20.08.2015

Letzte Leoparden

68. Festival del film Locarno
Aufgefächert: Christine Dériaz schreibt jeden Tag von ihren Seherlebnissen und fotografiert dazu.

Auf unserem Artechock-Blog (ja, so etwas haben wir, nein, dies hier ist nicht der Blog, sondern das Artechock-Magazin) veröffentlicht unsere Autorin Christine Dériaz immer zum Festival von Locarno ein sehr feines Filmtagebuch. Wir bringen hier die bisherigen Beiträge.

Von Christine Dériaz

Tag_7 klirrende Wüste
Tag_8 Geister und Killer
Tag_9 Kurz vor Schluss, wolken­ver­hangen
Tag_10 Die Preise

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Tag 7 klirrende Wüste

Nach zwei Pardi di domani Programmen hinter­ein­ander ist die Ausbeute an Sensa­tio­nellem weiterhin – leider – mager. La impresión de una guerra von Camilo Restrepo ist eine Ausnahme. Der Film folgt den Spuren/Eindrü­cken/Abdrucken des Konflikts in kolum­bia­ni­schen Medellin; verwa­schene Zeitungs­bilder und ihre moder­neren Zwillinge, verwa­schene, pixelige Handy­filme, zeigen wie unscharf Infor­ma­tion über Bilder vermit­telt wird und wie das im kollek­tiven Erinnern Spuren hinter­lässt. Formal ist diese Suche nach Bildern, nach Eindrü­cken expe­ri­mental, der Bogen, der alles zusam­men­hält sind die Analogien im Doku­men­tieren und Fest­halten von Infor­ma­tionen. Eine wirklich inter­es­sante Arbeit.
Der Film mit dem längsten Titel ist auch der befremd­lichste: The Sky Trembles and the Earth is Afraid and the Two Eyes are not Brothers von Ben Rivers. Lose basierend auf einer Kurz­ge­schichte von Paul Bowles beginnt der Film doku­men­ta­risch, ein Regisseur, der mal Spanisch, mal Fran­zö­sisch spricht, beim Dreh irgendwo in einer maghre­bi­ni­schen Bergwelt, er wirkt etwas unzu­frieden mit dem Verlauf des Drehs, lässt Szenen x-mal wieder­holen, die Einhei­mi­schen Darsteller scheinen nur mässig begeis­tert. Dann plötzlich kippt der Film zur Fiktion. Der Regisseur folgt einem Mann in die Einöde, wird von diesem nieder­ge­schlagen und gefan­gen­ge­nommen, und schliess­lich in eine Art Vogel­scheu­chen­kostüm, bestehend aus lauter Alude­ckeln, gesteckt. Der Entführer und seine Helfer zwingen den Regisseur in seinem rasselnden Kostüm zu tanzen, schleppen ihn von Ort zu Ort, machen sich lustig über ihn. Ihre Motive blitzen ganz zu Beginn einmal auf, »du hast hier Ärger gesucht, jetzt hast du ihn gefunden«. In Bowles Kurz­ge­schichte geht es um den Kontrast der Kulturen, um kultu­relle Über­heb­lich­keit und Miss­ver­s­tänd­nisse, was wohl auch die beste Zusam­men­fas­sung für den Film ist. In seiner ruhigen Bedroh­lich­keit ist der Film durchaus sehens­wert und auch spannend, aber eben auch sehr verwir­rend. Extrem viele Zuschauer verliessen den Saal, und am Ende gab es Buh-Rufe. Eine tech­ni­sche Anmerkung, es ist dies der einzige Film auf dem Festival der als Filmkopie, und nicht als DCP, vorge­führt wird, sehr beru­hi­gend für die Augen ist das.
Ein erstes mal wirklich tosender Beifall auf der Piazza, als am Abend, noch im Gang zur Bühne Bruno Ganz und Marthe Keller zu sehen sind, die beide in Amnesia von Barbet Schroeder spielen. Ibiza 1990, die zurück­ge­zogen lebende Martha bekommt einen jungen Berliner DJ als Nachbar, ihrer beider Welten werden durch diese Nach­bar­schaft nach­haltig durch­ge­schüt­telt werden. Martha, die sich seit dem sie 1936, mit 16 Jahren Deutsch­land verlassen hat weigert Deutsch zu sprechen, Jo, der seine Familie mit neuen Augen sehen wird. Ihre Annähe­rung ist zögernd, langsam,und etwas spröde, so wie das Schul­eng­lisch, das beide zur Sprache ihrer Kommu­ni­ka­tion wählen. Einige Wendungen in der Geschichte werde etwas plump hervor­ge­zau­bert, es wird zeit­weilig zu viel geschwa­felt, aber insgesamt ziemlich gelungen.

Tag 8 Geister und Killer

The ground we won von Chris­to­pher Pryor läuft in der Semaine de la critique, ein neuseelän­di­scher Doku­men­tar­film aus einer fremden, exoti­schen Welt. Ein liebe­voller Blick auf Rugby, Milch­wirt­schaft, Saufen und Rituale. Kontrast­reiche Schwarz-Weiss Bilder, von teilweise poeti­scher Schönheit, zeigen starke, brüllende, saufende, schuf­tende Männer. Frauen kommen nur ganz am Rande, als Zuschauer, vor, neuseelän­di­sches Farmland scheint Macho­ter­rain zu sein.
Das letzte Programm der pardi di domani, auch diesmal wenig Spek­ta­ku­läres. Shikuf von Osi Wald ist eine schöne, witzige Hommage an das Kino, entstanden im Rahmen eines Projekts »Liebes­briefe an das Kino« ist eine teilweise animierter Film entstanden. Ein israe­li­scher Schau­spieler auf dem Weg Los Angeles, während er auf die Abfer­ti­gung des Fluges wartet, geht er seine Rolle durch, und der Film driftet in Anspie­lungen auf Fragmente der Film­ge­schichte, mischt Animation- und Realbild und erzeugt ein Traumbild der Traum­fa­brik.
Alle Familien haben ihre Geheim­nisse, so auch in Les êtres chers von Anne Émond. Eine melan­cho­li­sche Fami­li­en­ge­schichte beginnend mit dem Selbst­mord des Vaters. Über lange Zeit kennen nur zwei der fünf Geschwister die Todes­ur­sache, die Geschichte fokus­siert auf einen der, unwis­senden, Brüder und die Beziehung zu seinen Kindern, besonders zu seiner Tochter. Sehr schön wie ruhig das Vergehen der Zeit einfach über das Heran­wachsen der Kinder erzählt wird, die Melan­cholie, die über der Familie schwebt, verdüs­tert sich, und steuert unmerk­lich und unaus­weich­lich auf einen weiteren Selbst­mord zu. Trotz allem ein schöner Film.
Ehrengast auf der Piazza Grande: Sound­de­si­gner Walter Murch, der auch noch eine Master­class zu Tonge­stal­tung halten wird. Erster Film des Abends: La vanité Lionel Baier, ein miss­lun­gener Film um einen assis­tierten Selbst­mord, unin­spi­rierte Bilder, lahme bis ärger­liche Geschichte, da hilft es auch nicht, dass die wunder­bare Carmen Maura eine der Haupt­rollen spielt. Aber, der Abend ist doch noch zu retten, nämlich mit: Qing tian jie yi hao (The Laund­ryman) von LEE Chung. Ein Erst­lings­film, mit einem Feuerwerk an Einfällen wird da frech über alle Genre­grenzen hinweg gemischt, Geis­ter­ge­schichte, Auftrags­mörder-, Detektiv-und Liebes­ge­schichte, plus asia­ti­sche Kampf­kunst; teils bonbon­bunte, teils nebelig-düstere Bilder, und ein Held, der nicht immer genau weiss, wo er steht, und dadurch liebens­wert toll­pat­schig wirkt. Die letzten 10 Minuten wurden von plötzlich einset­zendem Regen begleitet, aber der Film ist es wert sich nass­regnen zu lassen.

Tag 9 kurz vor Schluss, wolken­ver­hangen

Chevalier von Athina Rachel Tsangari, noch einmal eine Männer­welt mit absurden Ritualen. 6 Männer auf einer Luxus­jacht, Bekannte, vermut­lich Freunde, zur Unter­hal­tung beschliessen sie in einem Spiel heraus­zu­finden wer der »Beste in allem« ist. Ein absurde Wettkampf mit ständiger Beob­ach­tung und Selbst­be­ob­ach­tung beginnt. Allianzen zum Zweck der Punkt­ge­win­nung werden geschlossen, es wird gesti­chelt und immer wieder vergli­chen, alles, von der Penis­länge über die Position in der geschlafen wird, Blutwerte sind ebenso zu verglei­chen, wie die Glaub­wür­dig­keit und Krea­ti­vität beim Erzählen einer Notlüge am Telephon. Der Wett­be­werb wird immer grotesker, die Basis ihrer Beziehung scheint immer dünner zur werden, der Umgangston rauer. Und doch, am Ende gibt es einen unbe­strit­tenen Sieger, dem, fast beiläufig, der titel­ge­bende Siegel­ring – zu trage bis zum nächsten Wettkampf – auf den Finger gesteckt wird. Ein komischer Film über idio­ti­sche Männer, liebens­wert und mit Augen­zwin­kern erzählt.
Wesent­lich härtere Konkur­renz in einer Männer­welt gibt es bei Major Dundee von Sam Peckinpah, Süd-und Nord­staaten Offiziere, die sich für ein gemein­sames Ziel zusam­men­streiten, mürrisch, über­heb­lich, starr­sinnig, blutig, episch, toll.
Der letzte Film auf der Piazza, der noch um den Publi­kums­preis konkur­riert, könnte diesen auch gut gewinnen: Me and Earl and the Dying Girl von Alonso Gomez-Rejon, ein schöne Liebes­er­klä­rung an das Kino und an die Kraft von Freund­schaft, mit einem Haufen origi­neller Einfälle, einer schrägen Kame­ra­füh­rung und einem lockeren Erzählton. Eine ameri­ka­ni­sche Komödie, die das Sterben nicht ausschliesst und gleich­zeitig dem europäi­schen Auto­ren­kino huldigt; das ist selten und es ist gut gelungen.
Locarno versinkt in einer dicken Regen­wolke, und es bleibt nur noch das Warten auf die Bekannt­gabe der Preise und die Abschluss­ze­re­monie, die, wenn es so weiter regnet, wohl im eher prosai­schen Fevi statt­finden wird.

Tag 10 Die Preise

Schade, dass es keinen Preis gibt für das Verpassen der Filme, die Haupt­preise erhalten. Verpasst wurden also:
Der Goldene Leopard des Haupt­wett­be­werbs für den Südko­rea­ni­schen Film Jigeumeun Matgo Geut­ta­e­neun Teullida (Right now, wrong then) von Hong Sangsoo. Das gleiche gilt für Thithi von Raam Reedy, Indien , der sowohl den den Goldenen Leoparden Cineasti del presente, als auch den Goldenen Leoparden bester Erst­lings­film erhielt.
Gesehen und bereits bespro­chen wurden:
Spezi­al­preis der Jury und eine besondere Erwähnung für den israe­li­schen Film Tikkun von Avishai Sivan. Beste Regie an Andrzej Zulawski für Cosmos, Bester Nach­wuchs­re­gis­seur : Bi Gan, für Lu bian ye can (Kaili Blues.) Der Spezi­al­preis der Jury Cinesta del presente geht an Dead slow ahead von Mauro Herce und der Publi­kums­preis für Filme auf der Piazza geht an: Der Staat gegen Fritz Bauer von Lars Kraume.
Inter­es­sant die Wahl der Jugend-Jury, die eine sichere Hand für Unge­wöhn­li­ches zeigt, die sowohl James White als auch Heimat­land prämiert und damit zeigt, dass Jugend­liche, eine wichtige Zuschau­er­gruppe, durchaus diffe­ren­ziert und abseits ausge­tre­tener Pfade Filme sehen und beur­teilen können, und in Folge – hoffent­lich – weitere junge Zuschauer an inter­es­sante Filme heran­führen.
Die Preis­ver­lei­hung fand, wie befürchtet, im eher tristen Fevi statt, während auf der Piazza einige Uner­schro­ckene das Geschehen auf der Leinwand verfolgten. Udo Kier, als Sprecher der Hauptjury, machte aus der Preis­ver­gabe eine launige, lustige Nummer, während andere Jury Sprecher eher durch ihren Text stol­perten. Der Dank der Preis­träger galt, neben Kollegen und Familie, fast einhellig dem Mut und der künst­le­ri­schen Freiheit, die für das Festival stehen.
Damit endet eine durchaus inter­es­sante 68. Ausgabe des Festivals von Locarno, viel­fältig, bunt, sympa­thisch, mit einem gut gelaunten, kompe­tenten künst­le­ri­schen Leiter Carlo Chatrian, und einem starken Festival Präsi­denten, Marco Solari, der ihm den Rücken sowohl stärkt , als auch frei hält. Termin im kommenden Jahr 3. bis 13 August.