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07.02.2008
 
 
     
Berlinale 2008
Das Genie der späten Jahre
 
L'AGE D'OR
 
 
 
 
 

Gegen die Puritaner: Die Retrospektive zu Luis Buñuel ist der heimliche Höhepunkt der Berlinale

"Für mich ist es selbstverständlich, die sogenannten ’ewigen Prinzipien’ einer Gesellschaft anzugreifen, denn sie sind Instrumente der Unterdrückung, und ich glaube, dass man einen permanenten Kampf für die Freiheit führen muss." - das sagte der Spanier Luis Buñuel (1900 – 1983), der diesen Kampf mal überaus subtil und sensibel, dann wieder mit gröbstem Geschütz geführt hat.

Man muss dies vielleicht wirklich nicht gegeneinander ausspielen, aber wozu soll man sich eigentlich ein Drama unter kasachischen Fischern oder einen Dokumentarfilm über US-Gefängnisse im Berlinale-Forum angucken? Oder Doris Dörries KIRSCHBLÜTEN, den einzigen deutschen Beitrag im Berlinale-Wettbewerb? Aus Interesse für exotische Schauplätze oder aus Patriotismus - gut, das mag beides noch angehen. Aber aus Cinephilie? Also bitte! Wenn man wirklich etwas Neues erfahren, etwas Einmaliges, Unwiederholbares erleben möchte, dann gibt es in diesem Berlinale-Jahr nur die Luis-Buñuel-Retrospektive.

Buñuel? Das "Auge das Jahrhunderts" hat man ihn genannt, und es gab Zeiten, da galt er als einer der allerwichtigsten, bahnbrechendsten lebenden Künstler. Aber heute sind er und sein Werk weitgehend vergessen. Jetzt, vielleicht gerade noch zur richtigen Zeit, wird er wiederentdeckt - und überrascht, als ein überaus zeitgemäßer Künstler in unserer Epoche grassierenden Neopuritanismus und Fundamentalismusgemurmel, als ein Kämpfer, der die Freiheit des Einzelnen bedingungslos über alles stellt.
Was hätte Buñuel gespottet über unsere Rauchverbote und Geburtsförderungsdebatten! Was hätte er gewettert über den staatliche Zugriffe auf die Körper seiner Bürger und Eingriffe in privateste Lebensbereiche unter den porösen rhetorischen Masken von "Sicherheit" und "Fürsorge"! Was hätte er gelästert über die "Wiederkehr der Religion", grassierenden Papstkitsch, über "neue Bürgerlichkeit" und "neue Werte"! Buñuel hätte kühl die Angst hinter all dem entlarvt, hätte wütend gegen die Machtinteressen und Bosheiten hinter den freundlichen Worten bloßgelegt. "Die Welt wird immer absurder", sagte Buñuel schon in den 60er Jahren - und wer wollte ihm da heute noch wiedersprechen?

Im Vergleich zu den Kinozwergen der Gegenwart und ihren Gnomenwerken ist er jedenfalls ein Riese: Luis-Buñuel, am 22. Februar 1900 in nordspanischen Aragon geboren, vor fast 25 Jahren, am 29. Juli 1983 in Mexiko-City gestorben, Katholik, Atheist, Surrealist, Anti-Kommunist, Marxist, Bürger, Schriftsteller, vor allem aber einer der wichtigsten Filmemacher seines, des 20. Jahrhunderts. Die eigene Widersprüchlichkeit - "Ich bin Atheist. Gott sei Dank!" - hat er geliebt, hat er bereits als Tugend verstanden, und war immer überzeugt, dass man genauso aus seinen Irrtümern und Zweifeln besteht, wie aus seinen Gewissheiten. Die Kontinuität ist der Widerspruchsgeist, und der Mut zur Ambiguität: "Ich bin ein fanatischer Antifanatiker."

Seine Bilder haben sich untilgbar in unser kulturelles Gedächtnis eingebrannt: Der Gang Jeanne Moreaus im TAGEBUCH EINER KAMMERZOFE (1964), den er auch in seinen Memoiren "Mein letzter Seufzer" verewigte, als er über das leichte Zittern schrieb, das durch ihren Fuß die Unterschenkel durchzieht, wenn sie auf Schuhen mit hohen Absätzen geht; die verdoppelte Frau, die in DIESES OBSKURE OBJEKT DER BEGIERDE (1977) je nach Seelenzustand von zwei verschiedenen Darstellern gespielt wird; Catherine Deneuve, ausgepeitscht in einem Wald (BELLE DU JOUR, 1967); jene noble Villa und ihre Gesellschaft, die sie in DER WÜRGEENGEL (1962) aufgrund eines mysteriösen Zwangs nicht mehr verlassen kann; das Kruzifix, aus dem ein Messer hervorspringt in VIRIDIANA (1961); das Schreien und Sterben des mexikanischen Straßenjungen in LOS OLVIDADOS (1950); die Spinne, die in der Zelle der lasterhaften SUSANA (1951) über ein Schattenkreuz kriecht, das das vergitterte Fenster auf den Boden wirft; die Dutzenden von Ameisen, die einem Loch in einer Menschen-Hand entweichen und natürlich das von einem Rasierklingenschnitt schockartig durchtrennte Auge in seinem frühen Geniestreich DER ANDALUSISCHE HUND (1929). Dieses Öffnen des Körpers, das Durchtrennen der Grenzen in Bildern und im Geist, wenn es sein muss auch mit Gewalt, war immer eines der Hauptanliegen Buñuels. Buñuel nutzte Extremsituationen, um die Brüchigkeit bürgerlicher Konventionen aufzuzeigen.

So produzierte er Meisterwerke im Dutzend, die ins Herz der jeweiligen Epoche zielten. Zugleich liegt eine seltsame Rätselhaftigkeit über Buñuels Filmen, so als ob doch es mehr zu sehen gäbe, dass sich dem Betrachter immer wieder entzieht. Bilder der Entfremdung in einer Welt, in der Gott abwesend ist, die Menschen Teufel und die Erde eine Hölle.

"Buñuel zu klassifizieren ist unmöglich. Seine Größe besteht im Beharren auf seiner individuellen Sicht der Dinge. Er erfand den filmischen Surrealismus, eckte mit sozialkritischen Werken an und erlangte Ruhm mit seinen sarkastischen Porträts der europäischen Bourgeoisie" - so kommentiert Rainer Rother, der Leiter der Retrospektive.

 

Aufgewachsen war Luis Buñuel in bürgerlichen Verhältnissen einer ländlichen Umgebung, die zwar familiär liberal, im Umfeld aber durch "eine fast mittelalterliche Atmosphäre" geprägt waren. Der Künstler als junger Mann begeisterte sich für Insekten. Zwei Jahre lang studierte Buñuel Anfang der zwanziger Jahre an der Madrider Universität Entomologie, die Wissenschaft der Insekten, "obwohl mir bald klar wurde, dass ich mich mehr für das Leben und die 'Literatur' der Insekten interessierte, als für deren Anatomie, Physiologie oder Klassifikation." Mit dem Studium war es schnell vorbei, doch die naturwissenschaftliche Methode hinterließ ihre Spuren. Gemeinsam mit dem erzkatholischem Erbe seiner Schulzeit am Jesuitenkolleg, einer fetischistischen Besetzung des Weiblichen, der Körper-Natur und der Gewalt bildete sie einen wesentlichen Bestandteil jenes persönlichen Universums, aus dem sich in den folgenden Jahrzehnten Buñuels Filme speisten, mit denen später er "das unterbewusste Leben zum Ausdruck bringen" wollte.

"Wir sind Kinder des Zufalls, auch ohne uns könnte das Universum bis ans Ende der Zeiten existieren."
Sein eigenes Werk begann mit Sensationen. Die erste war jene Begegnung mit den beiden Jugendfreunden, die sein Leben prägen sollte: Man wäre gerne dabei gewesen in jenem Sommer des Jahres 1923, als sich der Maler Salvador Dali, der Dichter Federico García Lorca und Buñuel in der Studentenresidenz von Madrid, wo alle drei wohnten, begegneten, einander als Gleichgesinnte erkannten und in kürzester Zeit eine Lebensfreundschaft schlossen. Zunächst gehörte Buñuel zum Umfeld der von García Lorca geprägten spanischen Literatengruppe der "Generation von 1927". Etwas später zogen er und Dali dann nach Paris, und kamen bald in Kontakt zu den Surrealisten um André Breton. Ganz im surrealistischen Geist entstanden die beiden bahnbrechenden Frühwerke DER ANDALUSISCHE HUND und DAS GOLDENE ZEITALTER, die er mit Dali drehte. Dann ein jäher Bruch. Fast 20 Jahre machte Buñuel keinen Spielfilm, nur mehrere Dokumentationen, unter anderem 1933 in Spanien LAS HURDES ("Land ohne Brot"). Davor war er bereits in Hollywood gewesen, wo man damals noch offener für die Film-Avantgarde war, und vielversprechende Talente wie Fritz Lang, Sergeij Eisenstein und eben den Regisseur des ANDALUSISCHEN HUND mit attraktiven Möglichkeiten lockte. Dem Genie dieser frühen Jahre ist Buñuel seitdem vielleicht immer ein bisschen hinterhergelaufen, jedenfalls schien es eine ganze Weile, als habe Buñuel sein Pulver schon zu früh verschossen. Dass die spanischen Faschisten im Bürgerkrieg siegreich waren, erschütterte ihn wohl mehr, als er je eingestand. Zunächst ging er wieder in die USA, ein paar Jahre später dann nach Mexiko, und schlug sich mit Handlangerarbeiten durch. Es waren harte, bittere Jahre. Nebenbei schrieb Buñuel Prosatexte und Gedichte. So kam es, dass einer der vielseitigsten, interessantesten Künstler des Jahrhunderts seine berühmtesten und wichtigsten Filme – eben bis auf die beiden ganz frühen – erst schuf, als er bereits über 50 Jahre alt war. Richtig entdeckt wurde er erst Anfang der 60er, nachdem er mit VIRIDIANA 1961 in Cannes die Goldene Palme gewonnen hatte. Das war die Zeit, als über jeden, aber wirklich jeden spanischen Film gesagt wurde, man erkenne den Einfluss Buñuels. Das konnte aber schon deswegen nicht sein, weil lange Zeit kaum einer in Spanien Buñuels Filme kannte, und VIRIDIANA, sein erster Film, der in Spanien - mit Geldern der franqistischen Kulturbehörde - entstand, wurde drei Tage nach dem Sieg von Cannes verboten.

Oft geht es in Buñuels Filmen um Blendungen oder Sehstörungen; und um Blicke, die heimlichen durchs Schlüsselloch, die sehnsüchtigen aus dem Fenster, die verführerischen. Aber auch um die Objekte, die sich dem Blick preisgeben: Beine, Füße, Hände, schließlich Gesichter, und ihr Gegenteil: Verhüllung durch Schatten, Kleidung, Strümpfe, Schuhe, Leder - die Gefäße des Fleisches lassen eine Welt von Fetischen auferstehen. Und um das Verbergen, das Scheitern des Hinsehens. So wie am Beginn von Buñuels Werk der Schnitt durchs Auge geht, wird in seinem zweiten Film ein Blinder zum Objekt. Wenn die Rasierklinge in den Augapfel einschneidet, reagieren die Betrachter mit Wegsehen. Aber immer wieder verstand er es so einzurichten, dass man hinschauen musste. Durch Schocks oder durch Komposition.
Aber unzweifelhaft ist Buñuel mehr als allem anderen dem Erbe der spanischen Kultur verpflichtet: Der Malerei von Velasquez und Goya, der Barock-Literatur von Quevedo und Gracián, auf dessen Sprachbilder sich viele seiner Filmszenen zurückführen lassen, und dem Surrealismus seiner Zeitgenossen Aragon und Dali.

Genauso wichtig ist natürlich die Psychoanalyse. Aber Buñuel verfilmt nicht Freud, er übernimmt nur seine Fragen und seine Haltung. Buñuels Filme tänzeln auf der Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum, klären auf mit dem Skalpell kalter Vernunft, und stecken doch voller Mythologie, voller Empfinden für Doppelsinniges und Geheimnis. Sie sind so zerrissen wie sein 20. Jahrhundert. Die Kontinuität liegt im Nonkonformismus. Zeitlebens blieb Buñuel ein Individualist Provokateur. Aus seiner Heimat exiliert, von der Kirche exkommuniziert, beging er mit Genuß jede denkbare Todsünde. "Alkohol - Tabak - Liebe -!" so hieß der Dreiklang seiner Lieblingssünden. Eine Einheit des Genusses, die zuerst dem eigenen Glück und Wohlbefinden dient, sich aber außerdem noch gegen die Puritaner aller Couleur richtet.
Schließlich ist da der abgründige Witz seiner Filme: "Humor ist immer schwarzer Humor." war Buñuels Credo, "Das ist sehr wichtig. Nicht immer alles ernst nehmen können."
Buñuel ist ironisch und subversiv. Wenn wir Heutigen nichts von ihm lernen könnten, dann doch dieses eine: "Der Zweifel ist die wichtigste Tugend."


Rüdiger Suchsland

Deutsche Kinemathek (Hg.)
Luis Buñuel. Essays, Daten, Dokumente
184 Seiten, 125 Fotos, Hardcover, 21 x 27 cm, € 22,90 [D] / € 23, 60 [A] / SFr 43,90
ISBN 978-3-86505-183-7
Bertz + Fischer Verlag

 

 

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