von Außen glaubt man eher, die vers­tänd­nis­lose Mutter sei schuld oder ihre eigene Bigot­terie, und viel­leicht gehört sie einfach in eine Klinik. Immer weiter spitzt sich das Drama zu, bis irgend­wann ein Teufels­aus­treiber geholt wird Doch Requiem ist nie eine schwä­bi­sche Version des Exorzist – Hans-Christian Schmids Film, der vage auf einem realen, seiner­zeit Furore machenden Exozismus-Fall in Unter­franken basiert, inter­es­sieren die feinen Nuancen, der Ernst, der in dieser obskuren, auf Ausste­hende nur bizarr wirkenden Wendung liegt.

Man kann Requiem als Fall­studie eines reli­giösen Wahns verstehen, als Unter­su­chung darüber, wie aus Glauben Fana­tismus wird, der sich hier, anders als etwa bei reli­giösen Gewalt­tä­tern, nach Innen kehrt. Zugleich ist es aber auch fast eine normale Erschüt­te­rung, deren Zeuge man wird: Ein junger Mensch versucht, sich von seiner Herkunft zu befreien und gegen sie zu finden. Es ist Schmids große – von der Berli­na­le­jury leider über­se­hene – Insze­nie­rungs­kunst, dem Betrachter eine Figur nahe zu bringen, gegen die er sich erst einmal mit allen Mitteln sträubt. Und zu zeigen, dass in dem, was man gern Verrückt­heit nennt, auch ein persön­li­cher Befrei­ungs­kampf liegen kann, oder sein Scheitern. Wenn mit dem Exor­zismus am Ende dann der Wahnsinn auf Michaelas Umgebung über­springt, ist das nur ein letztes Beispiel für das Unver­mögen, sich auf sie einzu­lassen und mit ihr zu kommu­ni­zieren.

Schmid bleibt seinen Anfängen – in Nach Fünf im Urwald, 23, Crazy – als Regisseur des Erwach­sen­wer­dens, der jugend­li­chen Gefühls­lagen treu – und ist doch im Ton meilen­weit davon entfernt. Ein anderer Ernst, ein Verlangen nach Genau­ig­keit, eine frische Neugier aufs Unbe­kannte durch­ziehen Requiem, seinen bisher besten Film. Atem­be­rau­bend spannend, dicht und sehr gegen­wärtig – denn außer um den Stel­len­wert der Religion geht es auch um Frei­heits­drang und Selbst­be­haup­tung des Einzelnen – ist dies eine mit sparsamen Mitteln gradlinig und konse­quent erzählte Geschichte, die einen nicht loslässt. An Lars von Triers Breaking the Waves darf man dabei natürlich auch noch denken, den späten Kies­lowski, an Bressons Tagebuch eines Land­pfar­rers – mit anderen Worten: Requiem ist ein erstaun­lich guter Film.