Die Taschendiebin

Ah-ga-ssi

Südkorea 2016 · 151 min. · FSK: ab 16
Regie: Park Chan-wook
Drehbuch:
Kamera: Chung Chung-hoon
Darsteller: Kim Min-hee, Kim Tae-ri, Ha Jung-woo, Cho Jin-woong, Kim Hae-sook, Moon So-ri u.a.
Bemerkenswerte Inszenierungskunst

Der Blick aus der Vagina

Es beginnt mit einer jungen Frau, die offen­sicht­lich einsam und verun­si­chert in einer Limousine sitzt. Ein Chauffeur fährt sie durch einen nächt­li­chen Wald. Sie kommt zu einem in einem pracht­vollen Park gelegenen, riesen­großen, überaus altmo­disch ausse­henden, irgendwie geheim­nis­vollen Haus, mit einem englisch einge­rich­teten und einem in japa­ni­scher Mode gehal­tenen Trakt, mit verwir­rend vielen Zimmern und Gängen und laby­rin­thi­schem Grundriss, dazu ein Keller, in den niemand hinein darf. Auf den ersten Blick fühlt man sich in eine klas­si­sche Gothic Tale versetzt, eine Schau­er­ge­schichte der Schwarzen Romantik. Man spürt die vikto­ria­ni­sche Atmo­s­phäre der Vorlage »Solange du lügst« (im Original »Fingers­mith«) von Sarah Waters. Aber die junge Frau ist eine Korea­nerin namens Sooki, und das Auto, mit dem sie anreist, zeigt, dass wir uns in den 1930er Jahren befinden. Dies war die Zeit der Besetzung von Korea und der Mand­schurei durch das kaiser­liche Japan.

Mit diesem Gebäude legt Regisseur Park Chan-wook bereits von Anfang an die Struktur seines Films offen: In seinem inten­siven Liebes-Thriller entfaltet er ein Spiel über die Macht der Maskerade und der Täuschung, voller unvor­her­seh­barer Wendungen.

Sooki soll als Dienerin in einem japa­ni­schen Haushalt arbeiten. Als Aller­erstes bekommt sie und damit auch das Kino­pu­blikum mit ihr von der Haus­vor­ste­herin eine Führung durch das gewaltige Gebäude. Sie lernt alles kennen, die kostbaren Räume, ihre erlesenen Einrich­tungs­ge­gen­s­tände, aber auch Orte, die mit abgrün­digen Anekdoten verknüpft sind, wie ein Kirsch­baum im Garten, an dem wie es heißt, die Tante der jetzigen Haus­herrin sich erhängt habe. Zentral ist hier jedoch der Feti­schismus der Objekte – und hier wieder die kostbare Biblio­thek des Onkels ihrer zukünf­tigen Herrin, eines berühmten Bücher­samm­lers.

Sie selbst bekommt in dem Gebäude eine kleine fens­ter­lose Kammer zuge­wiesen, direkt neben dem Schlaf­zimmer ihrer Herrin. Sie soll dieser schließ­lich jederzeit zur Stelle sein. »A good maid« heißt es, »is like chop­sticks – her presence you do almost not realize, but her absence is cause of distress.« Diese Herrin, eine Japanerin namens Hideko ist eine unver­hei­ra­tete Frau, und Erbin eines großen Vermögens.

Sehr kurz nach dieser Expo­si­tion wendet sich das Blatt: Sookis Erzäh­lungen aus dem Off machen klar, dass ihrer Ankunft ein großer Schwindel zugrun­de­liegt: Die junge Dienerin wuchs als Waisen­mäd­chen in einer Gangs­ter­bande auf,sie ist eigent­lich eine perfekt ausge­bil­dete Taschen­diebin, die bereits im Alter von fünf Jahren echte Edel­steine von falschen unter­scheiden konnte, und die auch alle anderen ausge­feilten Tricks ihres Gewerbes kennt. Als Zuschauer wissen wir nun, dass sie in den Haushalt einge­schleust wurde, weil es eine krimi­nelle Verschwö­rung gegen Lady Hideko gibt, die sie um ihr reiches Erbe prellen soll.

Doch dann bekommt die Story eine weitere radikale Wendung: Bald erblühen zwischen den beiden Frauen nämlich Gefühle, die weit über ihr Dienst­ver­hältnis hinaus­gehen – »All diese Knöpfe sind nur zu meinem Vergnügen da.« – und alle anderen Pläne zweit­rangig machen. Oder ist auch das nur eine optische Täuschung? Ist alles noch einmal wieder ganz anders? »Verdammte Scheiße. Er hatte mir nicht gesagt, dass sie so schön ist.« Der Betrug als Medium der Liebe.

Dies ist, in mehreren Kapiteln erzählt, eine Geschichte der Vexier­spiele und Perspek­tiv­wechsel, der Wendungen und vielen Über­ra­schungen. Das Herren­haus spielt darin eine Rolle mit seinen vielen Räumen und deren grund­ver­schie­denem Charakter, der Onkel und seine Biblio­thek, die Orga­ni­sa­tion und der Auftrag­geber Sookis, und ein Irrenhaus, von dem gesagt wird, es sei »constructed by the rational Germans«.

Wie die titel­ge­bende Taschen­diebin Sooki täuscht auch der Film ein ums andere Mal, bedient sich Finten und Umkeh­rungen. Überaus virtuos erzählt Regisseur Park Chan-wook, der einst mit dem Film Oldboy berühmt wurde, im Kern eine komplexe Liebes­ge­schichte, die sich mit dem Sujet eines roman­ti­schen Krimi­nal­thril­lers verbindet.

Denn auch Hideko hat offenbar noch andere Seiten: Sie erlebte ihre sehr persön­liche Form sexueller Initia­tion durch ihren Onkel, den Bücher­freund, indem dieser sie dafür trai­nierte, in perfekter Geisha-Aufma­chung stun­den­lang vor einem exqui­siten Kreis von Gästen aus seiner Biblio­thek zu lesen, genauer gesagt aus deren expli­ziter eroti­scher Literatur, Werken wie »Decadent Girls Sell Lingerie« oder die des Marquis de Sade. Die darin geschil­derten Posi­tionen demons­triert sie dem Publikum mit Hilfe einer Holzpuppe.

Die Taschen­diebin ist ein Film voller Eleganz und Tempo, Drive und Dynamik, getrieben von schöner Musik und bemer­kens­werter Insze­nie­rungs­kunst. Zudem ist eíne korea­nisch-japa­ni­sche Liebes­ge­schichte, noch dazu eine unter Frauen, in Asien immer noch schon als solche ein Tabubruch.

Auch hier aber steht, wie meist in Parks Filmen, der Feti­schismus im Zentrum. Der des Zuschauers versteht sich: Denn alles hier ist vom Kame­ra­mann Chung Chung-hoon mit großer Sorgfalt und Eleganz kompo­niert, es ist opulent insze­niert, pracht­voll ausge­stattet und anzusehen: Die kostbaren Bücher der Biblio­thek des Hauses, die Wand­ge­mälde, Möbel und Tapeten, und selbst ein riesiger Octopus, der einmal in einem viel zu kleinen Aquarium im für die Story bedeu­tenden Keller des Onkels auftaucht. Dies ist auch als lustiges Selbst­zitat des Regis­seurs herrlich (denn in Oldboy wurde ein kleiner Octopus lebendig gegessen), und bezogen auf andere Selbst-Zitate: Schwarze Tinte im Mund des Onkels, eine Zahn­be­hand­lung, und natürlich die von Park gewohnten höchst expli­ziten Folter­szenen. Hinzu kommen japa­ni­sche Malerei, kunst­voller Buchdruck, Musik von Mozart und Rameau, sowie vor allem die nackten Frauen- und Männer­leiber bei den gele­gent­li­chen, vergleichs­weise expli­ziten Sexszenen.

Dieser Sex ist wie die betref­fenden Körper sehr photogen, also nicht politisch korrekt, daher um so schöner und eroti­scher anzusehen – selbst­ver­s­tänd­lich hat »Die Taschen­diebin« seine Soft-Porno-Momente, ab darüber kann sich nur ernsthaft aufregen, wer erstens es prin­zi­piell doof findet, wenn Männer Filme über Frauen machen, zweitens komplett übersieht, dass Park Chan-wook auch richtige Porno-Momente in dem Film hat: Explizite Rein-Raus-Bewe­gungen. Aller­dings ist es ein Finger, der hier in einem fremden Mund rein-raus-geführt wird: Als Hideko, in der Badewanne liegend, von ihrer Dienerin gewaschen wird, beklagt sie sich über einen spitzen Zahn, der sie schmerzt. Sooki weiß Abhilfe und steckt ihren mit einem Fingerhut umman­telten Zeige­finger ganz langsam, ganz tief in den Mund ihrer Herrin. Sie reibt an deren Backen­zahn, schiebt ihren Finger immer wieder hinein und zieht ihn hinaus, um so den Zahn liebevoll anzu­feilen – ein Exzess, so explizit wie subtil.
Später dann wird es noch deut­li­cher, intimer: Ein Blick bleibt stehen, ein Atemzug verharrt, ein Finger streicht über einen Ellen­bogen und bleibt dort liegen. Und schließ­lich taucht Sookis erregtes Gesicht mit halb geöff­netem Mund und ein wenig erri­gierter, spitzer Zunge zwischen Hideko Schenkel, dann ein Schnitt, dann blickt das durch die Kamera vermit­telte Auge des Zuschauers aus der Perspek­tive zentriert von Hidekos Vagina.

Die Geschichte des Auges zeigt weitere Facetten. Denn nicht minder erotisch, mitunter sogar noch deut­li­cher aufge­laden ist die Nacktheit, die man nicht zu sehen bekommt, die aber unsere Vorstel­lung prägt. Das Pendant zu derar­tigem vorge­stellten, vor allem aber dem gezeigten Objekt bildet der Blick: Ohne Voyeu­rismus kein Feti­schismus. Der größte Fetisch ist das Haus, doch dies ist zugleich eine einzige große Blick­ma­schine. Weil dieser Film größ­ten­teils in Innen­räumen spielt, über­wiegen dunkle, vor allem braune Farbtöne. Sie sind eng und insofern klaus­tro­pho­bisch ange­haucht, es wird fort­wäh­rend eingeengt, und umgekehrt geöffnet – diese Bewegung ist wie ein Atmen der Gegen­s­tände.

Es gibt entspre­chend in diesem Haus, wie es sich uns im Film zeigt, lauter Fenster, Türen, Fens­ter­spalten und Schlüs­sel­löcher, es stehen Fern­gläser und es öffnen sich Guck­löcher. Es wird fort­wäh­rend beob­achtet, und Beob­ach­tung reflek­tiert. Die Menschen erfahren sich als Objekt, und wie in Jean Paul Sartre klas­si­schem Kapitel über den Blick (»Sur le regard« aus »Das Sein und das Nichts«) ist diese Erfahrung eine maso­chis­ti­sche, gegen die man ich nur durch Zurück­bli­cken zur Wehr zu setzen vermag.
Wer zuletzt blickt, blickt am stärksten – es geht am Ende hier um Erlangung oder Wieder­er­lan­gung der Souver­änität durch die Figuren.

Park erfüllt insofern mit diesem Film alle Erwar­tungen an sein Kino und an das Kino überhaupt: »Die Taschen­diebin« argu­men­tiert in Bildern; dies ist ein Film der sinn­li­chen Gewiss­heiten, nicht so sehr der intel­lek­tu­ellen Analyse und psycho­lo­gi­schen Trif­tig­keit, die auch die guten Filme europäi­scher und nord­ame­ri­ka­ni­scher Regis­seure oft im ästhe­ti­schen Würge­griff hält. Trotzdem ist dies aber eben nicht nur Ober­fläche, sondern auch ein in seiner Tiefe kluges, facet­ten­rei­ches Kinowerk.

Über die Titel herrscht Verwir­rung. Der inter­na­tio­nale »Hand­maiden« ist prag­ma­tisch wie ein Nietzsche-Leser es erwarten dürfte, der fran­zö­si­sche »Made­moi­selle« der schönste, der deutsche »Taschen­diebin« der deppertste. Der korea­ni­sche Titel dagegen bedeutet in wört­li­cher Über­set­zung übrigens »unver­hei­ra­tete Frau«, und bezieht sich insofern im Gegensatz zum inter­na­tio­nalen und deutschen Titel auf Hideko – oder zumindest auf beide Haupt­fi­guren. Dies ist nur ein zusätz­li­cher Beleg dafür, dass in dieser Art Kino alles im Auge des Betrach­ters liegt.