In ihrem Haus

Dans la maison

Frankreich 2012 · 106 min. · FSK: ab 12
Regie: François Ozon
Drehbuch:
Kamera: Jérôme Alméras
Darsteller: Fabrice Luchini, Ernst Umhauer, Kristin Scott Thomas, Emmanuelle Seigner, Denis Ménochet u.a.
Projekt-Besprechung mit gefährlicher Perspektive

Geschichten über Wahrheit und Lüge

»Dieses Jahr haben wir die Gele­gen­heit die großen Dichter der fran­zö­si­schen Literatur kennen­zu­lernen. Und natürlich will ich euch dazu anregen, zu schreiben, Geschichten zu erzählen...« Claude aus der letzten Reihe ist seinem Literatur-Lehrer Germain bisher aller­dings noch nicht weiter aufge­fallen. Ein recht unschein­barer Schüler, von dem Germain nicht mehr hält, als vom Rest der Klasse, die seiner Meinung nach »nur Mobil­te­le­fone und Pizza« im Kopf hat – wenn überhaupt irgendwas: »Die schwächste Klasse meines Lebens. Es ist furchtbar...«, erzählt er seiner Frau, »hier: Hör dir das an... Hör’s dir an: Samstag habe ich eine Pizza gegessen und fern­ge­sehen, Sonntag war ich müde und habe nichts gemacht. Punkt und Schluss. Eine halbe Stunde Zeit, zwei Sätze, 48 Stunden im Leben eines 16-jährigen. ... Reak­ti­onäre Philo­so­phen prophe­zeihen die Invasion der Barbaren. Aber die Barbaren bevölkern längst die Klas­sen­zimmer!«

Doch dann schreibt Claude einen Aufsatz, der mit »Fort­set­zung folgt!« endet. Das steht nun immer unter Claudes Schul­auf­gaben, die sich zu veri­ta­blen epischen Geschichten auswachsen. Manchmal wirken sie wie Tele­no­velas, manchmal aber fragt sich Germain, ob er es nicht mit den Fort­set­zungs­ro­manen eines neuen Balzac zu tun hat.

Nicht genug damit: Claude portrai­tiert in diesen Alltags­ro­manen auch noch offenbar real­exis­tie­rende Personen: Einen seiner Mitschüler und dessen Eltern. Und zunehmend wird Germain nun zu Claudes Lehrer: »Wie löse ich die Frage 'was passiert als nächstes'? Keine Atempause für den Leser. Du musst ihn in Spannung versetzen. Der Leser ist wie der Sultan bei Shehe­ra­zade: Langweile mich – und der Kopf ist ab! Aber gibst du ihm ne gute Geschichte, schenkt der Sultan dir sein Herz.«

»Dans la maison« zu deutsch »In ihrem Haus« heißt diese neue Komödie des Franzosen François Ozon (dem Regisseur von boule­var­desken Komödien wie 8 Frauen und Das Schmucks­tück oder verschach­telten Psycho­thril­lern wie Swimming Pool), mit der Ozon im Sommer beim dies­jäh­rigen Film­fes­tival von San Sebastián den Wett­be­werb um die Goldene Muschel gewann, sowie zusätz­lich auch noch den Preis für das »Beste Drehbuch«. In Zentrum des Films steht der schrul­lige, genial-über­for­derte Literatur-Lehrer, selbst ein verhin­derter Schrift­steller, der seine geheimen Erfolgs­träume wie seine Komplexe im Nu auf den Schüler überträgt. Hinzu kommt Germaines Frau, gespielt von Kristin Scott-Thomas. Sie leitet eine Kunst­ga­lerie, leidet aber unter deren banau­sen­haften Besitzern.

Mit solchen Figuren bewegt sich François Ozon diesmal auf den Spuren von Woody Allens ebenso klugen, wie über­drehten Groß­stadt­komö­dien. Auch hier steht ein Zauderer und Beden­ken­träger im Zentrum, einer der mit großen Gedanken an den kleinen Dingen des Alltags­le­bens scheitert.

Zugleich geht es aber um Grund­sätz­li­ches: Was ist eigent­lich der Sinn von Kunst, welchen Stel­len­wert geben wir großer Literatur und Malerei in unserem Alltag, wie darf dies unser Leben beein­flussen und in Beschlag nehmen? Ist Kunst ein Trost im Ozean des Banau­sen­tums, oder eine Form der Welt­flucht, der Vermei­dung des wahren Lebens? Ein Woody Allen könnte diese Frage stellen, aber vor Ozon haben sie auch schon große Philo­so­phen wie Voltaire oder Friedrich Nietzsche aufge­worfen.

Wie Nietzsche fragt auch Ozon nach »Wahrheit und Lüge im außer­mo­ra­li­schen Sinn«.

Große Teile dieses Films spielen nämlich als Film im Film in der Phan­ta­sie­welt der Geschichten des Schülers Claude. Sie werden für den Zuschauer illus­triert, aber auch vor seinen Augen variiert. So demons­triert François Ozon auf sehr leichte, kurz­wei­lige, ganz selbst­ver­s­tänd­liche Art nicht nur die Kraft der Kunst, sondern noch viel allge­meiner die schöp­fe­ri­sche Kraft der Phantasie.