Aus heiterem Himmel

Tan de repente

Argentinien 2002 · 90 min. · FSK: -
Regie: Diego Lerman
Drehbuch: , ,
Kamera: Luciano Zito
Darsteller: Tatiana Saphir, Carla Crespo, Veronica Hassan, Beatriz Thibaudin u.a.
Mao, Lenin und Marcia

Ans Ende des Wünschens

Ein argen­ti­ni­sches Roadmovie erkundet die Möglich­keiten des Glücks

Marcia ist eine träge, eher dicke junge Frau, die verdrossen ihrem Alltag in Buenos Aires nachgeht: sie fährt zwischen den müden Gesich­tern am Morgen mit der U-Bahn zu ihrer Arbeit in einem Dessous-Geschäft, wo sie den Tag absitzt. Gelang­weilt zieht sie das Horoskop in der Zeitung zu Rate, wo ihr unter der Rubrik Liebe leiden­schaft­liche Erup­tionen auf bisher nicht betre­tenen Pfaden verheißen werden. Nach der Arbeit macht sie Gymnastik. Zu Hause sitzt sie bei ihrem einsamen Mahl vorm Fernseher, in dem gerade Koch­re­zepte vorge­stellt werden. Dann folgt der ritual­hafte Anruf bei ihrem Ex-Freund, der sie verlassen hat und jetzt verhei­ratet ist, Anrufe, bei denen sie gleich wieder auflegt, wenn er sich meldet am Apparat.

Lakonisch verzeichnet der Film dieses banale Unglück­lich­sein, um in unter­bre­chenden Zwischen­schnitten das Herum­driften zweier lesbi­scher Punke­rinnen zu zeigen. Die beiden, die sich Mao und Lenin nennen, lassen sich durch die Stadt treiben, klauen ein Moped, fahren damit herum, verkaufen es wieder. Sie sind gerade beim Flippern, da sieht Mao auf der Straße Marcia vorbei­gehen. Einer momen­tanen Laune, einem plötz­li­chen Begehren gehor­chend, folgt sie ihr und stellt sie mitten auf der Straße: Willst du vögeln? fragt sie die voll­kommen perplexe Marcia, die glaubt, sich nach einem kurzen Gespräch von diesen beiden Spin­ne­rinnen wieder losmachen und zur Arbeit gehen zu können. Bis Lenin sie mit dem Messer bedroht und sie zwingt, mit den beiden zusam­men­zu­bleiben. Marcia, einer Art Träg­heits­prinzip unter­lie­gend, fügt sich drein und läßt sich von den beiden entführen, auf Abwege führen, zu einem Abenteuer verführen.

Das ist der packende Auftakt des Films Tan de repente (Aus heiterem Himmel) des 1976 geborenen Argen­ti­niers Diego Lerman: Eine provo­kante Konfron­ta­tion mit den eigenen Wünschen, die über eine Realitäts­ver­schie­bung in kruder Direkt­heit von außen an einen heran­treten. Marcia weist Mao nach deren unver­blümter Forderung noch auf den Unter­schied von Sex und Liebe hin, aber Mao entgegnet, Liebe würde aus Taten bestehen, nicht aus Worten. Und als Liebes­be­weis würden sie Marcia ans Meer fahren, das sie noch nie gesehen hat. Ohne Verzug kapern sie ein Taxi, dessen Taxi­fahrer sie an die Luft setzen, und brechen auf. Die folgenden Stationen dieses düsteren und melan­cho­li­schen Roadmovie versuchen solche Taten einer reali­sierten Liebe umzu­setzen, versuchen deren Möglich­keit auszu­loten.

Darin nämlich hat der Film sein Grund­thema, in der Frage nach der Reali­sier­bar­keit der Wünsche, nach der Erfüll­bar­keit des Begehrens, das sich an der physi­schen Trägheit, an der Wider­s­tän­dig­keit der Wirk­lich­keit stößt, diese aber auch entschei­dend mitformt, als Wider­s­tän­dig­keit gar erst erstehen läßt und dabei wiederum auf sie ange­wiesen ist, um sich selbst überhaupt erfahrbar zu werden.

Den Aufprall zwischen Wunsch und Wirk­lich­keit setzt der Film in ein unglaub­lich physi­sches, dichtes Schwarz-Weiß um: selten war die rauhe Körnung des auf 35 mm aufge­bla­senen Materials mit seinen groben Schraf­furen, seinen schroffen Über­gängen so ange­bracht, so eindring­lich wie hier. Die rohe Mate­ria­lität der Bilder, der Kontraste, des Dunkels, des schnei­denden Lichts entspricht den Mate­ria­litäten der Gefühle und sie veran­schau­licht, dass Emotionen Affekte sind, etwas ganz Konkretes, das die Subjekte unmit­telbar in ihrer Körper­lich­keit affiziert, sie verletzt, sie beglückt.

Die Kämpfe, Wider­s­tände, Wider­sprüche, die sich in den eigenen und fremden Gefühlen und Wünschen ausdrü­cken, faßt Lermans Film immer wieder in prägnante Bilder und Situa­tionen, die die gewöhn­liche Realität durchaus hinter sich lassen, ohne dabei symbo­lisch, alle­go­risch oder gleich­nis­haft zu werden. Dazu ist Lerman viel zu sehr am schmerz­haft Konkreten inter­es­siert. Besonders aufschluß­reich ist hier die Auflösung, die eine sich drama­tisch zuspit­zende Szenen­folge erfährt, die Marcia, Mao und Lenin als Anhal­te­rinnen bei einem LKW-Fahrer zeigt. Mao hat den LKW-Fahrer dazu überredet, die drei mitzu­nehmen, indem sie ihm einen Blow-Job durch Lenin in Aussicht stellte. Als der LKW-Fahrer während der nächt­li­chen Fahrt die nicht einge­weihte Lenin schon mal vorfüh­lend zu betat­schen beginnt, wehrt sich diese. Da kolli­dieren sie mit etwas, das aus dem nacht­schwarzen Nichts der Fern­straße gegen den Lastwagen prallt. Auf dem dunklen Asphalt liegt im Licht der Schein­werfer eine schwer zu erken­nende wie formlos ausge­gos­sene Masse: es ist der Körper eines Fall­schirm­sprin­gers, der inmitten des weichen Stoffes seines Fall­schirmes liegt. Marcia steigt aus und hält den Kopf des ster­benden Mannes, der etwas Unver­s­tänd­li­ches lallt. Auf kaum zu entwir­rende Weise verdichten sich in dieser anrüh­renden Szene die Grund­mo­tive des ganzen Films: die Wünsche und ihre Versagung, das Harte der physi­schen Kollision und deren Umschlagen in eine unsäg­liche Weichheit, der Tod als drohender Zwil­lings­schatten des Begehrens.

Der letzte Teil des Films läßt die drei bei der alten Großtante Lenins, Blanca, und ihren Unter­mie­tern Delia und Felipe ange­langen, in der provin­zi­ellen Beschau­lich­keit eines materiell beschränkten Lebens und seiner beschei­denen Genüssen des gemein­samen Mate­schlür­fens, Ziga­ret­ten­rau­chens und Likör­trin­kens.

Der Kreislauf der Wünsche durch­läuft hier eine letzte Phase, findet einen vorläu­figen Abschluß. Mao und Marcia schlafen mitein­ander, eine Befrie­di­gung des Begehrens, die eine wider­sprüch­liche Mischung von Gefühlen, auch Aggres­sionen freisetzt und sogleich Außen­ste­hende als Rivalen und Eifer­suchts­quellen mit einbe­zieht. Mao spielt mit der Verklemmt­heit und der Scheu Felipes, des Biolo­gie­stu­denten, Delia und Marcia verstehen sich auf eine unmit­telbar freund­schaft­liche Weise, die Mao zu Stiche­leinen Anlaß gibt.

Lenin wiederum, konfron­tiert mit Erin­ne­rungen an ihre Kindheit, in der sie noch Verónica hieß (für die Tante heißt sie natürlich immer noch so), fühlt sich stark aufge­wühlt, nicht zuletzt wegen des schon länger anhal­tenden Zerwürf­nisses mit ihrer Mutter, das sie nun schmerzt. Dieser Schmerz wird ausgelöst durch die Gegenwart der Tante und deren geschärftes Bewußt­sein dafür, daß manche Dinge irgend­wann nicht mehr rück­gängig zu machen sind, nicht mehr ausgeräumt werden können und damit einen Teil des Lebens­glücks für immer verschüttet bleiben lassen. Aber es ist nicht so, daß Lerman an den Ende des Films eine versöhn­liche Botschaft von Gene­ra­tionen über­grei­fender Soli­da­rität setzen würde. Der Film bleibt auch hier an die Körper und ihre Erfahr­bar­keit über Affek­tionen der Trauer, des Schmerzes, der Liebe gebunden, damit an die Erfor­der­nisse und Möglich­keiten, die jedem Menschen und seinem Glücks­an­spruch durch die Physis und Mate­ria­lität des Lebens, auch des gesell­schaft­li­chen, gegeben sind. Und innerhalb des so bezeich­neten Horizonts finden das Schweifen der Sehnsucht, das Vaga­bun­dieren der Wünsche, das noch ganz auf das kommende Leben gerichtet ist, und der Rückblick auf Vergan­genes, Versäumtes, Unver­wun­denes, ja letztlich das Ende allen Wünschens im Haus der Großtante auf eine schmerz­liche und traurige Weise zusammen.

Lerman trägt mit diesem beein­dru­ckenden Film (der auf einem Motiv aus dem Roman »La Prueba« des argen­ti­ni­schen Schrift­stel­lers César Aira basiert) zu einer Form des filmi­schen Mate­ria­lismus bei, der in ähnlicher Weise in anderen neueren argen­ti­ni­schen Filmen wie La Ciénaga – Morast von Lucrecia Martel oder El Bonaer­ense von Pablo Trapero Ausdruck findet, aber etwa auch in einem Film wie Rosetta der belgi­schen Brüder Dardenne.