The Hateful 8

The Hateful Eight

USA 2015 · 169 min. · FSK: ab 16
Regie: Quentin Tarantino
Drehbuch:
Kamera: Robert Richardson
Darsteller: Samuel L. Jackson, Kurt Russell, Jennifer Jason Leigh, Walton Goggins, Tim Roth u.a.
Dialekt der Gewalt

A House Divided

Edelmann und Willmann stehen zu The Hateful Eight

Ouvertüre: 16:50 nach Red Rock

Es gibt keine Gene­ral­probe. Sobald das Publikum herein­schneit, muss alles perfekt sitzen. Alle Requi­siten haben sich an ihrem Platz zu befinden – inklusive der mensch­li­chen. Sobald die Tür aufge­stoßen wird, soll die unmensch­liche Komödie ihren Lauf nehmen, ohne dass den Ankömm­lingen überhaupt bewusst wird, dass sie eine kalku­liert arran­gierte Szene betreten.

Auch die Figuren in The Hateful Eight wissen, wie wichtig ein so über­zeu­gendes wie unter­schwel­liges »Stage­set­ting« ist.
Das Bereiten der Bühne ist ein Thema, welches den Film auf vielen Ebenen durch­zieht, erzäh­le­risch wie formal.
Das beginnt schon mit der äußeren Gewandung der 70mm-Roadshow-Fassung: Mit der Ouvertüre, die einen noch vor dem ersten Bild in die Welt des Films geleitet. Mit der Zwei­tei­lung des Films, die auch narrativ das Aufziehen der Spiral­feder und das unauf­halt­same Abrattern des Spiel­werks vonein­ander trennt. Mit der Pause in der Mitte, nach welcher die Stimme des Regis­seurs als Erzähler – quasi wie eine zweite Ouvertüre – einen zurück­holt in die Geschichte. Wo ebenfalls knapp eine Vier­tel­stunde vergangen ist – in welcher die Figuren selbst quasi als Bühnen­ar­beiter über­flüssig gewordene Requi­siten entfernten, um den Raum für den zweiten Akt zu bereiten.
Und mit dem über­breiten Bildkader des Ultra Pana­vi­sion 70-Formats. Bei dem Tarantino zwei Tradi­tionen des 70mm-Kinos verbindet: Zunächst jene geläu­fi­gere der über­wäl­ti­genden, epischen Land­schafts­pan­oramen. Aber die weißen Winter­wes­tern-Weiten dienen weniger einem Geschmack von Abenteuer, denn zur Etab­lie­rung der lebens­feind­li­chen Unwirt­lich­keit, welche die Figuren zwingt, sich in »Minnie’s Haber­da­s­hery«, einer windigen Berg-Kaschemme, zu verbar­ri­ka­dieren. Da wechselt der Film zum Bühnen-Breitbild – zur Tradition der 70mm-Leinwand als Theater-Guck­kasten.
Aus äußerer Größe wird eine innere, intime Größe. Ein Spektakel der mensch­li­chen Dimen­sionen. Wobei einen Tarantino bewusst trüge­risch zu dem Glauben verleitet, man habe in dem einen, unge­teilten Raum einen steten Überblick über alles Geschehen. Die Insze­nie­rung ist doppel­bödig, darauf aus, einem an entschei­denden Stellen den Teppich unter den Füßen wegzu­ziehen.

1. Acht Himmel­hunde auf dem Weg zur Hölle

Das Dramatis personae der Figuren, die auf die Bretter stapfen, die die Welt des Films bedeuten, liest sich wie folgt:

THE BOUNTY HUNTER (»Der Kopf­geld­jäger«), Major Marquis Warren, hat als Schwarzer in der Armee der Nord­staaten gekämpft. Jetzt als Kopf­geld­jäger betreibt er gnaden­lose Aufwands-Ertrags-Opti­mie­rung – warum risi­ko­be­haf­teter Lebend­trans­port seiner Umsatz-Ziele, wenn er in etwas Blei inves­tieren kann, um sie als sichere Umlagen in das steck­ver­briefte Gold zu verwan­deln. Dabei war selbst einst ein Preis auf seinen Kopf ausge­setzt – weil ihm im Krieg die Rache an den Weißen vor den Regeln des erlaubten Tötens ging.
Die Macht der Gewohn­heit lässt einen lange fest­halten an ihm als vermeint­li­chem Helden des Ganzen: Er mag moralisch nicht ganz eine schnee­weiße Weste haben. Aber man kennt Samuel L. Jackson ja in der Persona des gewitzten Tunicht­guts, als Taran­tinos Inbegriff von schwarzer Coolness.

THE HANGMAN (»Der Henker«), John Ruth, verdient seinen Spitz­namen dem Umstand, dass er als Kopf­geld­jäger einen Ehren­kodex vorschützt: Seine Beute liefert er grund­sätz­lich lebend dem Scharf­richter aus. Aber man fragt sich, ob nicht manche seiner Opfer, vor die Wahl gestellt, lieber gleich eine Kugel in den Rücken hätten, als sich noch eine Woche von Ruth durch die Gegend schleifen und das Gesicht zerschlagen zu lassen, bevor sie unwei­ger­lich am Strang enden.
Auch ihn möchte man latent entschul­digen, weil Kurt Russell ja so ein »man’s man« ist. Ein ruppiger, leicht räudiger, miss­traui­scher Grizzly. Doch unter dem strup­pigen Pelz verbirgt sich ein unnach­gie­biger, rück­sichts­loser Pausen­hof­ty­rann.

THE PRISONER (»Die Gefangene«), Daisy Domergue, scheint von Anfang an ständig in Lauer­stel­lung. Solange sie an den Hangmen gekettet ist, gibt sie dessen duldenden Punching­ball. Lässt es sich aber da schon nicht nehmen, verbal die Grenzen auszu­reizen. Man zollt ihr unwei­ger­lich Respekt, weil sie es als Frau in dieser Männer­welt auf solch ein beacht­li­ches Kopfgeld gebracht hat. Und deutet den gren­zen­losen Hass in ihren Augen als völlig berech­tigt – nicht wirklich ahnend, was für eine Seeräuber-Jenny in ihr steckt.
Tarantino besetzt Jennifer Jason Leigh im vollen Bewusst­sein ihrer filmo­gra­phi­schen Vorprä­gung, pendelnd zwischen den Polen von Maso­chis­tinnen und Psycho­pa­thinnen: Eine Frau, die Geschichte mitbringt.

THE SHERIFF (»Der Sheriff«), Chris Mannix, müsste eigent­lich der sofort offen­sicht­lichste Unsympath im Ensemble sein: Oppor­tu­nis­tisch, rassis­tisch, dumm – blind fest­hal­tend an den radikalen Südstaaten-Parolen seiner unbe­lehr­baren Rebels-Familie. Aber es fällt einem schwer, ihm all das wirklich übel zu nehmen. Weil er einfach solch ein mitleid­s­er­re­gender Vollspack ist.
Und weil Walton Goggins – Neo-Nazi in »Justified«, Skla­ven­treiber in Django Unchained, aber fei nicht auf Rollen fest­ge­legt... – so genüss­lich den berühm­teren Kollegen die Stirn bietet.

THE LITTLE MAN (»Der kleine Mann«), Oswaldo Mobray, seines Zeichens britischs­täm­miger Henker und Geck. Trotz seiner – aus heutiger europäi­scher Sicht zwei­fel­haften – Berufs­wahl, scheint er die Stimme der Vernunft: Sehr gelehrt argu­men­tiert er für die Leiden­schafts­lo­sig­keit der Voll­stre­ckung eines wie auch immer gefällten Urteils. Für ein zivi­li­siertes, rechts­staat­li­ches Töten.
Tim Roth spielt die Rolle mit teuf­li­schem Vergnügen als eine Mischung aus der extro­ver­tierten Körper­lich­keit von Ted, the Bellhop, aus FOUR ROOMS; der ins Lächer­liche über­stei­gerten, aber nahtlos ins Mörde­ri­sche umschla­genden Upper Class-English­ness von Archibald Cunningham aus ROB ROY; und einer punk­tu­ellen, feixenden Parodie von Christoph Waltz' Sprach-Manie­rismen.

THE CONFEDERATE (»Der Konfö­de­rierte«), Gen. Sanford Smithers, sitzt definitiv auf der falschen Seite der Geschichte. Er verkör­pert den zerbors­tenen Südstaaten-Traum von Selfmade-Gentlemen, die Tradition und Familie über alles hoch­halten. Und völlig blind sind für die humane Verhee­rung, auf der ihr recht­schaf­fenes Leben basiert.
Bruce Dern bringt in die Rolle zunächst schlicht sein tatsäch­li­ches Alter, eine wahr­haf­tige Gebrech­lich­keit ein – wofür es nicht allzu­viele noch aktive, promi­nente Alter­na­tiven gegeben hätte. Ande­rer­seits ist bei Tarantino die Ironie nicht zufällig, ausge­rechnet für diese Rolle eine Ikone des links-progres­siven Filme­ma­chens der 1960er und ‘70er zu wählen.

THE MEXICAN (»Der Mexikaner«), Bob, ist die einzige Figur, die fast erschöp­fend allein durch ihre Herkunft definiert wird. Und nicht nur das – diese Herkunft macht ihn in der Welt von The Hateful Eight sofort suspekt. Während um den Stand der Schwarzen in der jungen Nation immerhin noch gekämpft wird, gibt es über die Zugehö­rig­keit und den Charakter von Mexi­ka­nern nicht einmal Debatten.
Von Demián Bichir sieht man vor lauter Pelz­mantel und Bart fast nur die Augen. Er ist unter den Darstel­lern der Titel­fi­guren der einzige, der für das nord­ame­ri­ka­ni­sche Publikum eher kein Begriff ist – trotz seiner Oscar-Nomi­nie­rung 2012 für A Better Life und einer Haupt­rolle in der US-Version der Serie »The Bridge«. Tarantino nutzt den Kontrast von Bichirs Star-Status in Mexiko – und dem quasi gene­ri­schen »Mexikaner«, den er hier verkör­pert.

THE COW-PUNCHER (»Der Rinds-Toni«), Joe Gage, ist der einzige echte Cowboy in diesem Western. Und drum die Figur ohne echte Funktion: Die Frontier ist weit weg, die Handlung spielt im vermeint­lich zivi­li­sierten Raum, wo – egal wie unmensch­lich – Recht und Ordnung herrschen, und nicht das Gesetz der Wildnis. Dieser Haudegen ist schon in seiner Äußer­lich­keit zugleich etwas aus den Fugen geronnen und von depla­zierter Eitelkeit: Sein Hemd wirkt in seiner Musterung eher wie eine Frau­en­bluse oder ein Kinder­py­jama. Und darauf, dass es im Westen auch blutig zugehen kann, ist er vor allem insofern vorbe­reitet, als dass er stets ein sauberes Ersatz-Halstuch parat hat.
Michael Madsen ist von den Tarantino-Veteranen in The Hateful Eight jener, dessen Geschicke am engsten mit diesem Regisseur verknüpft sind. Trotz einer sehr, sehr, sehr umfang­rei­chen Filmo­gra­phie finden sich in den letzten zwei Jahr­zehnten nicht wirklich andere Rollen, mit denen man ihn verbinden würde. In diesem Film spielt Tarantino mit dem Image, das er für ihn geschaffen hat, unter­läuft es teilweise: Sonst geht von Madsen eine irra­tio­nale, lustvolle Bruta­lität aus – so harmlos er sich in The Hateful Eight auch zunächst gibt, rechnet man deswegen dennoch immer mit der Möglich­keit eines unpro­vo­zierten Gewalt­aus­bruchs. Aber das Bild von schweig­samer Männ­lich­keit, das er hier zeichnet, ist ein anderes.

Das jeden­falls sind die Figuren, wie sie sich uns vorstellen. Doch nicht alles davon sind einfach nur Rollen im Film. Es sind auch Masken, die sie innerhalb der Geschichte aufge­setzt haben.
Dabei bedienen sie sich der Erwar­tungen, welche Genres von Gestalten in dieser Umgebung anzu­treffen sein könnten – ebenso wie Tarantino die Erwar­tungen nutzt, die das Publikum an das Personal eines klas­si­schen Westerns hat.
Bei manchen von ihnen hat man das Gefühl, dass sie in ihrer ange­nom­menen Identität mehr bei sich selbst sind als in ihrer »wahren«, die ihnen das Leben zuge­schus­tert hat: Dass sie im wahrsten Sinne des Wortes »self-made men« sind.
Selbst jene, die vonein­ander insgeheim die Wahrheit wissen, kommu­ni­zieren in ihren Gesprächen auf der Ebene der Masken mitein­ander.
Beim zweiten Sehen des Films, wenn man alle Hinter­gründe kennt, erhalten viele Blicke, manch Mienen­spiel – gerade von vermeint­lich an einer Szene unbe­tei­ligten Person – eine ganz neue Bedeutung. Aber nicht, weil die Figuren damit unter­ein­ander ihre Allianzen aushan­deln oder bekräf­tigen würden – sondern weil ihre eigenen Gedanken für einen sichtbar werden.

2. Lie To Me

War Inglou­rious Basterds ein Film über Sprache, und Django Unchained ein Film über Namen, so ist The Hateful Eight ein Film über Lügen.
Selbst der Hand­lungsort täuscht vor, etwas anderes zu sein, als er ist: »Minnie’s Haber­da­s­hery« hat von Zuckerzeug über Trocken­fleisch und Expe­di­ti­ons­aus­rüs­tung bis zu Spiri­tuosen und Munition so ziemlich alles im Angebot – außer den namens­ge­benden Kurz- und Mieder­waren. »Ach, jetzt schnall ich’s – das ist ein Witz«, sagt Chris Mannix, als er sich erstmals in der Kaschemme umschaut.

Es geht in dem Film immer wieder darum, wer wem was abkauft.
Es herrscht von Anfang an ein eisiges Klima des Miss­trauens. Vor allem John Ruth, der »Hangman«, vertraut niemandem als sich selbst. Egal wer ihm begegnet, er geht immer von den fins­tersten Absichten aus. Mitrei­sende lässt er nur extrem wider­willig in seine Kutsche – ihm wäre es egal, wenn sie im Schnee­sturm verrecken, solange das für ihn keine persön­li­chen Nachteile hätte. Und in Minnie’s Haber­da­s­hery ange­kommen, nimmt er sich sofort das Recht heraus, alle Anwe­senden einer Art Einzel­verhör zu unter­ziehen. Nicht, um dem, was sie ihm aufti­schen, Glauben zu schenken – sondern um sie anhand ihrer Geschichten besser einschätzen zu können.
Um auf Nummer Sicher zu gehen, nimmt er allen ihm Unbe­kannten die Revolver ab. Das lassen sie erstaun­lich wider­standslos über sich ergehen – denn sie sind deswegen noch lang nicht entwaffnet. Es herrscht nicht einfach das Recht des Stärkeren, Schnel­leren; die reine äußere Über­le­gen­heit reicht nicht: Wann man losschießt, ist vielmehr eine Verhand­lungs­sache.
Fast jede Szene des Films dreht sich um das Aushan­deln von Macht­po­si­tionen – darum, wer jeweils die Oberhand hat, wer sich was gefallen lassen muss. Und dabei sind Schießeisen nur eins der möglichen Argumente, nicht zwangs­läufig über­zeu­gender als das Wort (sei es die Wahrheit oder Lüge), die Mani­pu­la­tion, oder ein Status, der durch Dokumente, Uniformen, Ämter gewähr­leistet ist. Der Revolver bekräf­tigt das Resultat des Diskurses nur endgültig.

Die Begegnung unbe­kannter Fremder in einem Raum ohne soziale Garantien ist ein klas­si­scher Western-Topos. The Hateful Eight aber ist ein Nach-Bürger­kriegs-Western in Rein­kultur.
Er spielt ausschließ­lich im bereits »zivi­li­sierten« Raum diesseits der zunehmend verschwin­denden Frontier. Der Krieg ist offiziell vorbei, nun muss man eine Nation bauen. Doch den Siegern wird schmerz­haft klar, dass sie noch lange nicht gewonnen haben. Es ging bei der bewaff­neten Ausein­an­der­set­zung ja nicht um die Eroberung von geogra­phi­schem Terri­to­rium – sondern zuerst um Ideale. Und diese geben die Unter­le­genen nicht einfach auf.
Solch eine Klei­nig­keit wie bedin­gungs­lose Kapi­tu­la­tion – merkt der Brite Oswaldo Mobray an – lassen Ameri­kaner doch freilich einem zünftigen Krieg nicht in die Quere kommen. Aber nicht die Schlachten gehen weiter, sondern die Frie­dens­ver­hand­lungen: Zu was berech­tigt einen in diesen jungen USA das, was einem auf dem Papier zuge­spro­chen wird, wirklich? Die Verfas­sungs­lage mag eindeutig sein – aber unzählig sind die möglichen realen Kombi­na­tionen von Hautfarbe, Unifor­mie­rung, Stand, Loya­litäten, persön­li­chen Geschichten. Und was sie einem an Privi­le­gien und Respekt bringen – oder auch nicht –, das hängt vielmehr von der jewei­ligen Situation und der entspre­chenden Kombi­na­tion des Gegenübers ab.

Ausge­rechnet John Ruth, der sein Mißtrauen gegenüber allem und jeden am offensten zur Schau stellt, erweist sich in diesem Prozess als letztlich über­ra­schend naiv: Er ist von der Existenz einer Wahrheit hinter den Masken überzeugt. Und dabei kann sein Urteil nicht nur – in beiden Rich­tungen – erheblich dane­ben­liegen. Sondern es ist ihm auch stets ernst damit. Es verletzt ihn zutiefst, wenn er begreift, dass er dem Falschen Glauben geschenkt hat.
Die übrigen Figuren hingegen gewinnen dem stra­te­gi­schen Umgang mit der Wahrheit durchaus etwas Spie­le­ri­sches ab. Zum einen kosten sie ihr Rollen­spiel, ihre Perfor­mance, mitunter geradezu genüss­lich aus. Zum anderen sehen sie die Notwen­dig­keit des Iden­ti­täts-Pokers auch für Andere ein, nehmen es ihnen nicht zwangs­läufig übel – fühlen sich davon teils sogar unter­halten und zollen besonders gewagten oder gelun­genen Auftritten gebüh­rende Hoch­ach­tung.
Und es gibt eine Gruppe von Menschen in dieser neuen Nation, für die das Täuschen und Tricksen ganz besonders essen­tiell ist als Über­le­bens­stra­tegie.

3. The Scarlet Letter

Nur wenn die Weißen entwaffnet sind, sind die Schwarzen sicher – sagt Major Warren: »The only time black folks are safe is when white folks is disarmed.« Freilich ist es für einen Schwarzen ein eher prekäres Unter­fangen zu versuchen, dies mit Gewalt zu erreichen. Warren hat da probatere Mittel – und davon das entwaff­nendste ist ein nicht nur an ihn persön­lich gerich­teter, sondern gar freund­schaft­li­cher Brief von Präsident Abraham Lincoln.
Er trägt ihn sicher verwahrt in einer Innen­ta­sche, nah seiner Brust – wie einen Schatz oder ein Schutz­schild. Er holt ihn nur ungern hervor, zele­briert es, wenn er einem der hand­ver­le­senen (Un)gläubigen einen Blick auf das legendäre Schrift­stück gewährt. Das Brim­bo­rium steht in einem gewissen Wider­spruch zu dem Brie­fin­halt. Der ist größ­ten­teils ein etwas ausführ­li­cheres, schöner formu­liertes: »Wie geht es Dir, mir geht es gut.« Erst gegen Ende gibt es etwas poli­ti­sches Pathos, vom Wert des schwer Errun­genen und dem weiten noch zu gehenden Weg bis zu einem wirk­li­chen Zusam­men­wachsen der Nation. (Allemal: Prophe­ti­sche Worte.) Und dann das eine häusliche Detail zum Abschied, dessen intimem Charme sich niemand entziehen kann: Abraham Lincoln muss den Brief schließen, weil seine Frau Mary Todd – »Old Mary Todd« nennt er sie liebevoll – ihn zu Bett ruft.
»That’s a nice touch«, sagt nicht nur einer der privi­le­gierten Leser – und nicht nur beim ersten Lesen. »Get’s me every time«, setzt John Ruth hinzu.

Ausge­rechnet John Ruth – der sich sonst lieber dreimal absichert, bevor man ihn hinters Licht führte – lässt sich von diesem Brief nur zu bereit­willig berühren. Er behandelt ihn mit jener Ehrfurcht, die einer ameri­ka­ni­schen Reliquie gebührt. Der Brief hat für ihn eine Aura, die ausstrahlt auf den Adres­saten und ihn erhebt über Ruths routi­nierten Zweifel. Ohne das Schreiben hätte Warren den Platz in Ruths Kutsche womöglich nie bekommen – es bringt in im Wortsinne weiter; dient zugleich als Ausweis, Passier- und Fahr­schein.
Hingegen ist es Chris Mannix – sonst nicht gerade der Hellste –, der sofort Betrug vermutet. Ausge­rechnet er, dem die anderen seine Stellung als Sheriff ohne schrift­liche Legi­ti­ma­tion abkaufen sollen, verlacht das hehre Schrift­stück, als wäre er der einzige, der die Pointe begriffen hätte.

Freilich ist das nicht wirklich eine Frage der Gewieft­heit – vielmehr offenbart der Brief in der Reaktion auf ihn die tief­sit­zende Haltung des jewei­ligen Lesers zu der Idee eines Amerika als wirklich geeintes Land der Freien und Gleich­be­rech­tigten. Der Brief ist gleichsam ein Lack­mus­pa­pier – auch für das Publikum.
Ruth will glauben, dass es solch eine Brief­freund­schaft geben kann zwischen dem Präsi­denten und einem schwarzen Major. Das würde heißen, dass die Opfer des Kriegs gerecht­fer­tigt waren; die Nation an keinen funda­men­talen Miss­ständen mehr leidet; die ehema­ligen Sklaven jetzt die gleichen Chancen haben, ihres eigenen Schick­sals Herr zu werden. Die Existenz des Briefs beruhigt sein Gewissen als weißer Mann.
Mannix ist schlicht Rassist: »When niggers are scared, that’s when white folks are safe.« Um den Weißen ihr ruhiges, sicheres Leben zu garan­tieren, dürfen die Schwarzen ihre Angst nicht verlieren. Für ihn ist der Gedanke absurd, dass der Präsident sich mit einem bloßen Major, geschweige denn einem Schwarzen abgibt. Darin ist er aber nicht nur ehrlicher als Ruth (der mit keinem Afro-Ameri­kaner außer Warren je wirklich ein Gespräch geführt hat) – sondern er trifft die Lage in seinem Land auch realis­ti­scher.

Letztlich ist es nahezu egal, ob der Schrieb ein authen­ti­scher Brief unter Freunden ist, oder eine sehr genau und listig kalku­lierte Waffe. (Eine Unge­wiss­heit, mit der der Film bis zum letzten Moment spielt.)
Die eigent­liche Lüge liegt auf tieferer Ebene – das idea­lis­ti­sche Verspre­chen, welches der Inhalt verkör­pert, ist besten­falls naiv und weltfremd. Schlimms­ten­falls ist es eine kalku­lierte Lüge, um die Schwarzen ruhig, ohne die wahren Macht­ver­hält­nisse in Frage zu stellen. Ähnlich wie die Uniformen, welche die Nord­staaten-Armee ihren schwarzen Soldaten angezogen hat, eine bloße perfide Illusion von Gleich­heit waren – findet Major Warren. Der freilich noch immer seine Uniform trägt, quasi wie ein wärmendes Accessoir zum »Lincoln Letter«. Und der selbst keines­wegs davor zurück­scheut, wann immer er Rache übt, lustvoll die körper­li­chen Qualen seines Opfers durch die Demü­ti­gung und seelische Pein falscher Verspre­chen von Linderung zu verviel­fa­chen.

4. Trouble in Paradise

Es gibt in The Hateful Eight keine Utopie, die nicht in ihrem Innersten vergiftet wäre.
Selbst wenn der Kampf der Nord­staaten für die Eman­zi­pa­tion der Schwarzen ehrlicher wäre, würde das nichts ändern am beden­ken­losen Völker­mord an den Indianern. Auf den der Film nicht ausführ­li­cher eingeht – doch ihm genügen ein paar wenige Finger­zeige, wie etwa die Navajo-Decke, derer sich Chris Mannix unver­froren bemäch­tigt, um bewusst zu machen, dass dieser Genozid im Hinter­grund immer mitzu­denken ist.
Und selbst der fiktive Zufluchtsort, den der Film entwirft, ist nur auf den ersten Blick ein idyl­li­scher, idea­lis­ti­scher Gegen­ent­wurf zur kalten, rassis­ti­schen Außenwelt. Wenn man in einer Rück­blende zum ersten Mal das Leben in »Minnie’s Haber­da­s­hery« vor dem Sturm kennen­lernt, scheint es die Verwirk­li­chung der hehren Vorstel­lungen von Mensch­lich­keit, Wärme, Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlechter und Haut­farben. Von einer afro-ameri­ka­ni­schen Frau geführt, sind dort vermeint­lich alle will­kommen, werden alle umsorgt – und die einzigen Kämpfe, die dort ausge­tragen werden, sind gemüt­liche Schach­par­tien am Kamin.
Doch auch dieses durchaus reale Glück hat faulige Wurzeln. In Taran­tinos Oeuvre gibt es stets utopische Räume, die von außen bedroht oder zerstört werden – »Minnie’s Haber­da­s­hery« ist der einzige davon, der bereits vor Einsetzen der Handlung verdorben ist. Und wie wichtig das ist zeigt sich schon daran, dass der fertige Film diesen Aspekt gegenüber der ursprüng­lich geleakten Dreh­buch­fas­sung deutlich verschärft.
So rührend liebevoll und verspielt die Beziehung Minnies mit dem älteren, weißen »Sweet Dave« wirken mag, und so sehr dominiert von der patent-resoluten Minnie: Der histo­ri­sche Rahmen nötigt einen, sie mit der Frage im Hinter­kopf zu betrachten, wie denn wohl zwischen den beiden vor dem Bürger­krieg die (Besitz?)Verhält­nisse ausge­sehen haben müssen.
Und obwohl Minnie selbst den Großteil ihres Lebens, allein aufgrund ihrer Abstam­mung, vor dem Gesetz nicht als Mensch galt, sondern als Ware, scheut sie nicht davor zurück, ganz offen und für jeden gut lesbar alle Mexikaner prin­zi­piell auf eine Stufe mit Hunden zu stellen.

5. Coffy & Ciga­rettes

Das Erste, was die Reisenden durch einen Wintertag tun, nachdem sie sich vor dem nahenden Blizzard zum unfrei­wil­ligen Aufent­halt in »Minnie’s Haber­da­s­hery« gerettet haben, das ist: Genießbaren Kaffee kochen. Die ganze Kutsch­fahrt über war Minnies legen­därer Kaffee in aller Munde – und dann erwartet sie in Wirk­lich­keit eine untrink­bare Brühe. John Ruth kippt nach dem ersten, ausge­spuckten Schluck das Gesöff aus und macht sich erstmal daran, eine ordent­liche Kanne zu brauen. Denn ohne guten Kaffee stünden die Chancen von Anfang an schlecht, das gemein­same Einge­schneit­sein irgendwie zivi­li­siert zu über­stehen.
Dass das, was da auf dem Ofen vor sich hinköchelt, so gar nicht dem voran­ei­lenden Ruf entspricht, ist das erste untrüg­liche Anzeichen dafür, dass etwas faul ist im Staate Wyoming. Und wer Taran­tinos Werk kennt, ahnt auch, dass da mehr als eine Klei­nig­keit im Argen liegen muss.
Kaffee – oder wie der beken­nende Legas­the­niker im Drehbuch schreibt: »coffy« – ist bei Tarantino sozusagen dicker als Blut. Ob die Reservoir Dogs vor ihrem Raubzug über Trinkgeld-Etikette, Gottes­mutter und die Welt disku­tieren; The Bride in Kill Bill den Rachemord an Black Mamba für eine gemein­same Tasse Kaffee unter­bricht; oder The Wolf es sich trotz Zeitdruck bei der Leichen- und Spuren­be­sei­ti­gung nicht nehmen lässt, in Pulp Fiction das ange­bo­tene Heiß­ge­tränk zu genießen und loben: Der Kaffee sorgt dafür, dass die Filme inne­halten, das Narrative sich eine Auszeit nimmt – und die Figuren aus ihren Rollen treten, Menschen sein dürfen. Er ist eine Stimulanz für Entschleu­ni­gung. Kata­ly­sator für eine Art Runter­schalten in ein anderes Genre. Kein Koff­e­in­schub, um versof­fene Anti-Helden aufzu­put­schen – sondern ein Entropy-Drink, etwas fast bieder Gemein­schafts­stif­tendes, Gemüt­li­ches, Verbin­dendes. Alle Menschen werden Brüher.
Es ist kein neben­säch­li­ches Detail, sondern eine funda­men­tale Wendung ins Pessi­mis­ti­sche, wenn dies in The Hateful Eight erstmals anders ist: Auch dieses utopische Moment ist hier (buchs­täb­lich) vergiftet. Statt den gnaden­losen Lauf der Gewalt wenigs­tens für eine Weile zu unter­bre­chen, lässt Tarantino – nach der uner­wartet unblu­tigen ersten Hälfte – das Inferno losbre­chen.
Und es ist tatsäch­lich die Stimme des Regis­seurs höchst­per­sön­lich, die den Bruch einleitet und erklärt – und damit an die Anwe­sen­heit eines mani­pu­lie­renden Schöpfers gemahnt: Hier vergiftet der Regisseur noch selbst. (Tarantino ließ es sich auch nicht nehmen, tatsäch­lich seine Hand dafür ins Bild zu halten.)
Es ist die einzige Stelle im ganzen Film, an der sich ein Erzähler einmischt. Und in der 70mm-Roadshow-Fassung sitzt sie auch an der formalen Soll­bruch­stelle: Nach der Inter­mis­sion – aus der einen nicht ohne Sarkasmus ausge­rechnet Chrystal Gales Song »Ready for the Times to Get Better« zurück in den Film geleitet.
Nach der Hälfte des Films (also bereits normaler Spiel­film­länge) werden wir freund­lich aber bestimmt darauf gestoßen, dass wir der Willkür eines nur vermeint­lich zuver­läs­sigen Partners bei einem unaus­ge­spro­chenem Vertrag zwischen Filme­ma­cher und Publikum ausge­lie­fert sind. Die erste Hälfte haben wir uns heimelig gefühlt im vertrauten Tarantino- und Genre-Universum – bis die einen schon mit einem Schlag in die Magen­grube in die Pause entließ. Nun aber wird uns bitter­lich klar, dass wir in diesem Film keinen anderen Status haben als die Charak­tere; dass wir keinen Hitch­cock­schen Suspense-Infor­ma­ti­ons­vor­sprung genießen, sondern da jemandem unser Vertrauen geschenkt haben, der sowohl seinen Figuren als auch uns – und letztlich auch sich selbst – gegenüber gnaden- und ruchlos ist, keine unan­tast­bare Zuflucht duldet.

In The Hateful Eight demon­tiert Tarantino bisherige Grund­kon­stanten seines werküber­grei­fenden, von »Red Apple«-Tabak­schwaden durch­zo­genen Univer­sums – in dem der Film einen neuen chro­no­lo­gi­schen Anker­punkt zwischen Django Unchained und Inglou­rious Basterds setzt. In vielerlei Hinsicht fühlt er sich an wie ein unty­pi­scher Tarantino. (Freilich: Was ist ein typischer Tarantino? Entgegen der ober­fläch­li­chen, land­läu­figen Meinung spricht jedes seiner acht Haupt­werke einen durchaus eigen­s­tän­digen Dialekt seiner unver­kenn­baren Sprache.)
So ist der Film mit seinen Refe­renzen auf die klas­si­schen wie obskuren Genre-Vorbilder nicht ganz so enzy­klopä­disch, mit seinen film­his­to­ri­schen Zitaten nicht ganz so wort­wört­lich wie üblich. Sein Verweis­system ist mehr »Taran­ti­no­verse«-intern. (Eine der Figuren aus The Hateful Eight entpuppt sich sogar en passant als ein direkter Vorfahre des glor­rei­chen Bastards Archie Hicox.) Bei aller Hommage an Winter­wes­tern und Krimi-Kammer­spiele – der Film ist noch mehr die Ausein­an­der­set­zung, Wieder­be­geg­nung mit dem Debut eines Regis­seurs, den Tarantino seit jeher sehr bewundert: Reservoir Dogs.
Mit dem teilt Hateful Eight die räumliche, zeitliche und perso­nelle Beschrän­kung – steigert die Geschlos­sen­heit in einer Hinsicht aber noch: Es ist Taran­tinos erster Film mit einer eigens kompo­nierten, thema­tisch zusam­men­hän­genden Filmmusik. Bisher war der Sound­track – für Tarantino ein enorm wichtiges Element seiner Kunst – immer etwas, das hinaus­ge­wiesen hat über den jewei­ligen Film: Ein hand­ver­le­senes Mixtape aus Songs sowie Cues bereits exis­tie­render Scores, dabei mitklin­gend ein dichtes Geflecht an Asso­zia­tionen.

Es gibt zwar durchaus Songs in The Hateful Eight – doch ungewohnt über­schaubar an der Zahl, und vom Coolness-Faktor kaum für die Play­listen von Studen­ten­par­ties prädes­ti­niert. Vielmehr sind sie ausge­wählt, um als eine Art Fort­füh­rung, Verklei­dung der Erzähl­stimme zu fungieren – als (teils konter­ka­rie­render) Kommentar des Gesche­hens. Nur der erste Song im Film, »Apple Blossom« von den White Stripes, scheint so zu funk­tio­nieren, wie man das von Tarantino-Filmen gewohnt ist – aber er wirkt wie eine ungelenk über­spitzte Variante solcher Musik­ver­wen­dung, wirkt fast wie ein Fremd­körper. Und wird dann über­ra­schend abrupt abge­bro­chen – wie ein »Oh Freunde, nicht diese Töne!«. Neben Pausen- und Abspann­song gibt es anschließend nur noch zwei Liedeinsätze: »Now You're All Alone« zählt schon mal voran. Und mit Daisy Domergues/Jennifer Jason Leighs Inter­pre­ta­tion von »Jim Jones at Botany Bay« wird für John Ruth das Wunsch­kon­zert zur mord­an­dro­henden Verwün­schung.
Aber wenn die Filmmusik schon nicht als Album von Verweisen dient, so muss selbst­ver­s­tänd­lich wenigs­tens die Wahl des Kompo­nisten Film­his­torie anklingen lassen. Mit Ennio Morricone als Verbün­detem zitiert Tarantino die würdige Italo-Western-Tradition nicht mehr nur an, sondern schreibt sich in sie so ehrfurchts­voll wie dreist ein.
Doch anders als (viel­leicht sogar von Tarantino selbst) erwartet, bekommen wir nicht den Morricone der großen Leone, Corbucci & Co.-Western zu hören. Die Musik beschwört so wenig den (über­kom­menen) Mythos von Weite und Freiheit jenseits der Frontier wie der Film selbst. Hier spielt sie uns ein anderes Lied vom Tod: Morricone antwortet auf den klaus­tro­pho­bi­schen Albtraum von The Hateful Eight mit einem Horror­film-Sound­track.
Das ist mehr als ein akus­ti­scher Eindruck: Seine Basis sind die nicht verwen­deten orches­tralen Teile von Morri­cones Filmmusik zu John Carpen­ters The Thing. Einige davon verwendet er hier wieder; die neukom­po­nierten Stücke bezieht er thema­tisch darauf – und schließ­lich macht er die Genre-Verbin­dung ganz explizit, indem er drei Cues des offi­zi­ellen THE THING-Sound­tracks, sowie einen aus The Exorcist Ii – The Heretic direkt reani­miert.

Dahinter steckt mehr als Zufall, Prag­ma­tismus oder Willkür: Die Verwand­schaft geht viel tiefer als musi­ka­lisch. Tarantino selbst führt The Thing neben Reservoir Dogs als prägendste Inspi­ra­tion für The Hateful Eight an. Die Ähnlich­keiten in der topo­gra­phi­schen, meteo­ro­lo­gi­schen und krimi­no­lo­gi­schen Grund­kon­stel­la­tion (und selbst bei der Besetzung) sind offen­sicht­lich. Aber die Filme sind auch subkutan vom gleichen Miss­trauen, Pessi­mismus infiziert, vergiftet. So nah war Tarantino noch nie dem Apoka­lyp­tiker John Carpenter.

6. Copkiller, oder The Last Man Sitting

Dieser neuge­fun­dene Pessi­mismus Taran­tinos ist keine cine­as­ti­sche Pose. Das Weltbild von The Hateful Eight speist sich aus seinem Blick auf die realen USA. Freilich kann man sich mokieren über Quentin Taran­tinos fast schon an einen Fetisch grenzende Affinität zur afro-ameri­ka­ni­schen Kultur. Die von Gary Oldman gespielte Figur des weißen Pimps Drexl aus True Romance, der sich für einen Afro-Ameri­kaner h.c. hält, mag von Dreh­buch­autor Tarantino als Karikatur beab­sich­tigt gewesen sein – sie ist aber wohl eher zum unfrei­wil­ligen Selbst­por­trait geraten. Dennoch kann man ihm nicht abspre­chen, dass – was immer daran von außen betrachtet naiv und proble­ma­tisch ist – sein Glauben an die Zugehö­rig­keit zum schwarzen Amerika ernst und ehrlich wirkt.
Tarantino beschränkt sich nicht darauf abzu­schöpfen, was am »black expe­ri­ence« für kleine weiße Geeks einen Cool­ness­faktor hat. Der insti­tu­tio­na­li­sierte Rassismus der USA treibt ihn auf eine Weise um und auf die Straße, die etwas Anderes ist als der soziale Akti­vismus sonstiger Hollywood-Größen. Und die zumindest die Poli­zei­ge­werk­schaft anmaßend genug fand, um ihm mit ominösen Konse­quenzen zu drohen, als er nach Ferguson bei einer Kund­ge­bung gegen rassis­ti­sche Poli­zei­ge­walt als Redner auftrat. Doch sein Hadern mit dem Thema äußert sich weniger in konkretem poli­ti­schen Enga­ge­ment, als es sich zunehmend in seinem Werk nieder­schlägt.
Dafür, dass The Hateful Eight ein Film ist, der von der histo­ri­schen Zeit kurz nach dem Bürger­krieg erzählt, ließen sich erstaun­lich viele seiner Dialoge fast unver­än­dert heute genauso führen. Und viel­leicht ist der Verzicht auf jede konkrete Jahres­zahl – »several years after the Civil War« heißt es vage lediglich im Publicity-Material zum Film – nicht ohne Hinter­ge­danken: Die Nach-Bürger­kriegs­zeit hat in den USA nie aufgehört.

Mit das Erste, was die Reisenden in Minnie’s Haber­da­s­hery machen, ist sofort wieder die alten Grenzen zwischen Nord- und Südstaaten, zwischen angeblich eman­zi­pierten und Sklaverei-Staaten abzu­ste­cken. Lincolns berühmte Metapher vom »House divided« in Innen­ar­chi­tektur zu über­setzen.
In der geleakten Dreh­buch­fas­sung verlief die zentrale Bruch­linie noch zwischen Ameri­ka­nern und Europäern. Doch ob angeregt durch das aktuelle Aufflammen der stets schwe­lenden natio­nalen Debatte um das unbe­wäl­tigte Erbe der Zeit der Sklaverei, oder ein noch­ma­liges Nach­denken über die Konstel­la­tion der Erzählung selbst – Tarantino kam zu der Erkenntnis, dass die wahren Fronten innerhalb des nun vermeint­lich (wieder)geeinten Lands verlaufen.
Das Einzige, was alle US-Ameri­kaner in The Hateful Eight vereeint, ist ihr Glaube an die Gewalt als ulti­ma­tives Mittel, um sich Gehör und Geltung zu verschaffen – oder eine Diskus­sion zu beenden. Gewalt ist ein ameri­ka­ni­scher Dialekt: »When I elbow you real hard in the face, that means: 'Shut up'.«
Hinter­fragt wird nicht, ob Gewalt überhaupt gerecht­fer­tigt ist, sondern höchstens, wie gut sie rechtlich abge­si­chert ist. Und zwar nicht nach dem Geist, sondern dem Buch­staben des Gesetzes. Justiz und Gerech­tig­keit sind in der Welt von The Hateful Eight selten deckungs­gleich.
Dabei wird auch das alte Western-Prinzip von »Wer schneller zieht, gewinnt« auf den Kopf gestellt: Ausge­rechnet der schwarze Major Warren führt vor, wie sich das verbriefte Recht auf Selbst­ver­tei­di­gung zweck­ent­fremden lässt, um in einem Raum voller (weißer) Zeugen einen Mord zu begehen, für den man nicht belangt werden kann – indem man das Opfer dazu provo­ziert, zuerst die Waffe zu ziehen. Das ist eine bewusste Umkehrung seines Grund­satzes, dass Schwarze nur sicher seien, wenn die Weißen entwaffnet sind – er muss dem Feind sogar einen Revolver nahelegen, um auf dessen Terri­to­rium einen Angriff durch­führen zu können. Um in dem System reüs­sieren zu können, muss der Afro-Ameri­kaner all dessen Schlupflöcher, Wider­sprüche, Doppel­bö­dig­keiten, unbe­ab­sich­tigte Ironien ausnutzen. Dabei insze­niert Tarantino aber zugleich eine perfide Spie­ge­lung jener lega­li­sierten Willkür, die es der US-Polizei immer wieder erlaubt, unge­straft (bis hin zu tödlicher) Gewalt gegen Schwarze auszuüben, von denen angeblich eine Bedrohung ausging.

Es herrscht in der Welt von The Hateful Eight ein Kurz­schluss zwischen Legis­la­tive und Exekutive – ausge­spart bleibt eine unab­hän­gige Rechts­spre­chung. Wohl­ge­merkt: Nicht etwa Gesetz­lo­sig­keit. Aber die Schuld­fest­stel­lung als ein wirk­li­cher (Gerichts-)Prozess – mit einem Recht auf Vertei­di­gung vor unbe­tei­ligtem Richter (eine der Klischee­fi­guren des Western-Genres, die auffällig fehlt) und Geschwo­renen statt lediglich verzwei­felter Selbst­ver­tei­di­gung in der Not des Moments.
Wer zuerst das Gesetz zu seinen Gunsten auslegt UND voll­streckt, zieht das Recht auf seine Seite. Und die Schuld schiebt man zugleich mit der tödlichen Kugel dem anderen zu.
Es ist nur konse­quent, dass ausge­rechnet der (vorgeb­liche) Henker Oswaldo Mobray genüss­lich die feineren Aspekte des Rechts­sys­tems ausein­an­der­setzt – in der ersten Hälfte des Films, welche das angeb­liche Regel­gerüst absteckt. Wobei nie die Berech­ti­gung der Todes­strafe an sich in Frage gestellt wird: »You only have to hang the mean bastards – but the mean bastards you HAVE to hang.«

Freilich ist selbst diese zwei­fel­hafte Theorie noch deutlich zivi­li­sierter als die blutige Praxis, welche die zweite Hälfte des Films bestimmt: Lange doziert Mobray darüber, wie entschei­dend die völlige Leiden­schafts­lo­sig­keit des Henkers ist für den Unter­schied zwischen Wild West-Selbst­justiz und Recht­staat­lich­keit. Doch wenn alle Masken gefallen sind, bleibt am Ende eine schiere, anima­li­sche, leiden­schafts­volle Befrie­di­gung beim rächenden Tötungsakt.
Welcher der Schluss­punkt ist einer hinter­fotzig perversen Umkehrung des klas­si­schen »Whodunnit«-Krimi-Prinzips. Nicht: Der Mord (zer)stört das Gefüge der Gesell­schaft, und die Iden­ti­fi­zie­rung des Täters stellt es wieder her. Sondern: Das Morden ist in The Hateful Eight keine Über­ra­schung (allen­falls für das Publikum, wie lange es in einem Tarantino-Film auf sich warten lässt) – und die Entlar­vung des Mörders gibt das Start­si­gnale für das apoka­lyp­ti­sche Massaker.

Letztlich ist die Wahrheit ja aber ohnehin: Es geht nicht um Recht. Es geht um Recht­fer­ti­gung.
Der Tod ist ein Geschäft – und Leichen sind eine Währung. Anfangs- und Endpunkt des Films sind ein Gescha­cher um den Wert von unter Vorwand des Gesetzes Getöteten. Eines der über­zeu­gendsten Argumente zu Beginn, um einen Platz in Ruths Kutsche zu ergattern, ist für Major Warren das Aufrechnen seiner bereits erzielten Kopfgeld-Beute gegen den poten­ti­ellen finan­zi­ellen Gewinn eines Hinter­halts. Bei »Sheriff« Mannix glaubt Ruth weniger dessen Angaben zu seiner Stellung, als der Kalku­la­tion, was ihn eine Fehl­ein­schät­zung kosten würde. Und am Ende ist das Eine, was den im Sterben Liegenden noch bleibt als Verhand­lungs­basis – was wenigs­tens das zur Iden­ti­fi­zie­rung nötige Haupt, wenn schon nicht das Leben, retten kann – dann ist es ein Appel­lieren an den steck­brief­lich notierten Kurswert.

Coda: (Won’t Be Many) Coming Home

Tarantino-Filme halten tradi­tio­nell ziemlich genau, was ihre Titel verspre­chen. Dass The Hateful Eight da keines­wegs eine Ausnahme macht, kommt dennoch über­ra­schend: Man geht selbst­ver­s­tänd­li­cher­weise davon aus, dass unter den hassens­werten Acht sich doch zumindest eine Iden­ti­fi­ka­ti­ons­figur findet. Erfah­rungs­gemäß muss das bei Tarantino ja kein strah­lender Held, guter Mensch sein – aber doch eine Figur, deren Weg der Rache man bereit ist, wenn nicht auf mora­li­scher, so doch emotio­naler Ebene mitzu­gehen. Und wenigs­tens zwei übliche Verdäch­tige für diese Rolle bietet The Hateful Eight bereit­willig an: Samuel L. Jacksons Major Warren – und Daisy Domergue, die taffe Frau in der Wild West-Männer­welt. Die ersten Warn­hin­weise, dass die Zuschauer-Sympa­thien bei keinem der beiden gut aufge­hoben sind, gibt der Film früh – aber man will sie nicht ernst nehmen, im (halb von Gewohn­heit, halb von Wunsch gespeistem) festen Glauben an eine recht­fer­ti­gende, rela­ti­vie­rende Wendung.
Tarantino macht sich eine Freude daraus, einem diese Illusion zu zerstören. Jeder der Titel­cha­rak­tere übertritt an mindes­tens einem Moment unwi­der­ruf­lich den Rahmen des irgendwie Vertret­baren, Vertei­dig­baren. Bei keinem aber fühlt sich das scho­ckie­render wie ein hinter­häl­tiger Verrat an den Erwar­tungen des Publikums an als bei Major Warren. Ausge­rechnet die Szene, die vermeint­lich anhebt, uns endlich und endgültig auf Samuel L. Jacksons Seite zu ziehen, lässt uner­bitt­lich seine coole Über­le­gen­heit in einen anwi­dernden, unent­schuld­baren Sadismus übergehen. Und es wird nicht ange­nehmer dadurch, dass sich dabei Warrens eigener, lust­voller Hass bewusst vermählt mit den hasser­füllten Angst­vi­sionen der Rassisten vom von der Kette gelas­senen schwarzen Körper.

The Hateful Eight ist ein Western ohne (selbst: Anti-)Helden; ein Whodunnit, in dem jeder schuldig ist; ein Traum von den USA, ohne Utopie.
Aber kein Film ohne Mitgefühl. Welche und wieviele Gründe einem die Figuren auch gegeben haben, sie zu verab­scheuen – im Moment des Sterbens leidet man mit jeder von ihnen, und sei es nur kurz, mit. Jenseits von Ideologie und aller gegen­sei­tiger Quälerei in Wort und Tat, ist da stets ein Augen­blick der bloßen Kreatur von Verletz­lich­keit, Schmerz, Verlust. Wobei Tarantino unbe­streit­barer denn je beweist, wie präzise er zu diffe­ren­zieren versteht auf der gesamten Skala von comichafter, blut­lus­tiger Gewalt als Gag bis zur tief vers­tö­renden Bruta­lität.

Doch über die Unre­du­zier­bar­keit des Todes hinaus gibt es etwas, das die Figuren des Films nicht nur als Geschöpfe, sondern als Menschen verbindet – und nach­voll­ziehbar macht:
Die Sehnsucht nach einem Fixpunkt im Leben – das Fest­halten an allem, was an Frag­menten oder Ersatz vorhanden ist für eine Art Familie, Heimat.
Ob der streu­nende Cowboy Joe Gage angibt, schlicht Weih­nachten mit seiner Mutter verbringen zu wollen; General Smithers seinem Sohn einen würdigen Grabstein setzen möchte; die Geschwister Domergue für ein Wieder­sehen über Leichen gehen; Chris Mannix den mächtigen Fußstapfen seines Vaters hinterher tapst und die Vater­figur Smithers aner­ken­nungs­hei­schend umsorgt; Bob ein »Everybody’s got a mother« als Totschlag­ar­gu­ment nutzt; oder Minnie’s Haber­da­s­hery ursprüng­lich allen als ein wärmender Zufluchtsort nicht allein vor dem Wetter gilt, sondern Wahl­ver­wand­schaften und ein »Home away from home« verspricht. (Freilich ist das ständige »Du kriegst die Tür nicht zu« ein hinreißender Running Gag – aber auch von Anfang an ein Omen, dass die Abschot­tung dieser Schein-Utopie vor der Außenwelt zerbro­chen ist.)
Um so bitterer, dass das Lied, das man beim Verlassen des Kinos auf den Lippen hat, ausge­rechnet »There Won’t Be Many Coming Home« ist.

Es ist kein Wunder, dass es von all den Zeilen des Lincoln Letters ausge­rechnet jene eine über »Old Mary Todd« ist, die am wirkungs­vollsten ist: Sie bedient die Sehnsucht nach dem Häus­li­chen.
Bis ganz zum Ende des Films bleibt dieses Detail das Einzige, was das Publikum über den Inhalt des Briefs erfährt. Erst wenn (ausge­rechnet) Chris Mannix quasi als Schluss­ma­ni­fest den Lincoln Letter (vor)liest, bekommt man zu hören, was dieser auch an poli­ti­schem Idea­lismus mitzu­teilen hat.
Mannix' Vortrag ist zwie­ge­spalten. Einer­seits bewahrt er einen Zynismus: Er hält das Schrift­stück noch immer höchst­wahr­schein­lich für ein Fabrikat Warrens – lässt amüsierte Aner­ken­nung anklingen, welch ein geris­sener Hund der Major doch ist. Und selbst wenn der Brief authen­tisch wäre... Ist er dann nicht – in diesem geteilten, rampo­nierten Haus, gepflas­tert mit Leichen – umgeben von dem blutigen Beweis, welch mani­pu­la­tive Lüge dessen Vision von wahrhaft vereinten Staaten von Amerika ist?
Und doch, und doch...
Da ist etwas selbst in seiner Stimme. Und viel­leicht hat nur der Blut­ver­lust seinen Wider­stand geschwächt. Aber gegen allen Willen, alle Prägung, alle Wirk­lich­keit hört man auch... Hoffnung?
Hört man einen ungläu­bigen Glauben, dass es – viel­leicht – unter all den Lügen diese eine geben könnte, für die es sich zu kämpfen lohnt.

Blutige Westen

Der Western ist tot, es lebe der Western! Allen Unken­rufen zum Trotz erhält das ameri­ka­ni­sche Ur-Genre in schöner Regel­mäßig­keit frische Impulse. So auch in jüngster Zeit. Erst im Oktober 2015 feierte „Bone Tomahawk“, eine eigen­wil­lige Mischung aus beschwer­li­chem Wildnis-Abenteuer und brachialem Horror­film, in den USA seine Premiere und fand mitt­ler­weile sogar den Weg auf den deutschen Heim­ki­no­markt. Aktuell erweist sich Alejandro González Iñárritus wuchtiger Survival-Western The Revenant – Der Rück­kehrer mit einem kraftvoll aufspie­lenden Leonardo DiCaprio als großer Publi­kums­ma­gnet. Eine mitreißend gefilmte Odyssee nach wahren Bege­ben­heiten, die vom ewigen Kampf zwischen Mensch und Natur erzählt. In eine andere Kerbe schlägt nun Quentin Tarantino mit seiner achten Regie­ar­beit – sofern man die beiden Kill Bill-Teile als Einheit begreift. Während das raue Klima und die unwirt­liche Umgebung bei Iñárritu eine zentrale Rolle für das Leiden des Prot­ago­nisten spielen, nutzt der Pulp Fiction-Schöpfer die schnee­be­deckte Land­schaft in The Hateful 8 lediglich als Hinter­grund für ein verschroben-ausuferndes Kammer­spiel, das Western-Konven­tionen aufgreift, abwandelt und zuweilen ad absurdum führt.

Die Anspie­lungen fangen – wie für Tarantino üblich – schon im Titel an, der ganz bewusst auf den John-Sturges-Klassiker Die glor­rei­chen Sieben verweist. An die Stelle moralisch redlicher Gerech­tig­keits­kämpfer treten hier aller­dings Figuren, die sich vor allem durch abstoßende Eigen­schaften auszeichnen. Menschen, die um des eigenen Vorteils willen lügen und betrügen. Und in letzter Konse­quenz vor nichts zurück­schre­cken. Ein weiterer Refe­renz­punkt ist Sergio Corbuccis legen­därer Schnee­wes­tern  Leichen pflastern seinen Weg, der im Original poetisch und pointiert zugleich Il grande silenzio, also „Das große Schweigen“, heißt. Diverse Gege­ben­heiten – nicht nur das trostlose Winter-Setting – hat Italo­wes­tern-Liebhaber Tarantino aus dem nihi­lis­ti­schen Kultfilm mit Jean-Louis Trin­ti­gnant und Klaus Kinski über­nommen. Doch gerade in einem Punkt weicht der texa­ni­sche Kino­fa­na­tiker entschei­dend von seinem Vorbild ab: In The Hateful 8 philo­so­phieren und schwafeln die Prot­ago­nisten unun­ter­bro­chen. Was an sich eine amüsante Abkehr vom tradi­tio­nellen Bild des schweig­samen Western­helden wäre, wenn Tarantino auch dieses Mal mit durchweg glän­zenden Wort­du­ellen aufwarten könnte. Anders als in seinen voran­ge­gangen Arbeiten Inglou­rious Basterds und Django Unchained (noch eine Verbeu­gung vor dem Western italie­ni­scher Prägung) gibt es aller­dings immer wieder Gespräche, die sich im Kreis drehen, und Pointen, die nicht richtig zünden wollen.

Dass der neue Film des Oscar-Preis­trä­gers insgesamt seltsam unaus­ge­goren daher­kommt, muss ein wenig über­ra­schen, da die Prämisse viel­ver­spre­chend klingt und der Einstieg die hohen Erwar­tungen zu recht­fer­tigen scheint: Ein Christus-Kreuz im Nirgendwo, eine einsame Kutsche, die sich ihren Weg durch die Schnee­massen bahnt, und dazu die unruhigen Klänge von Altmeister Ennio Morricone, die kommendes Unheil vorweg­nehmen. Einige Jahre nach dem Ende des ameri­ka­ni­schen Bürger­kriegs befindet sich der Kopf­geld­jäger John Ruth (Kurt Russell) mit seiner Gefan­genen Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh) im verschneiten Wyoming auf dem Weg in das Städtchen Red Rock, um seinen wohl­ver­dienten Lohn einzu­strei­chen. Dasselbe Ziel hat auch der Ex-Soldat Marquis Warren (Samuel L. Jackson), der sich inzwi­schen ebenfalls als Kopf­geld­jäger durch­schlägt und nach einem kleinen Wort­ge­plänkel einen Platz in der Kutsche ergattern kann. Kurze Zeit später steigt außerdem der durch die Einöde stapfende Chris Mannix (Walton Goggins) zu, der sich als neuer Sheriff von Red Rock vorstellt. Als ein gewal­tiger Schnee­sturm aufzieht, sucht die bunte Reise­gruppe Zuflucht in Minnies Mieder­wa­ren­laden, in dem sich bereits vier andere Fremde einge­funden haben: der Mexikaner Bob (Demián Bichir), der die Besit­zerin vertritt, der Henker Oswaldo Mobray (Tim Roth), der wortkarge Joe Gage (Michael Madsen) und der ehemalige General Sandy Smithers (Bruce Dern).

Ein Haufen zwie­lich­tiger Personen ist durch äußere Umstände auf engstem Raum gefangen – schon in unzäh­ligen Krimi­nal­ge­schichten hat diese Ausgangs­lage gewalt­same Eska­la­tionen herauf­be­schworen. Nicht anders ist es bei Tarantino, der die western­ty­pi­schen Land­schafts­auf­nahmen schnell gegen die wohlige Wärme des Kurz­wa­ren­la­dens und ein gegen­sei­tiges Belauern eintauscht, sich aller­dings enorm viel Zeit lässt, bis alle Hüllen fallen. Zunächst einmal wird gewitzelt, beleidigt und schwa­dro­niert. Und als Zuschauer wartet man irgend­wann nur noch darauf, dass Hercule Poirot oder Miss Marple um die Ecke schauen, um die finsteren Gestalten bei ihren „Ermitt­lungen“ zu unter­s­tützen.

Was nach einem amüsanten Genre- und Zitat­sam­mel­su­rium in gewohntem Tarantino-Stil klingt, erweist sich mitunter als zähe Ange­le­gen­heit. Die Spannung, die der klaus­tro­pho­bi­sche Schau­platz verspricht, stellt sich nur schlep­pend ein. Und wieder­holt bricht die Selbst­ver­liebt­heit des Regis­seurs unan­ge­nehm hervor. Am deut­lichsten dann, als der Auto­ren­filmer in der Rolle eines allwis­senden Erzählers plötzlich aus dem Off das Geschehen kommen­tiert und den Blick des Publikums auf einen bis dahin unbe­merkten Sabo­ta­geakt lenkt. Spie­le­reien wie diese und gele­gent­lich einge­streute Rück­blenden sollen die im Grunde recht simple Geschichte aufwerten, täuschen Komple­xität und Raffi­nesse in den meisten Fällen aller­dings nur vor.

Über­ra­schend, zugleich aber auch äußerst kalku­liert steuert The Hateful 8 auf ein Blutbad zu, bei dem sich der ausge­wie­sene Splatter-Freund Tarantino austoben kann. Mag sein, dass der Meister hier ganz bewusst den genreim­ma­nenten Gewalt­im­puls auf die Spitze treibt und die US-ameri­ka­ni­schen Grün­dungs­my­then auf groteske Weise entzau­bert. Ein nach­wir­kendes poli­ti­sches Statement, wie es Corbucci 1968 in seinem grimmigen Schnee­wes­tern formu­lierte, lässt sich aus dem blutigen Treiben jedoch nicht ableiten. Daran ändert auch der mehrfach erwähnte Lincoln-Brief nichts, der deutlich auf die noch heute allge­gen­wär­tige Rassismus-Proble­matik anspielt.

Komplett verun­glückt ist Taran­tinos achter Spielfilm freilich nicht. In erster Linie, weil der Kult­re­gis­seur einmal mehr ein gutes Händchen bei der Auswahl und Insze­nie­rung seiner Schau­spieler beweist. Kurt Russell imponiert als kernig-prag­ma­ti­scher Kopf­geld­jäger mit beacht­li­chem Schnauz­bart. Jennifer Jason Leigh als aufmüp­fige Gefangene, die, obschon heftigen Prügel­at­ta­cken ausge­setzt, eine eigen­ar­tige Über­le­gen­heit ausstrahlt. Und Samuel L. Jackson legt eine faszi­nie­rende Lässig­keit an den Tag, die aus früheren Tarantino-Arbeiten bestens vertraut ist. Auch wenn auf Dialo­ge­bene dieses Mal nicht alles glatt­läuft, gelingen doch einige erin­ne­rungs­wür­dige Passagen. Etwa wenn der von Tim Roth in affek­tiertem Christoph-Waltz-Modus gespielte Mobray über Recht und Selbst­justiz doziert. Ein ironi­scher Kommentar auf den ausge­prägten Hang der US-Ameri­kaner, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen.

Beach­tens­wert ist auch das Ultrab­reit­bild­format, in dem The Hateful 8 aufge­nommen wurde (Kamera: Robert Richardson). Ein Liebes­be­weis Taran­tinos an das analoge Kino. Und eine außer­ge­wöhn­liche Wahl für ein Werk, das größ­ten­teils an einem einzigen Ort spielt. Unsinnig ist diese Entschei­dung nicht, da der Mieder­wa­ren­laden dank des ausla­denden Bildes zu einer Thea­ter­bühne wird, auf der sich in den Ecken und im Vorder- bzw. Hinter­grund häufig unter­schied­liche Dinge zur selben Zeit ereignen. Unter dem Strich wirkt der Film dennoch wie eine aufge­blähte, manchmal präten­tiöse Version von Taran­tinos eigenem Gangs­ter­thriller Reservoir Dogs, dessen Plot-Muster hier länger und breiter ausge­walzt werden.