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15.02.2008
 
 
     
Berlinale 2008
Alte Männer, junge Frauen
 
KABEI - OUR MOTHER
 
 
 
 
 

Facetten des Privaten, Sehnsucht nach Bunuel, Koreaner in Paris, dünne Cassavettes-Aufgüsse, und natürlich Politik - Berlinale Impressionen, Dritte Folge

„Sehnsucht nach Bunuel“ habe sie, konstatiert Lina. Und guckt sich einfach nur Bunuel-Filme an. Die Glückliche.

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Zweimal Erinnerung, aber ganz verschieden: Takt gegen Opulenz, beiläufiger Schmerz gegen Symbolismus mit tieferer Bedeutung, Privates als Spiegel des Allgemeinen gegen einen Denkmalsfilm – so könnte man die Unterschiede zwischen Yoji Yamadas OUR MOTHER und Andrzej Wajdas KATYN charakterisieren.

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"Ich werde nie vergessen, wie ich an diesem Morgen zur Schule zur Schule ging." 80 Jahre alt ist Teruyo Nogami, von der dieser Satz stammt. Im Nachkriegsjapan arbeitete sie beim Film, traf 1950 bei der Arbeit an dessen RASHOMON auf Meisterregisseur Akira Kurosawa. Seitdem war sie in 19 weiteren Filmen die engste Mitarbeiterin Kurosawas, über den sie 2001 auch eine umfangreiche Werkbiographie schrieb. In ihrem Roman "Requiem for a father" schildert die Autorin ihre Jugend während des Zweiten Weltkriegs. Dessen Verfilmung durch Yoji Yamada unter dem Titel OUR MOTHER hatte jetzt im Berlinale-Wettbewerb Premiere.
"Ich habe den Film aus der Gegenwartsperspektive gedreht", sagte der 1931 geborene Yamada auf der anschließenden Pressekonferenz. "Es ist ein Werk gegen Militarismus, Vergessen und Beschönigung der Vergangenheit."
Der Film setzt ein im Japan des Jahres 1940. Eine Familie ißt zu Abend. Beim Tischgespräch fallen die Worte Okinawa und Hiroshima, und weil der Zuschauer weiß, wieviel Schrecken und Leid mit diesen Namen wenige Jahre später verbunden sein wird, legt sich die Zukunft als bleierner Schatten über die Gegenwart. Am nächsten Morgen wird der Vater, ein Germanistikprofessor, wegen eines "Gedankenverbrechens" verhaftet. Schon die Beschäftigung mit Goethe, Hegel und Nietzsche schien zu jener Zeit des Intellektuellenhass' subversiv. Der Film schildert, wie das Leben für die Mutter und die zwei Töchter weitergeht – eine ungemein zu Herzen gehende Geschichte, in der sich Japans faschistische Diktatur und der Krieg - zunächst gegen China, seit Ende 1941 auch gegen die Westallierten - im Privaten spiegelt.
"Film und Buch geben einfach meine Erlebnisse wieder.", so Nogami, "auch nach so langer Zeut ist die Erschütterung über jene Jahre nicht vergangen." Und auch für Yamada hat alles einen persönlichen Bezug: "Es ist für mich unmöglich, etwas zu beschreiben, was ich nicht aus eigener Anschauung kenne."

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Eine Brücke wird zum Symbol. Auf ihr treffen, gleich in der ersten Szene des Films KATYN, zwei Flüchtlingsgruppen aufeinander. Die einen fliehen vor der Nazi-Wehrmacht, die anderen vor der Roten Armee. Polen im Herbst 1939: Erst Wochen zuvor hatte der Hitler-Stalin-Pakt das Schicksal des kleinen Landes besiegelt, jetzt wird es aufgerieben zwischen zwei eroberungslüsternen Diktaturen.

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„Ich freue mich, dass ich es noch geschafft habe, diesen Film zu drehen“, so der polnische Regisseur Andzej Wajda am Freitag nach der Auslands-Premiere seines Films KATYN außer Konkurrenz im Berlinale-Wettbewerb. Seit Wochen läuft der fürs Fernsehen produzierte Film bereits im polnischen Kino erfolgreich. KATYN schildert in Form einer Spielhandlung das Schicksal Polens 1939/40 bis zum Massaker von Katyn, bei dem etwa 20.000 gefangene polnische Soldaten von den Sowjets hingerichtet wurden. Die Nazis nutzten es zur antisowjetischen Gräuelpopaganda, nach dem Krieg schwiegen auch die Westalliierten – so war das Ereignis 1989 nahezu vergessen.
„Mein Vater war unter den seinerzeit ermordeten Offizieren,“ sagt Wajda, „dieses Massaker hat mich zeitlebens nicht losgelassen. Und meine Mutter wollte bis zum Schluss, bis zu ihrem Tod 1950, nicht daran glauben, dass mein Vater nicht zurückkehrt.“ Auf der Pressekonferenz erzählte der fast 82-jährige Wajda, der 1958 als Regisseur von ASCHE UND DIAMANT über das Polen unter der Nazibesatzung berühmt wurde, von den Schwierigkeiten, den Film herzustellen: „Der Film konnte lange nicht verwirklicht werden. Katyn war bis 1989 das bestgehütete Geheimnis. Ich möchte, dass dieser Film ein Bild der damaligen Zeit ist, die zum Glück vorbei ist. Solange es keine Filme und keine Literatur gibt, die die Fakten darstellt, existiert das Ereignis nicht im kollektiven Bewusstsein. Das sollten sie aber.“

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Wajdas Film ist eine Elegie, ein Stück Trauerarbeit. Fast völlig ohne Musik, nur kurz untermalt durch Krzysztof Pendereckis 2. und 3. Symphonie und sein "Polnisches Requiem". Das Ergebnis ist eine monumentale Ode auf den polnischen Patriotismus: Verräter und Kollaborateure gibt es nicht zu sehen, dafür Offiziere, denen ihr Fahneneid wichtiger ist als die eigene Gattin, fromme Priester, die letzte Ölungen geben, und im kommunistischen Gefangenenlager heimlich die Beichte abnehmen; und treue Frauen und Töchter. Mit anderen Worten: Polit-Kitsch im Dienst der guten Sache.

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Die eigentliche Tat zeigt Wajda erst ganz am Ende, dann aber in 20 schier endlosen Filmminuten, Schüsse um Schüsse. „Ich hätte gern, dass der Film als letzter Film der polnischen Filmschule gesehen wird, die einst auf der Berlinale ihr erstes Publikum fanden.“ Scharf wandte sich Wajda immerhin gegen jede Form einer politischen, antirussischen Instrumentalisierung seines Films, die auch auf der Pressekonferenz vor allem durch polnische Journalisten versucht wurde.

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Noch ein Altmeister: "Es gibt viele Methoden des Filmemachens. Was mich angeht: Ich werde mich nicht mehr ändern", sagte Francesco Rosi. Warum sollte er auch? Wenn man den Regisseur von Klassikern des europäischen Politthrillers wie HÄNDE ÜBER DER STADT oder DIE MACHT UND IHR PREIS so dasitzen sieht, im Gespräch mit seinem Publikum und dem französischen Filmkritiker Michel Ciment in der Deutschen Kinemathek, dann wirkt Rosi ganz und gar nicht wie der Letzte seiner Art. Locker zehn bis fünfzehn Jahre jünger aussehend - was bei einem 85-Jährigen allerdings auch nicht mehr die ganz rein strahlende Jugend bedeutet - erschien er mit getönter Sonnenbrille, hellbraunem Glencheck und Blue-Jeans und abwechselnd in drei Sprachen parlierend, locker, hellwach und energiegeladen. Nur ab und zu hielt er sich die Hand hinter die nicht mehr ganz so guten Ohren, ansonsten wirkte Rosi ganz bei sich und so, als könnte er morgen schon wieder mit einem neuen Film beginnen. Der Bogen der Themen war breit, von Rosis Anfängen im italienischen Nachkriegskino, über die Rolle der Musik in seinen Filmen - "sie muss für den Film absolut notwendig sein. Sonst kann man sie besser weglassen" - bis zum Italien von heute - "völlig korrupt. Genau wie in meinen Filmen. Italien ist sehr schwer zu begreifen."
Er hat noch als Assistent von Visconti begonnen, 1948 in dessen DIE ERDE BEBT, schrieb das Buch für BELLISSIMA und ist nach Antonionis Tod heute der letzte Überlebende der ganz großen Generation des italienischen Kinos. Als die anderen in immer abstraktere Gefilde des Autorenkinos abwanderten, hat er in den sechziger Jahren eine ganz eigene Form von realistischem politischem Kino perfektioniert, die einen spannenden Plot - ein Immobilienskandal, ein Flugzeugabsturz, politische und mafiöse Verstrickungen - mit dokumentarisch genauer Analyse vermischt. Dabei ist Rosis Position immer glasklar, ohne je schlicht zu sein.

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Aber wo sind eigentlich die zeitgenössischen Erben Rosis? Wo gibt es überhaupt unter Europas Filmen heute jene Politthriller und Wirtschaftskrimis, wie er sie gedreht hat, filmische Darstellungen der kalten, stahlgrauen, gläsern-kühlen Milieus von Geld, Macht und Gewalt und ohne Happy End. Im Deutschland von heute könnte man solche Filme schon deshalb nicht drehen, weil die Kanzlerin nicht Kanzlerin und der "Spiegel" nicht mal "Magazin" heißen darf, denn ein übertriebenes, die Mächtigen schützendes Persönlichkeitsrecht gäbe jeder Klage gegen sie recht - Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen waren aber auch bei Rosi eben keineswegs zufällig.
Gestern Abend ist Francesco Rosi, der 1962 auf der Berlinale mit SALVATORE GUILIANO seinen internationalen Durchbruch erlebte, mit einem goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden. Eine hochverdiente Anerkennung. Aber zugleich eine vage Hoffnung für die Zukunft.

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Ein Koreaner in Paris. "Das ist ein furchtbarer Ort!" sagt ihm der Penner schon auf dem Flughafen in apokalyptischem Ton. Als nächstes begegnet er japanischen Touristen. Dann trifft er auf Christen, die ihn missionieren wollen und ihm Gespräche über die Bibel aufdrängen, ihm erzählen, wie sehr diese ihr Leben verändert habe. Schließlich auf eine Ex-Freundin, die er zunächst kaum erkennt. Sie ist mit einem Franzosen verheiratet - offenbar unglücklich - und etwas labil. Zwischen Musée d'Orsay und Montparnasse erscheint ihm dieses Paris plötzlich märchenhaft bevölkert von lauter Koreanern, vor allem hübschen Frauen, die zu manchem bereit sind, und es entspinnt sich ein Szenario aus reiner Leichtigkeit, über die Liebe und das Leben. NIGHT AND DAY heißt der Film im Wettbewerb der Berlinale, in dem sich Regisseur Hong Sang-soo einmal mehr als der koreanische Rohmer erweist. Grundiert vom Nachdenken über Schuld, Versuchung und das Wesen der Kunst ist dies der beste Film des französischen Kritikerlieblings seit Jahren und einer der besten im bisherigen Wettbewerb der Berlinale.

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Private Schicksale in unterschiedlichsten Facetten stehen auch sonst im Zentrum der ersten Tage des Berlinale Wettbewerbs. ELEGY von der Spanierin Isabel Croixet (MEIN LEBEN OHNE MICH) ist die Verfilmung von Philip Roth Roman "Das sterbende Tier". Ben Kingsley und Penelope Cruz sorgen nicht nur für hohen Starfaktor, sie spielen einmal mehr das uralte Liebeswechselspiel von Lehrer und Schülerin, Alter und Jugend, welkem Kopf und straffer Haut, Thanatos und Eros - diese Aufzählung macht schon deutlich, dass diese Begegnung nicht ohne Klischees und Kitsch auskommt, zugleich hat sie einige wahrhaftige Momente. Am besten gelungen ist allerdings der Nebenstrang der Freundschaft zweier New Yorker Intellektueller, wunderbar gespielt von Kingsley und Dennis Hopper.

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Hoch gelobt wurde allseits auch LAKE TAHOO vom Mexikaner Fernando Eimbcke, die Geschichte eines jungen Mannes, der nicht zuhause sein will, wo man den toten Vater betrauert, und stattdessen durch eine namenlose Stadt streift. Humor und die Poesie des Absurden treffen sich in diesem stillen, schön inszenierten Film voller Buster-Keaton-Momente. Ein Schauspielpreis sicher haben sollte Tilda Swinton für ihren Auftritt in JULIA vom Franzosen Eric Zonca, der ansonsten enttäuschte. Zu grell inszeniert und zu sehr wie ein dünner Cassavettes-Aufguss wirkte die Geschichte einer unsympathischen Säuferin, die erst ein Kind entführt und quält, um dadurch dann am Ende doch zum besseren Mensch zu werden.

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Richtig politisch wurde es dann aber - abgesehen von Paul T. Andersons großem THERE WILL BE BLOOD der jetzt ins Kino kommt, und nach wie vor der beste Wettbewerbsbeitrag bleibt - am Dienstag in SOP – STANDARD OPERATING PROCEDURE. Errol Morris' Dokumentation über Folter und andere Untaten der Amerikaner in "Abu Ghraib" belegt allerdings vor allem die Schwierigkeiten, überhaupt eine angemessene Vorstellung der Geschehnisse auf die Leinwand zu bringen. Am Ende wirken die langen Gespräche mit verurteilten US-Folterknechten und Ex-Wächtern doch fasst obszön in der unangemessenen Breite, die Morris den dünnen Entschuldigungen einräumt - und die nachgestellten Taten erinnern unangenehm an das Täter-Infotainment eines Guido Knopp im deutschen Fernsehen.
Kollegin Barbara erinnert im Gegenzug an Peter Weiss: In dessen „Die Ermittlung“ ging es auch um jene „da-wo-ich-hingestellt-werde-tu-ich-meine-pflicht“-Moral. Der Film macht in seinem Psychogramm des inneren Beziehungsgeflechts die Ungeheuerlichkeit des ganzen Vorgangs bewusst. Aber eine Dokumerntation, bei der sich im Nachspann allein sechs Make-up-artists finden, hat trotzdem etwas Anrüchiges.

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Bisher also eine durchwachsene Wettbewerbs-Bilanz, wieder das bekannte Berlinale-Gefühl: Selbst wenn die Filme gut sind, sind sie irgendwie unnötig und man könnte auch gut auf sie verzichten.

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„Ich habe schon keine Verfügung mehr über unser Kontingent. Wir haben 170 Einladungskarten, aber 350 Anfragen. Und wir können nur 51 vergeben. Denn da kommt dann die Filmförderung und arte und die anderen Sender und und und - jeder will 20 Karten, und die Filmförderung sogar 30.“ – ein Regisseur über seine ganz praktischen Probleme.

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Wer wird nun den Goldenen Bär gewinnen? Mike Leigh ist mal wieder der Favorit der Kritiker, die Italiener werden hoch, die Franzosen niedrig gehandelt. Dass Doris Dörries KIRSCHBLÜTEN etwas gewinnt, gilt als ausgemacht. Mir selbst hat NIGHT AND DAY und OUR MOTHER am besten gefallen. Und natürlich THERE WILL BE BLOOD. Aber zuverlässiger als alle Vermutungen waren bisher meine persönlichen zwei Berlinale-Regeln: 1. Es gewinnt immer ein Film, der an den ersten fünf Tagen läuft (einzige Ausnahme: GEGEN DIE WAND 2004). 2. Es gewinnt immer ein Film, dessen Pressevorführung um 9 Uhr morgens war (einzige Ausnahme: INTIMACY)

Rüdiger Suchsland


 

 

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