Das Leuchten der Erinnerung

The Leisure Seeker

Italien/USA 2017 · 113 min. · FSK: ab 12
Regie: Paolo Virzì
Drehbuch: , , ,
Kamera: Luca Bigazzi
Darsteller: Helen Mirren, Donald Sutherland, Christian McKay, Janel Moloney, Dana Ivey u.a.
Politisierung des Vergessens

Autonauten auf der Erinnerungsbahn

»One day up near Salinas, Lord, I let him slip away
He’s lookin' for that home and I hope he finds it
Well, I'd trade all my tomorrows for one single yesterday
To be holdin' Bobby’s body next to mine.«

Kris Kristof­ferson, »Me and Bobby McGee«

»My own impres­sion is that this is an apt time to widely and openly discuss in South Africa the question of self delivery. Should I succeed in my current attempt, those involved are, as far as I am concerned, totally free to discuss this with the outside world. I hope that my death will cont­ri­bute to a more general discus­sion than currently exists of the real problems of ageing as well as the question of self delivery. I also hope that it will help to amend current South African law with regard to self delivery. This is enough.« – Karel Schoeman in seinem Abschieds­brief zu seinem Suizid am 1. Mai 2017

Das tut gut. Selbst in seinem ersten in Amerika und mit ameri­ka­ni­schem Cast reali­sierten Film bleibt sich der italie­ni­sche Ausnah­me­re­gis­seur Paolo Virzì treu; kreist Virzì auch in Das Leuchten der Erin­ne­rung Themen ein, die ihn schon in seinen letzten beiden Filmen Die süße Gier (2014) und Die Über­glück­li­chen (2016) beschäf­tigt haben. Filme, die sich vor allem durch ihre subtile Poli­ti­sie­rung, einen aufre­genden Diskurs über mora­li­sche Inte­grität in unserer zweiten Moderne, die Konfron­ta­tion mit psychi­schen Ausnah­me­si­tua­tionen und einer fast poeti­schen Verdich­tung mensch­li­cher Vergäng­lich­keit ausge­zeichnet haben.

Um diese unge­wöhn­lich dichte Melange auch für Das Leuchten der Erin­ne­rung zu erzielen, greifen Virzì und seine Dreh­buch­au­toren Francesca Archibugi, Francesco Piccolo und Stephen Amidon aller­dings stark in die lite­ra­ri­sche Vorlage von Michael Zadoo­rians »The Leisure Seeker« ein: nicht nur verän­derte das Autoren-Team die sozio­kul­tu­rellen Hinter­gründe des alten Ehepaares John (Donald Suther­land) und Ella (Helen Mirren), das sich nicht nur vor den eigenen, immer pater­na­lis­ti­scher handelnden Kindern und der zuneh­menden Vergess­lich­keit des Alters mit ihrem alten Wohnmobil aus dem Staube macht, sondern auch die Reise­route. Statt die filmisch schon oft bediente Route 66 (von Detroit) ein weiteres Mal zu venti­lieren, entscheidet sich Virzì für eine Strecke aus South Carolina heraus nach Key West und gleich­zeitig für eine zeitliche Aktua­li­sie­rung des Romans. Virzìs altes Ehepaar reist damit nicht nur zu Heming­ways Haus in Key West, sondern auch in das in den letzten Jahren von Netflix fami­li­en­his­to­risch aufbe­rei­tete Bloodline-Land – und zwar während des ameri­ka­ni­schen Wahl­kampfs vor etwas über einem Jahr.

Diese Konstel­la­tion gibt Virzì nicht nur die Möglich­keit doppel­bö­dige Passagen über die »demente« poli­ti­sche Ausrich­tung der Wähler­schaft von Trump-Sympa­thi­santen in seinen Plot zu weben, die sich in ihrer Naivität kaum vom »vergess­li­chen« John unter­scheiden, sondern auch ein Roadmovie zu insze­nieren, das sich bei aller Kraft­an­stren­gung, die Vergan­gen­heit und damit die vertrauten Persön­lich­keiten zu beschwören, den beun­ru­hi­genden Fragen des Alterns nicht verschließt. Das offen und gnadenlos hinter­fragt, wo die Würde des Lebens aufhört und die Fragen, die Michael Haneke in Liebe rational und kühl beant­wortet, völlig konträr poetisch und sinnlich verhan­delt.

Deshalb ist Liebe zwar eine, aber viel­leicht nicht die tref­fendste Asso­zia­tion, sind es eher Carol Dunlop und Julio Cortázar (dessen Erzählung Las babas del diablo Michel­an­gelo Anto­nionis Blow Up inspi­rierte), die sich in einem ähnlichen Alter wie John und Ella im Früh­sommer auf den Weg über Frank­reichs Auto­bahnen machten und tage­buch­ar­tige Notizen ihrer Reise und Rast­stät­ten­auf­ent­halte machten. Auch für Dunlop und Cortázar war es wie für Ella und John eine letzte Reise, beide wussten von ihren unheil­baren Krank­heiten, hatten aber noch die Zeit die Eindrücke ihrer Reise in ihrem Reise­be­richt Die Autonauten auf der Kosmobahn nieder­zu­schreiben. Wie Dunlop und Cortázar sucht auch Virzì über seine Prot­ago­nisten nach den Zwischen­räumen zwischen den Dingen und fordert wie Cortázar, »die Dinge nicht als gültig, als zwangs­läufig zu akzep­tieren«.

Das bedeutet auch, dass Virzì Ella und Johns Erin­ne­rungs­reisen – die Dia-Abende auf den Camping­plätzen des ameri­ka­ni­schen Südens oder die Musik der späten 1960er – immer wieder ambi­va­lente Untertöne beimischt, es zwar Momente gibt, wo beide sich über die Brücke in die Vergan­gen­heit in der Gegenwart treffen, aber immer öfter Ella allein bleibt, sie John erklären muss, was er vergessen hat, was ihre, was seine Vergan­gen­heit gewesen ist.

Diese Grat­wan­de­rung – dem Grauen des Alters die Farbe, der Dunkel­heit der Hoff­nungs­lo­sig­keit die nötige Hellig­keit abzu­ver­langen – wird jedoch nicht nur durch Virzìs Bekenntnis zur Ambi­guität, seine vermeint­lich asso­zia­tive Roadmovie-Drama­turgie und die treff­si­cheren Dialoge vertieft, sondern vor allem über Hellen Mirrens und Donald Suther­lands Darstel­lung ihrer Charak­tere. Sei es Mirrens verzwei­felt-heitere Art »ihren« John zurück­zu­holen und gleich­zeitig den »neuen« – alles verges­senden John und eine ganz andere Art der Beziehung zu akzep­tieren, oder sei es Donald Suther­lands mal kaum zu ertra­gende, dann wieder liebe­volle Janus­köp­fig­keit, die derartig verblüf­fend ist, dass ich für Momente meinen alten, an einer Parkinson-Demenz-Variante leidenden Freund Richard zu sehen glaubte, der mich nur eine Woche vor der Pres­se­vor­schau von Virzìs Film für Minuten ebenfalls nicht mehr erkannt hatte, dessen alte Persön­lich­keit sich dann aber genauso flat­ter­haft wieder mate­ria­li­sierte wie die von Suther­lands verkör­pertem John.

Dass Virzì in das Das Leuchten der Erin­ne­rung für diese zutiefst ambi­va­lenten, persön­lich­keits- und bezie­hung­ver­än­dernden Zustände passende Bilder und eine Geschichte gefunden hat, die nicht nur die herkömm­li­chen Stereo­typen para­phra­siert, ist an sich schon stark, dass er damit jedoch auch fordert, bestürzt und immer wieder über­rascht ist tatsäch­lich fast alters­weise zu nennen und in seiner eigen­wil­ligen, immer wieder vertüd­delt-verspielten Darrei­chung nicht weit von Jim Knopf und Lukas des Loko­mo­tiv­füh­rers Begegnung mit dem Drachen der Weisheit entfernt: allein Janis Joplins Inter­pre­ta­tion von Kristof­fer­sons »Bobby McGee« in diesen Kontext gestellt zu sehen, ist so uner­wartet wie das Glück, das dadurch entsteht.