14.08.2014

Meis­ter­schaft des Unvoll­endeten

Filmkamera vor Quittenbaum: El sol del membrillo
El sol del membrillo feiert einen Quittenbaum, und zelebriert das Vergehen der Zeit
(Foto: Ficha en IMDb Ficha en FilmAffinity)

Das 67. Festival von Locarno ruft das Werk eines vergessenen Meisters in Erinnerung: Der Spanier Victor Erice experimentiert in seinen Filmen mit dem Vergehen von Licht und Zeit

Von Dunja Bialas

Licht und Schatten, der das Licht verdrängt. Zeit, die in den Objekten der Welt gerinnt, sich in ihnen nieder­lässt: dies sind, nicht mehr und nicht weniger, die Essenzen in der Alchemie des Kinos. Kino, die Kunst in der Zeit, perma­nentes Werden und Vergehen.

Das Film­fes­tival von Locarno, eines der ältesten Europas, im italie­nisch­spra­chigen Teil der Schweiz und traumhaft am Laggio Maggiore gelegen, widmet sich in seiner 67. Ausgabe in seiner Sektion »Histoire(s) du Cinéma« (certo, nach dem gleich­na­migen Film von Jean-Luc Godard benannt) einem nahezu unbekannt geblie­benen spani­schen Regisseur, der dieses Werden und Vergehen des Kinos in mehr­fa­cher Hinsicht in seinen Filmen geradezu zele­briert.

Victor Erice, 1940 im baski­schen Biskaia geboren, hat lediglich vier weitere Langfilme seit seinem viel beach­teten Debut Der Geist des Bienen­stocks (1973) reali­siert, allesamt als Meis­ter­werke gefeiert, bevor sie wieder in Verges­sen­heit gerieten, dem unsteten Filme­ma­chen von Erice selbst geschuldet, der pro Jahrzehnt allen­falls einen Film zustande brachte. Filme blieben unvoll­endet, Skizzen möglicher, viel­leicht zukünf­tiger Filme, viel­leicht aber auch nicht, wurden erstellt.

Saudade

Vidros partidos (2012)

Sein jüngster Film, Vidros partidos aus dem Jahre 2012, ist solch ein im Status unsi­cherer Film. Erice zeigt in ihm Test­auf­nahmen zu einem Doku­men­tar­film, den er in Portugal reali­sieren wollte (oder viel­leicht noch will). Es ist der neueste der sieben Filme, die Locarno in der Werkschau zu Erice zeigt, in Portugal gedreht, eine unfertige Auftrags­ar­beit für die Kultur­haupt­stadt Guimaraes und dort vors Publikum gebracht.

Vidros partidos ist in sich eine Skizze, streift im Portrait die über hundert­jäh­rige Geschichte einer im Jahre 2002 geschlos­senen Textil­fa­brik. Ausgangs­punkt für Erice ist eine groß­for­ma­tige Schwarz­weiß­fo­to­grafie, die Anfang des letzten Jahr­hun­derts in der Mittags­pause im großen Spei­se­saal der Fabrik aufge­nommen wurde. Eine erstaun­liche Foto­grafie, aus der einem aus 160 Augen­paaren die Arbei­te­rinnen und Arbeiter entge­gen­bli­cken, vor sich Suppen­teller, ein Stück Brot in der Hand. Viele der Gesichter sind ausge­mer­gelt, oft sind die Arbeiter noch sehr jung, dies nur sichtbar in ihren kind­li­chen Körpern, während ihre Gesichter vorzeitig gealtert sind, die Augen trüb, die Stirn in Falten gelegt, der Blick aus einer fernen Tiefe kommend.

Vor der an der Wand hängenden Foto­grafie lässt Erice dann ehemalige Arbei­te­rinnen und Arbeiter der Fabrik auf einem Spei­se­saal-Hocker Platz nehmen, den Blick in die Kamera gerichtet, die Älteste von ihnen ist über 90. Sie beginnen zu erzählen, meist haben sie schon in Jugend­jahren in der Fabrik ange­fangen zu arbeiten, oft haben sie die Fabrik verlassen, um woanders eine bessere Arbeit zu finden, oft sind sie zurück­ge­kehrt. Erice lässt in seinen »Test­auf­nahmen«, wie durch Inserts vor den einzelnen Arbei­ter­por­traits kapi­tel­weise insis­tiert wird, jedes Zögern und Stocken in den Erzäh­lungen bestehen, lässt sie sich hastig setzen und ebenso schnell, unfil­misch, wieder aufstehen. Allein die kleinen Verzö­ge­rungen im Filmfluss sorgen für eine Desil­lu­sio­nie­rung, eine Sicht­bar­wer­dung des Projekts, eine Aufmerk­sam­keit auf das Werden und Entstehen des Films und zugleich auf die fragilen Seelenin­nen­land­schaften, hervor­ge­bracht durch die Erin­ne­rung der Erzäh­lenden. Sie wisse nicht, was Glück sei, sagt die Neun­zig­jäh­rige und lacht aus ihrem in unzählige Falten gewor­fenen Gesicht in die Kamera. Sie habe es nicht kennen­ge­lernt. »Alegria«, ja, das vorü­ber­ge­hende Fröh­lich­sein, das habe sie gekannt in ihrem Leben. Aber ein Gefühl des Glücks, »feli­ci­dade«, inmitten der für Portugal so bestim­menden Sehnsucht nach einem anderen, besseren Leben, den »saudade«, das gab es nicht. Die dunklen Augen­paare blicken weiterhin von der Foto­grafie, wie bejahende, aber stumme Zeit­zeugen dessen, wovon die Neun­zig­jäh­rige berichtet.

Der Maler und sein Modell, der Quit­ten­baum

Gerade in seiner Skiz­zen­haf­tig­keit weiß Vidros partidos zu berühren. Fast zwanzig Jahre ist es her, seitdem Erice seinen letzten langen Film gemacht hat, ebenfalls einen Doku­men­tar­film, dazwi­schen liegen einige wenige Kurzfilme. El sol del membrillo (Das Licht des Quit­ten­baums) ist ein solitärer Film aus den neunziger Jahren, gefilmt in den letzten vier Monaten im Jahre 1990, heraus­ge­bracht drei Jahre später, 1993. El sol del membrillo wurde zu dem Film, der einen uner­wartet in einem Festi­val­pro­gramm begegnen kann, eine Offen­ba­rung, der Film, der einen fassungslos vor cine­as­ti­schem Glück erkennen lässt: dies hier ist ein Meis­ter­werk.

Im direkten Kontakt mit seinem Modell: Antonio López und die Quitte

El sol del membrillo ist ein sehr gegen­ständ­li­cher Doku­men­tar­film über das Werden und Vergehen, über die Arbeit der Zeit an der Welt, auch über die kosmische Gewor­fen­heit der künst­le­ri­schen Kreation. Erice hat den Maler Antonio López dabei gefilmt, wie er – seiner­seits, im Film würde man sagen, doku­men­ta­risch, in der Malerei heißt das dann »realis­tisch« – die Früch­te­pracht eines Quit­ten­baums in seinem Garten in Öl fest­halten möchte. López zeigt sich dabei als ein Vermesser der Welt. In fast pedan­ti­schen Vorbe­rei­tungen gibt er sich eine feste Perspek­tive auf den Baum vor, schlägt als Markie­rungen für die Stand­po­si­tion des Malers Nägel in den Boden, malt mit weißer Farbe Linien an die Garten­mauer, die ihm den Horizont anzeigen, hängt für die Vertikale ein Lot auf, markiert einzelne Blätter mit einem kleinen weißen Farben­kreuz, und vermisst überhaupt die prall werdenden Quitten mit feinen weißen Strichen, die er immer wieder nach­kor­ri­gieren muss, als Insignien ihrer Reifung: hier ist der Nerd am Werk.

Die über­mäch­tige Quitte und der Nerd – Das Film­plakat verrät den Humor

Immer wieder muss López so auch seine nur langsam wach­senden Ölfrüchte auf der Leinwand korri­gieren und dem realen Wachstum anpassen. Freunden, die vorbei­kommen und sich über das sichtlich langsame Voran­schreiten des Gemäldes wundern, erläutert López sein exaktes Vorgehen. Als realis­ti­scher Maler möchte er den Augen­blick fest­halten, in dem sich die Herbst­sonne über die Früchte ergießen und in Gold erstrahlen lassen werde. Dazu brauche er den direkten Kontakt zu den Früchten, und nur in der Exaktheit könne er das Natur­er­eignis wieder­geben.

Der Maler López könnte auch Alter Ego des Regis­seurs Erice sein, der minutiös die ebenso minu­tiösen Malar­beiten doku­men­tiert. Gefilmt wurde, wenn sich etwas ergab, ein Mikro­er­eignis in der Zeit, dann auch oft spontan fest­ge­halten mit einer Video­ka­mera, weil Erice allem Anschein nach keine Aufnahmen geplant hatte und ohne 16mm-Kamera in den Garten des Malers gekommen war. Hinein brechen aus dem Off die Welt­nach­richten und das immer schlechter werdende Wetter, das das vormals licht­durch­flu­tete, korn­le­ben­dige Bild in dämmerige Dunkel­heit versenkt, holen für kurze Momente den Quit­ten­baum aus seiner Selbst­ver­sun­ken­heit heraus und werfen ihn in das Hier und Jetzt nackter Natur­exis­tenz. Das Wetter wiederum erweist sich als größter Plot­ma­cher des Films: Durch­tränkt vom tagelang nieder­pras­selnden Regen, muss López sich schließ­lich einge­stehen, dass sich sein Vorhaben nicht mehr reali­sieren lässt, die Sonne, auf die er so sehr gewartet hatte, sich nicht mehr zeigen wird. Er räumt das unfertige Gemälde in den Keller. Ob er im nächsten Jahr an dem Bild weiter­ar­beiten werde?, wird López von seinen Freunden gefragt. Er verneint. Der Baum werde sein Aussehen verändert haben, andere Früchte wären gewachsen. Das Bild ließe sich in der Inten­sität nicht noch einmal wieder­holen. Hier arti­ku­liert López eine Unwie­der­bring­lich­keit der Kreation, die das vorder­grün­dige Scheitern seines Projekts fast noch tragi­scher erscheinen lässt, dem López aber mit Nonchan­lance begegnet und eine Radierung des Quit­ten­baums beginnt. Mit geübter Exaktheit.

In allem macht sich latenter Humor breit. Polnische Arbeiter bringen prole­ta­ri­sche Effek­ti­vität in das Universum des Malers hinein, reno­vieren das Haus, während López sich mit dem Imaginären des Sonnen­lichts befasst. Ein Freund des Malers muss im tiefsten Herbst die sich senkenden Blätter mit einem langen Stock beiseite halten, um den Blick auf die Früchte und Zweige frei­zu­geben. Ziga­ret­ten­stummel im Garten liegen neben verrot­tenden Quit­ten­früchten auf dem Boden und künden vom Vergehen des Jahres und den Anstren­gungen der kreativen Arbeit. Und als letzter, fast schon kanni­ba­lis­ti­scher Akt, wird das Modell des Malers vernichtet, die Früchte gepflückt und in die Küche trans­por­tiert.

Werden und Vergehen

Wenn die prallen Quitten fallen

Das Licht und der Schatten, die Zeit und das Wetter, das Werden und Vergehen, die Kreation und die Destruk­tion: Erice spinnt mit unan­ge­strengter Leich­tig­keit einen philo­so­phi­schen Hinter­grund zur Geschichte vom Maler und seinem Modell. Das Scheitern des Malers aber erst verleiht dem Sujet des Films echte meis­ter­liche Größe und führt in die beschei­denen Gefilde des Mensch­li­chen, ange­sichts des kosmi­schen Wirkens der Natur. – Jedoch: welches Scheitern?

El sol del membrillo, so lässt sich erahnen, ist der Schlüssel zum Werk Victor Erices, bestehend aus Skizzen (Vidros partidos, 2012), unfer­tigen Filmen (Die Dreh­ar­beiten zu El Sur von 1983 wurden vorzeitig abge­bro­chen, weil das Geld fehlte, der Film dennoch nach Cannes einge­laden), Essays (La Morte Rouge von 2006: das bruch­s­tück­hafte Erin­ne­rungs­mo­saik an San Sebastian, an die Kindheit und das erste Kino­er­lebnis, das den Alptraum der vergan­genen Kriegs­zeit vereint, magisch-traumhaft insze­niert). Und schließ­lich gibt es noch das perfekte Meis­ter­werk über die Nicht­voll­endung: El sol del membrillo.