02.02.2017

Lost in Politics

Eric Valette
Der humanitäre Gangster-Terrorist: Eric Valettes LE SERPENT AUX MILLE COUPURES als Weltpremiere in Rotterdam

Das 46. Rotterdamer Filmfestival will – nach dem »Trump turn« – seine Filme politisch verstanden wissen. Und hat wieder mal nicht mit Godard gerechnet

Von Dunja Bialas

»Kino«. So heißt das neue Kino in Rotterdam, schlicht und trendy wie die Hafen­stadt. Früher war Rotterdam mal die häss­lichste Stadt, die ich kannte. Als ich vor über zehn Jahren zum ersten Mal das Rotter­damer Film­fes­tival mit dem sagen­haften Ruf besuchte, machte ich mich vergeb­lich auf die Suche nach einer Ansichts­karte, die ich verschi­cken wollte. Die Stadt war so unat­traktiv, dass in der ganzen Stadt keine aufzu­treiben war. Und heute? Ist es eine glanz­volle Archi­tek­tur­me­tro­pole. Und das Festival heute?

Politics is in the air

Wenn man allen Vorworten des Katalogs glauben will, dann geht es dem IFFR heute darum, politisch zu sein. Mehrfach wird auf das »pivotal year of politicum momentum« hinge­wiesen, in deut­li­cher Anspie­lung auf den »Trump turn«. Bero Beyer, seit zwei Jahren Festi­val­leiter, formu­liert: »We are faced with deep fault lines of inclusion and exclusion dividing us into opposing groups with different points of view. Filmma­kers, artists, thinkers, jour­na­lists and the public are invited to discuss current shifts and fractures as these are repre­sented in films featured throughout the festival programme.« Der Black-Rebels-Schwer­punkt möchte sich so auch als »comment on the cultural divide and emerging racism« verstanden wissen. Sogar der mit »Criss-Cross« über­ti­telte Fokus auf den zeit­genös­si­schen fran­zö­si­schen Gangs­ter­film ist politisch gemeint: »French politcal thriller use the popular genre of action thriller to harshly criticise power struc­tures, racism and divi­si­veness in France and, in so doing, actively try to bridge the societal and cultural divide by combining enter­tain­ment with enligh­tening narra­tives.«

Gangland, Copland, Terror­land

Folglich sollten dann auch die Gangs­ter­film-Regis­seure auf dem von Kurator Olaf Möller abge­hal­tenen Panel »Gangland, Copland, Terror­land« über den »poli­ti­schen Main­stream« ihres Kinos sprechen. Dies brachte sichtlich in Verle­gen­heit: Godfather Frédéric Scho­en­do­erffer, in der Reihe mit zwei Filmen vertreten, wobei vor allem Le convoi (2016) eine adre­na­lin­ge­tränkte Nuance ins Programm brachte, Eric Valette, der in Welt­pre­miere seinen sich zuspit­zenden Serpent au mille coupures zeigte, und den relativ unbe­leckten Olivier Panchot (mit seinem zweiten Film De guerre lasse von 2014 vertreten). »Enter­tain­ment« schrieben sie ganz groß und outeten sich als Genre-Affi­cio­nados aus der Abteilung »…denn sie wissen nicht, was sie tun«. Dass das Gangster-Genre willig ist, einen poli­ti­schen Subplot mitzu­er­zählen, wurde im dezidiert anti­ras­sis­ti­schen Serpent deutlich, der die Reihe eröffnete. Hier wird ein blut­dürs­tiger Mob in einer Art insze­niert, die den Gangster-Terro­risten (nach einer Roman­vor­lage von Hervé Alber­tazzi) als Huma­nisten moralisch frei­spricht; die gesell­schaft­liche Über­ein­kunft, nach der der redliche Bürger die Ordnung wieder herstellen soll, wird in einem subver­siven, anar­chi­schen Akt perver­tiert. Deut­li­cher kann der Kommentar zum aktuellen Zustand, viel­leicht sogar zur Spaltung der fran­zö­si­schen Zivil­ge­sell­schaft nicht ausfallen. Und doch möchte Valette keines­falls politisch erscheinen. Er verschanzt sich hinter Autor Alber­tazzi wie ein Gangster vor dem Kugel­hagel: »Das stand alles im Roman!« Ebenso wie die starke Frau­en­figur in seinem Une affaire d’état (2009), gespielt von Rachida Brakni, die der Autorin und Grande Dame des Polar Dominique Manotti geschuldet ist, gleich­falls anwesend. Manotti arti­ku­lierte ein poli­ti­sches Bewusst­sein und berei­cherte im übrigen die Runde der Gangster-Filmer mit reflek­tiertem Bewusst­sein: denn sie weiß genau, was sie tut.

Auch das Attribut des Main­stream-Kinos konnte nicht greifen. Dies ist klar, ange­sichts des Komödien-Booms, der alles in den Schatten stellt. Mit 20,4 Millionen Besuchern in Frank­reich überholt Bienvenue chez les Ch'tis (2008) locker selbst den erfolg­rei­chen Leon – der Profi (1994) mit damals 3,5 Millionen Zuschauern. Léon ist der einzige »Polar« und zugleich Initi­al­film der fran­zö­si­schen Main­stream-Ikone Luc Besson, der seit 2000 mit Euro­paCorp einen neuen Filmtypus gegen den Auto­ren­film antre­teten lässt: den kalku­lierten Produ­zen­ten­film. (Alles übrigens nach­zu­lesen in meinem Beitrag im gerade frisch erschie­nenen Buch »Gangs­ter­welten«.)

Luc Besson, so wurde auf dem Panel deutlich, ist erklärtes Feindbild der versam­melten Genre-Auto­ren­filmer. Auch den Schmu­se­kurs, den der Gangs­ter­film-Erneuerer Olivier Marchal (in der Reihe mit 36 Quai des Orfèvres vertreten) mit dem Produ­zenten-Mogul einging, stritten sie ab. »Marchal hat nie mit Besson gespro­chen«, lautete das einstim­mige Credo auf den Hinweis auf ein bestehendes Produk­ti­ons­ver­hältnis zwischen Euro­paCorp und Marchal anläss­lich seiner Serie »Section Zéro«. Diese startete im April letzten Jahres und erwies sich als totaler Flop. Produ­ziert hat aber dennoch: Luc Besson.

Eine ähnliche Diskus­si­ons­runde hätte man wohl mit den Regis­seuren der fran­zö­si­schen Erfolgs­komö­dien abhalten können. Die Quint­es­senz des fran­zö­si­schen Gangs­ter­films und das Geheimnis seines Erfolgs (oder Miss­er­folgs) wurde nicht einmal touchiert.

Aber so ist das mit den Panels.

Heute muss wohl alles politisch sein. Jetzt, wo wir Donald Trump haben, umso mehr. Wim Wenders hat jüngst im »Tages­spiegel« dazu aufge­rufen, von nun an nur noch poli­ti­sche Filme zu drehen: »Das Kino hat geradezu die Aufgabe, 'Politik' im weitesten Sinne wieder mitein­zu­be­ziehen.« Insbe­son­dere fordert Wenders Filme zum Klima­wandel.

Und schon wieder Godard

Muss man denn wirklich immer Godard mit seinem berühmten Ausspruch zitieren, nach dem es nicht darum gehe poli­ti­sche Filme zu machen, sondern Filme politisch, weil nie jemand von allein daran denkt? Kein enga­giertes Kino, sondern ein Kino, das aufschreckt, weil es andere Sicht- und Denk­weisen öffnet. Egal, ob es um den Klima­wandel oder um den fran­zö­si­schen Gangster geht. Insofern wäre der »Polar« poli­ti­sches Kino, als er die Schwarz­gal­lig­keit hochhält und düstere Visionen der Gesell­schaft insze­niert, entgegen die zum real gesell­schaft­li­chen Main­stream erhobene Fröh­lich­keit, wie sie die netten fran­zö­si­schen Nach­bar­schafts­komö­dien insze­nieren. (Zum Überdruss am vorder­gründig poli­ti­schen Kino, das das eigent­lich Poli­ti­sche von Kunst vergessen lässt, sei hier auf die Debatte »Lost in Politics« vor Berlinale-Beginn hinge­wiesen, moderiert von artechock-Autor Rüdiger Suchsland und veran­staltet vom Verband der deutschen Film­kritik.)

Dabei hätte Bero Beyer solche Politik-Verren­kungen bis hinein in die Neben­s­ek­tionen gar nicht ausrufen müssen. Rotterdam ist das Mekka dieses anderen Kinos, mit den politisch gemachten, eben nicht mit den poli­ti­schen Filmen. Für letzteres gibt es in den Nieder­landen das Doku­men­tar­film­fes­tival IDFA, eine Goldgrube des, mit Verlaub gesagt, kalku­lierten Betrof­fen­heits­films. Rotterdam war immer frei von Funktion: der Expe­ri­men­tal­film wird hier tradi­tio­nell in einem Kurz­film­wett­be­werb hoch­ge­halten, der große Wett­be­werb zeigt die noch tastenden Filme der »emerging film talents«. Die sich einen Dreck um die »message« kümmern.

Barry Jenkins ist nicht schwarz

Moonlight ist einer der erfolg­reichsten Filme des Jahres. Mit acht Oscars nominiert, wird er nun endlich das Kino der alten weißen Männer ablösen, die letztes Jahr bei der Oscar-Verlei­hung einen Skandal produ­ziert hatten, wegen des Erman­ge­lung an »diversity«. Heute, wo der letzte der weißen Männer die USA regiert, weiß jeder, dass »diversity« auf die Triple Oppres­sion von »race«, »gender« und »class« abzielt.

Das Schielen auf »diversity« kann manchmal aber auch nach hinten losgehen: Fünf Frauen wurden zuletzt mit dem Baye­ri­schen Filmpreis in der Kategorie Beste Regie ausge­zeichnet. Soll man sie jetzt alle aufzählen, diese besten fünf Regis­seu­rinnen? Und sind sie alle fünf besser als alle anderen männ­li­chen Regie­kol­legen? Sonst wäre die Auszeich­nung doch sexis­tisch, oder etwa nicht?

Vor diesem Hinter­grund sagen wir jetzt einfach mal: Barry Jenkins ist nicht schwarz. Bezie­hungs­weise: Leute, darum geht es nicht. Barry Jenkins macht einfach großar­tige Filme. Seine Prot­ago­nisten sind einfach so alle schwarz. Weil es die nämlich auch gibt, in Miami, wo Barry Jenkins aufge­wachsen ist. Seine Filme erzählen ganz generell vom Leben, vom Suchen, vom Werden, sind leicht­händig, über­wäl­ti­gend, mit der atem­be­rau­benden Kamera von James Laxton. Rotterdam zeigte eine Werkschau des began­deten Jenkins, darunter sein Filmdebüt Medecine for Melan­choly (2008) (Moonlight ist übrigens erst sein zweiter Langfilm). Immer wieder zitiert der Film Jean-Luc Godards À bout de souffle, aber eigent­lich erzählt er einfach nur von einem verlän­gerten One Night Stand als Medizin gegen die Melan­cholie, der über eine frische Trennung und die Einsam­keit hinweg­helfen soll. Dem Credo des »Boy meets girl« der Nouvelle Vague folgend, streunert die Erzählung zusammen mit ihren Prot­ago­nisten durch San Francisco. Geht mit ihnen ins MoMA, folgt ihnen ins winzige Appart­ment, das ganz von einem Bett ausge­füllt wird, und in der es zur Spie­gel­szenen-Hommage an Jean-Paul Belmondo kommt. Reinkar­niert von Micah (gespielt von Stand-up-Comedian Wyatt Cenec), der Melan­cho­liker, während Joanne (!) (Tracey Heggins) mit ihren kurzen Haaren eine Wieder­kehr von Jean Seberg ist.

Medecine for Melan­choly ist ein durch und durch melan­cho­li­scher und ganz und gar glücklich machender Mumble­core, und viel­leicht morgen schon nur noch eine Erin­ne­rung an ein freies Amerika. Und sogar: politisch. Ganz ohne Politik.