09.10.2014

Ich will mich nicht künstlich aufregen

Julian Radlmaier, Ein proletarisches Wintermärchen
Julian Radlmaier, Ein proletarisches Wintermärchen (Neue deutsche Filme)

Geschlachtete Filme, proletarische Wintermärchen und »das Kino, das Kunst« beim 9. UNDERDOX-Filmfestival

Von Dunja Bialas

Von Dunja Bialas

»Montage, mon beau souci«, Montage, meine schöne Sorge, hatte Jean-Luc Godard 1956 geschrieben, und den Akt des Anein­an­der­fü­gens zweier filmi­scher Bilder am Schnei­de­tisch – anders als zum Beispiel der Film­theo­re­tiker André Bazin – als konse­quente Verlän­ge­rung der Insze­nie­rung verstanden. Ähnlich verhält es sich mit den Filmen, die erst durch Montage entstehen, die aus verschie­denen Schnip­seln der Film­ge­schichte zusam­men­ge­setzt werden oder aus soge­nanntem Found-Footage, bereits belich­teten Film­ma­te­rial, das auf dem Flohmarkt zusam­men­ge­kauft, oder, in der modernen Variante, bei Ebay erstei­gert wird. Vorge­fun­denes Material, das in neue Zusam­men­hänge gebracht wird, oder in der Montage in seinen Zusam­men­hängen erst noch konstru­iert, bisweilen auch detek­ti­visch rekon­stru­iert wird.

Letzteres geschah mit dem Inhalt des schwarzen Akten­kof­fers, der vor einiger Zeit erstei­gert wurde und sich bei näherer Betrach­tung als äußerst brisantes und skan­dal­träch­tiges Material entpuppte. Auf den Fotos, die sich in dem Akten­koffer befanden, war eine Dame zu sehen, die sich in den späten 60er Jahren in einem Liebes­ver­hältnis mit ihrem verhei­ra­teten Vorge­setzten befand. Dieser hatte, neben dem außer­ehe­li­chen Beischlaf, noch eine zweite Passion und führte in Art eines Liebes­ver­wal­ters Buch über die Affäre. Aus dem Koffer­fund wurde ein Kunst­pro­jekt in Form eines Künst­ler­buchs, und Philip Widmann hat aus dem Material einen glei­cher­maßen erhel­lenden wie amüsanten Film über die Mittel­mäßig­keit und Durch­schnitt­lich­keit der Affäre und aller Betei­ligten gemacht, und nannte seinen Film, der vor allem aus der Montage von unbe­wegten Bildern entstand: Szenario (Sonntag, 20:30 Uhr, Werk­statt­kino).

Das UNDERDOX-Film­fes­tival, bekannt für sein Programm mit Misch­formen aus filmi­schen Dokument und Expe­ri­ment, stellt in seinem neunten Jahr den Monta­ge­film in sein Zentrum. Filmische Baste­leien, könnte man auch sagen, um dem Ganzen den hehren ästhe­ti­schen Anspruch ein wenig zu nehmen. Die Montage lässt sich dann unwei­ger­lich mit Claude Lévi-Strauss in Verbin­dung bringen, der in seiner ethno­lo­gi­schen Schrift »Wildes Denken« (1962) bricolage (franz. für Basteln) als Nehmen und Verknüpfen dessen, was schon da ist, bezeichnet hat. Genau in dieser Zeit wiederum, in den 60er Jahre, hatte die italie­ni­sche Avant­garde ihre große Blüte, und bastelte, was das Zeug hielt. Carmelo Bene, enfant terrible der Thea­ter­szene, drehte 1968 seinen ersten von insgesamt nur fünf Filmen, den wilden Nostra signora dei turchi. Eine filmische Phan­tas­ma­gorie, die Hand­lungs­logik und Narra­ti­vität zum Auflösen bringt, Szenen disparat montiert und insgesamt, wie Olaf Möller es beschreibt, »es seinem Vaterland kulturell so richtig derb besorgen« wollte. Ein Skan­dal­film, der seinen Vorgänger in Alberto Grifis Monta­ge­film La verifica incerta hatte, der wiederum vom Film­kri­tiker Raffaele Meale begeis­tert folgen­der­maßen beschrieben wurde: »Ein Meis­ter­werk über die Film­in­dus­trie, geschlachtet durch den Akt der Montage.« (Samstag, 18:30 Uhr, Film­mu­seum)

Film­schlach­tungen bei UNDERDOX

Es werden also Filme geschlachtet bei UNDERDOX und deren Bestand­teile in neue Zusam­men­hänge gebracht. Einen reichen Fundus an Film­schlach­tungen bietet auch das Kurz­film­pro­gramm Underdox Expe­ri­mente mit beispiels­weise dem Monta­ge­film Gebro­chene Sinn­lich­keit der Türkin Zeynep Tuna. Sie hat von VHS-Raub­ko­pien türki­scher Porno­filme, die in den 70er Jahren durch allerlei Rafinesse an der Zensur vorbei­ge­schmug­gelt werden konnten, einen ganz eigenen Montage-Film gemacht, einen Sexfilm, der auch der weib­li­chen Perspek­tive standhält. (Dienstag, 22:30 Uhr, Werk­statt­kino).

Andere Auswei­dungen geschlach­teter Filme finden sich auch in Norbert Pfaf­fen­bich­lers klugem Sidekick zur Film­ge­schichte. In A Messenger From The Shadows montiert er ausschließ­lich Film­aus­schnitte, die den »Mann mit den 1000 Gesich­tern«, Lon Chaney, zeigen, zu einem neuen »Notes on Film«-Film, diesmal als »Monolog« (Samstag, 18:30 Uhr, Film­mu­seum, zu Gast: Norbert Pfaf­fen­bichler).

Das prole­ta­ri­sche Winter­mär­chen

Genug der Film­schlach­tungen, hin zu den neuen Film(ent)würfen. Sehr an Luis Bunuels El ángel exter­minador erinnert die Autonomie der Dienst­boten (Ange­stellten wäre ein zu moderner Begriff) von Julian Radl­maiers Ein prole­ta­ri­sches Winter­mär­chen. Ähnlich den Dienst­boten bei Bunuel, die eine merk­wür­dige Autarkie entfalten, kommen auch bei Radl­maiers surrea­lis­tisch inspi­riertem Spielfilm drei Georgier auf aus den Klas­sen­ver­hält­nissen aussche­rende Gedanken, und bringen mit ihnen die Gesell­schaft der Reichen durch­ein­ander (Samstag, 20:30 Uhr, Werk­statt­kino, zu Gast: Julian Radlmaier).

Radl­maiers Film ist nur eine von mehreren Position neuen deutschen Film­schaf­fens, die UNDERDOX in seinem neunten Programm präsen­tiert. Mit dabei ist auch die Arbeit von Stefan Hayn, der in der Sorgfalt eines Malers einen Film aus selbst­er­stellten Gemälden über das Schaffen von Jean-Marie Straub erschaffen hat: S T R A U B. Die Leer­zei­chen im Titel symbo­li­sieren dabei die Leer­zei­chen der Inter­pre­ta­tion, in welchen die Werk­in­ter­ak­tion statt­haben kann (Montag, 18:30 Uhr, zu Gast: Stefan Hayn).

Ich will mich nicht künstlich aufregen

Mit einem tref­fenden Titel wird die dies­jäh­rige Ausgabe mit dem Film von Max Linz Ich will mich nicht künstlich aufregen eröffnet. Ein Kuratorin in Nöten, die eine Ausstel­lung machen möchte über »Das Kino. Das Kunst« gerät in den Berliner Diskurs- und Geld­ver­ga­bed­schungel und soli­da­ri­siert sich auf ihrem Weg mit Punks und 80er Jahre anmu­tendem Outfit. Keine Macht für niemand? Max Linz hat nicht nur uns den Spiegel vorge­halten, sondern womöglich auch Ihnen, den Besuchern von Kunst­aus­stel­lungen oder von UNDERDOX (Donnerstag, 20:00 Uhr, Film­mu­seum). Der Film, der den Rund­um­schlag auf Metaebene wagt, ist der Film, mit dem UNDERDOX dieses Jahr eröffnet.

Dies natürlich nicht nur, weil wir den Film gut finden, dies ist ganz und gar gewollt. Wir halten uns mit dem Eröff­nungs­film den Spiegel vor, damit unser Antlitz als Fratze/Farce erkennbar wird, über die wir selbst auch lachen können.

Denn es genügt ja nicht, ein Festival mit einem hohen Anspruch an die gewählten Filme auf die Beine zu stellen. UNDERDOX hat dieses Jahr außerdem die große Ausstel­lung mit Video­kunst, VIDEODOX, kuratiert (unter tatkräf­tiger Unter­s­tüt­zung von Kay Winkler und in Koope­ra­tion mit dem Berufs­ver­band Bildender Künstler). Kino und Kunst kommen hier zusammen, in den beein­dru­ckenden Wandel­hallen der Galerie der Künstler (täglich von 11 bis 18 Uhr).

Ein paar der um 1000 Euro konku­rie­renden Arbeiten werden auch im Kino gezeigt. Narges Kalhor, Studentin an der HFF und Sandra Filic, Künst­lerin der Münchner Akademie der Künste, haben es mit ihren Arbeiten in das Film­pro­gramm geschafft und sind zu sehen am Montag, um 20:30 Uhr im Werk­statt­kino. Wenn es wieder heißt: Das Kino. Das Kunst.

Die Autorin ist Leiterin des UNDERDOX-Festivals

9. Underdox Film­fes­tival. 09.-16. Oktober 2014