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15.11.2007
 
 
     

Viennale 2007

 

Dreamgirl und Spenderin feuchter Träume:

Jane Fonda hat den Festivaldirektor Hans Hurch fest im Griff. Leider nicht Artechock-Autor Willmann, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Wien war.

 
 
 
 
 

Auf unmöglicher Mission: Zweieinhalb Tage Viennale '07

Your mission, should you choose to accept it: Das ganze Viennale-Erlebnis in nur zweieinhalb Tage pressen.
This message will destroy itself in five seconds.
DUM-dum DA-du-DUM-dum DA-da DUM-dum da-da-dum...

Eine MISSION UNMÖGLICH also, eh klar, aber was hilft's, wenn sich's durch äußere Umstände so ergibt, dass es anders net geht. Und komprimierte Viennale ist immer noch besser als gar keine Viennale.
Außerdem waren die Voraussetzungen für so eine Turbo-Version dieses Jahr so schlecht nicht, weil doch relativ viele von den interessanten Filmen schon in Berlin und München zu sehen waren. Wobei letzteres nicht gegen die Viennale, sondern für Richtung und Geschmack des Münchner Filmfests unter Andreas Ströhl und vor allem für die segensreiche Wirkung unseres neuen, mutigen Festival-Kleinods "Underdox" spricht. Weil man da z.B. bereits gucken konnte, wie Frederick Wiseman in seinem an der Oberfläche ganz simplen, aber phänomenal vielschichtigen STATE LEGISLATURE rund vier Stunden der Demokratie beim Arbeiten zuschaut, konnte man in Wien die Zeit für gleich zwei andere Filme nutzen.

Ein Höhepunkt der Viennale war freilich zum Zeitpunkt der späten Anreise schon vorbei, vorbei: Der Auftritt von Jane Fonda. Den hätte ich eigentlich zu gerne erlebt, weil er auf speziell diesem Festival eine ganz besondere Note gehabt haben muss. Fonda ist eine Ikone, ach was, ein Dreamgirl, eine Spenderin feuchter Träume für die '68er, und die Viennale versteht sich nicht bloß als durchaus politisches Festival sondern ist einer der letzten Orte, wo man vielen der alten Revolutions-Träumen noch ziemlich ungebrochen, lebendig und unpeinlich nachhängt. Sich jetzt die inzwischen zur Medienmoguls-Milliardärsgattin und Aerobic-Vorturnerin mutierte Fonda ins Haus zu holen, die in der BRANDO-Doku mit US-Flaggen-Glitzercowboyhut zum Interview antritt, die also eher als Abtrünnige und Verräterin wirken muss, die also mit dem ganzen schönen erotischen Begehren, das man in sie investiert hatte (und vermutlich noch immer ein bisserl investiert) sich auf die Seite und ins Bett des "Feinds" verabsentiert hat - das hat schon einen gewissen Masochismus. (Die BRANDO-Doku übrigens, auch schon auf dem Münchner Filmfest zu besichtigen, hat zwar die Unarten typischer US-TV-Dokus - bieder-glatte Ästhetik, eine wahre Materialschlacht an hochprominenten Interviewpartnern, emotionsheischende Musikverkleisterung - aber den enorm seltenen, extrem schätzbaren Vorzug, eine Künstler-Doku zu sein, in der es wirklich vordringlich um die KUNST des Protagonisten geht. Nicht darum, mit wem er wie oft und wann in welcher Stellung geschlafen hat, was für ein toller Papi oder schräger Typ er war, sondern bis hinein ins am Filmauschschnitt illustrierten mimisch-gestischen Detail darum, was Brando als Schauspieler einzig- und großartig machte.)

Aber, wie gesagt, das war schon vorab klar, dass dieser zentrale Bestandteil der Viennale spurlos an mir vorüber gehen würde - und auch auf anderem Gebiet stand das früh Scheitern des überambitionierten Plans fest, alles was zu einer Viennale gehört in weniger als drei Tage zu packen: Es hätte schon verlangt, die Filme allein nach logistischen Gesichtspunkten und nicht nach Interesse auszuwählen, hätten wirklich aus jeder Filmreihe und in jedem Festivalkino einer dabei sein sollen.
Zumindest letzteres aber hätte ich beinahe geschafft, hätte nicht eine restlos überfüllte Vorstellungvon THE STUDENT NURSES in der Urania einen Strich durch die ausgetüftelte Timetable-Rechnung gemacht. Mit der ging dann zugleich die erhoffte Kostprobe aus der kleinen Stephanie Rothman-Retro flöten - und das ist insofern bedauerlich, dass mit dieser B-Picture-Regisseurin aus dem Roger Corman-Dunstkreis dieses Jahr jenes Trash- und knallige Populärkino repräsentiert war, für das die Viennale langsam eine Ader entdeckt. Noch etwas zögerlich, noch immer mit gewissen musealen Abstandhaltern dazwischen, aber immerhin: Eine sehr begrüßenswerte Entwicklung. Weil man nicht ein mehr oder minder "subversives" und/oder "alternatives" Kino feiern kann und dann mit bürgerlichen Scheuklappen diesen Sektor ignorieren; weil's aber auch einfach Spaß macht, dieses Kino, es so eine ganz eigene Welt und Stimmung hervorbringt. Insofern also auch wieder gut, dass solche Filme in Wien vor ausverkauften Sälen spielen; das macht Hoffnung auf mehr davon, und das nächste Mal stell' ich mich halt früher dafür an.

So, und jetzt sollten wir vielleicht doch langsam von den versäumten zu den gesehenen Filmen kommen...
Das waren nämlich trotz allem genug, dass ich mich recht gut mit den Hauptfiguren von NIKUI ANCHIKUSHO identifizieren konnte: Die taumeln, torkeln nur durch den kompletten Film, einerseits halb erschlagen von Erschöpfung, andererseits vorwärtsgepeitscht von dem Zwang, ein unmögliches Ziel erreichen zu müssen. Dieser japanische '60er-Jahre-Reißer über einen Radio- und TV-Star, der für seine Sendung gegen allerlei Widrigkeiten einen Jeep von Tokio in ein Dorf überführen soll, war übrigens auch ein schönes Beispiel für Trash-Appeal. Leider waren nur die ersten paar Minuten wirklich grandios, dann verhedderte der Film sich in den immergleichen retardierenden Momenten - mit dem Ergebnis, dass ich bei dieser Nachtvorstellung im Gegensatz zum Protagonisten irgendwann meiner eigenen Übermüdung nachgab und in der Mitte nur alle fünf oder zehn Minuten ein Auge auftat, um mich zu vergewissern, dass er noch immer oder schon wieder mit seiner Freundin und Managerin stritt "Ich fahre jetzt dieses Autor" - "Nein, du fährst es nicht" - "Doch" - etc.

Schließlich hat er's übrigens gefahren. Die Freundin hat deshalb noch lang nicht zu bremsen aufgehört. "Du fährst jetzt nicht weiter dieses Auto" - "Doch" - etc.
Ja, der Kinoschlaf kann schon eine segensreiche Form des nachträglichen Filmschnitts sein...

Er hat allerdings auch die unangenehme Angewohnheit, oft ein arger Banause zu sein in Hinblick darauf, was er für interessant genug hält, um sich noch ein bisschen zurückhalten zu lassen, und wo er glaubt, schadlos zuschlagen zu dürfen. Da kann man selbst noch so ein tiefüberzeugter Feind jeder Plot-Orientiertheit sein, kann hundert Eide schwören, dass "Handlung" und "Geschehen" zwei sehr unterschiedliche Dinge sind und nur letzteres wirklich taugt. Aber der Kinoschlaf beschließt dann bei Nina Menkes' QUEEN OF DIAMONDS (von 1990) natürlich prompt in der 17-minütigen Casion-Sequenz "Da passiert ja jetzt erstmal nix" und drückt einem die Lider zu, obwohl man das, was man davon noch mitbekommt, großartig findet: Der Film handelt von einer Casino-Dealerin in Las Vegas und ihrer Entfremdung, und in eben jener zentralen Sequenz beobachtet man sie schlicht bei der Ausübung ihres Berufs. Es ist eine Viertelstunde in einer blinkenden, leuchtenden, glitzernden, plärrenden, klirrenden, trötenden Vorhölle. Inmitten der mechanisierten Marktschreierei der Spielautomaten, inmitten dieser hurenhaft aufgedonnerten, alle Vernunft der statistischen Realität niederschreienden Versprechungen eines gnädigen Zufalls, vollführt die Kartengeberin ihren gleichzeitig ungeheuer stupid-repetetiven und extreme Konzentration fordernden Job. Und dem Film gelingt da, was die Genre-Gepflogenheiten und die Ikonografie des Glücksspieler-Films mit ihrer auf Gewinnen oder Verlieren ausgerichteten dramaturgischen Spannung immer so schön vergessen machen: Zu zeigen, wie eben die momentanen, individuellen Erfahrungen von Euphorie oder Verzweiflung ganz unwichtig sind beim kommerzialisierten Glücksspiel, wie das alles als winziges Rauschen letztlich verschwindet im unausweichlichen Dröhnen der Wahrscheinlichkeits-Verteilung. Und wie seelentötend es sein muss, als ein menschliches Rädchen dieses ewig rotierende Un/Glücksrad am Laufen zu halten. Die Schichten der realen Casino-Dealer dauern 45 Minuten, länger hält das keiner am Stück aus, ohne die Konzentration zu verlieren, erzählte Nina Menkes nach dem Film. Also immer noch dreimal so lang wie diese bereits (absichtsvoll und im besten Sinn) an den Nerven zerrende, zehrende Sequenz.
Es ist überhaupt QUEEN OF DIAMONDS immer da am stärksten, wo der Film einem ein Gefühl von "So ist's" vermittelt, wo er gerade auch in seinem Bild von Las Vegas nicht als Mythos, sondern als Arbeitsplatz und öde Wüstenstadt, hinguckt auf die Welt, und drauf vertraut, dass wenn er das genau, selektiv, bewusst und komponiert genug tut, alles weitere schon von selbst klar wird.
Denn freilich ist Vegas hier auch ein Stand-In für die USA, und das Glücksspiel für den Kapitalismus, und so weiter und so fort. Und ich bin nur halb unglücklich, dass ich keinen sonstigen Film aus der Nina Menkes-Hommage gesehen habe. Denn es gibt in QUEEN OF DIAMONDS auch immer wieder diese Momente, wo ein galoppierender Kunstwille, ach was, ein KUNSTWILLE vorprescht, wo Theorie und "Aussage" das Ruder übernehmen, wo der Film einem merklich "etwas sagen will" und dabei dann eher nichtssagend wird. Eine Frau und ein Mann, die voneinander entfernt, abgewandt, wie Statuen in der Wüste vor einer brennenden Palme stehen - solche Bilder sind dann die latent peinliche Kehrseite von QUEEN OF DIAMONDS. Und - ich gebe das mit aller gebotenen Vorsicht am eigenen Leibe unüberprüft, aber nicht ungeneigt, es zu glauben, weiter - mir wurde glaubhaft versichert, dass dieser Aspekt in anderen Werken Menkes' noch deutlich stärker zu Tage tritt. Womit also bei der Auswahl just dieses einen Films aus der Reihe dann scheinbar doch das Glück auf meiner Seite war.

Was eigentlich generell für den kleinen Ausschnitt aus dem Programm galt, den zu sehen mir vergönnt war. Zweieinhalb Tage, ein gutes Dutzend Filme, und nur ganz wenige Aussetzer dabei - das spricht dann eben schon wieder nicht mehr nur für ein glückliches Händchen beim Herauspicken, sondern für das hohe Grundniveau der Viennale. Zumal wenn man bedenkt, dass in dieser Auswahl einige während meiner Anwesenheit gezeigte Highlights gar nicht vorkamen, weil schon anderweitig gesehen: Ulrich Seidls IMPORT EXPORT - auf wesentlich produktivere Weise grenzwertig als der arg denunziatorische HUNDSTAGE -, Ang Lees Mal-wieder-Meisterwerk LUST/CAUTION, die hervorragenden Künstler-bei-der-Arbeit-Dokus SCOTT WALKER - 30TH CENTURY MAN und LYNCH, sowie die schon oben erwähnten STATE LEGISLATURE und BRANDO. Plus zwar nicht bereits vorher gesehen, aber aus diesem oder jenem Grunde auch auf der Viennale verpasst (die bittere Lehre eines jeden Festivals ist immer wieder: Man KANN halt nicht alles sehen...) dazu noch Gus Van Sants PARANOID PARK, Todd Haynes' I'M NOT THERE, den neuen Chabrol LA FILLE COUPÉE EN DEUX, sowie Anton Corbijns "Joy Division"-Biopic CONTROL.
Nur um's nochmal klarzustellen: Wir reden hier nach wie vor von lediglich zweieinhalb Tagen, bei einem Festival mit fünf Leinwänden (die stets etwas separatistische Retro im Filmmuseum nicht mitgerechnet).
Blöd, dass dann grade einer der überflüssigeren Filme zum persönlichen Festival-Abschluss erkoren war: SAVAGE GRACE. Klang erstmal vielversprechend, weil a) Julianne Moore in der Hauptrolle und b) eine Geschichte aus der "Unglaublich aber wahr"-Ablage erzählend über psychosexuelle Irrungen und Wirrungen in der Familie des Erben des Bakelit-Imperiums. Aber dann leider in gewisser Weise das genaue Gegenteil vom oben beschriebenen Brennende-Palme-Effekt bei Nina Menkes: Vom Kunstwillen merkte man so recht erst etwas beim anschließenden Regisseurs-Gespräch. Da blieb dann kein Zweifel, dass Tom Kalin sich wohl unheimlich detaillierte und tiefe Gedanken zu so ziemlich jedem Aspekt seines Films gemacht hat. Aber im Film selbst kommt davon erstaunlich wenig rüber, da nimmt man alles mit mildem Interesse und ein wenig Staunen, aber ohne große Berührtheit und geistige Angeregtheit hin.
Immerhin: Bakelit-Produkte wird man nachher nie mehr ganz mit den selben Augen sehen...

Auch nie mehr ganz mit den selben Augen wird man Cormac McCarthys "No Country For Old Men" lesen, nachdem man - und damit kommen wir endlich zu einem der Viennale-Highlights - dessen Verfilmung durch die Coen-Brüder erlebt hat. NO COUNTRY FOR OLD MEN ist ein perfider Sonderfall von Literaturadaption: Der Vorlage fast durchgängig scheinbar geradezu buchstabengetreu - und doch eine sehr eigene Deutung des Stoffs.
Das funktioniert nur, wenn wie hier echte Großmeister ihres jeweiligen Metiers aufeinandertreffen, von denen jeder seinen eigenen Kosmos, seine eigene Weltsicht hat - und sich zwischen diesen eine Schnittmenge, aber keine Deckungsgleichheit findet.
McCarthy wie die Coens sind zutiefst amerikanische Künstler, beides sind US-Mythen-Beschwörer und -Zerstörer par excellence, beide sind fasziniert von amerikanischen Idiomen, Dialekten, im Zentrum beider Arbeit steht immer wieder die Konstruktion von Männer-Bildern, bei beiden spielt - das ist fast eine zwangsläufige Konsequenz - immer wieder Gewalt eine besondere Rolle. Und beider Blick auf das menschliche Dasein ist reichlich pessimistisch. (Und: In "No Country For Old Men" speziell baut McCarthy in der ersten Hälfte reichlich Genre-Erwartungen auf, die er dann gehörig transzendiert - was den Coens freilich auch entgegen kommt.)
Aber für McCarthy ist der US-Süden Heimat- und Stammterritorium, für die Coens ist er nur ein Milieu, Soziotop und Bilder-, Mythenreservoir unter vielen; für McCarthy ist dessen Sprache ein angestammtes Ausdrucksinstrument, für die Coens (auch wenn sie fast vollständig ihre Dialoge wörtlich aus dem Roman beziehen) ein kurioser Dialekt mehr. Und wo McCarthy mit seinen alttestamentarischen Anklängen und seinem grundsätzlich metaphysischen Ansatz von einem Bösen mit großem "B" handelt (ohne dem deshalb notwendigerweise ein eindeutig Gutes entgegenzusetzen), da gibt es bei den Coens nur das absurde Abstrampeln der drolligen Menschlein gegen ihr Dasein, welches, falls es überhaupt Interesse an ihnen hat, sie höchstens als Spielfiguren benutzt, an denen es einen sadistisch-schwarzen Humor ausleben kann.
Und siehe: Die Transformation der Ereignisse von "No Country For Old Men" ins Coensche Universum von NO COUNTRY FOR OLD MEN funktioniert famos, mit nur ein paar gezielten Auslassungen (deutlich weniger aber, als Verfilmungen sich für gewöhnlich leisten), vor allem aber durch die Kunst der Betonung, Färbung und Illustration. McCarthys kunstvoll knappe, stilisiert reduzierte Prosa eignet sich dafür wunderbar, da sie viel Platz lässt, wo die Filmemacher einhaken können. Wo McCarthy beim Lesen eher archetypische Bilder evoziert, da können sie ironisch gegensteuern. Im Detail wird diese Transformationsarbeit vielleicht einmal an anderer Stelle näher zu beschreiben sein - hier soll ein Schlaglicht genügen: Der bizarre, unheimlich unmenschlich wirkende Killer Chigurh (Javier Bardem) bekommt von den Coens schlicht eine ungemein alberne Frauenfrisur verpasst - und schon hat sich's mit dem metaphysisch Bösen.

Auf ganz andere, aber letzlich ähnlich effektive Weise räumte die dänische Doku THE MONASTERY mit dem Metaphysischen auf: Sie handelt von einem über 80-jährigen, einsiedlerischen Eigenbrötler, dessen großer Traum war, das Schloss, dass er einst günstig gekauft und zu seinem Heim erwählt hat, zu einem Kloster zu machen. Er bietet es schließlich dem Patriarchen von Moskau gleichsam als dänische Außenstelle für die orthodoxe Kirche an und wird daraufhin tatsächlich zur Prüfung der entsprechenden Eignung des Gebäudes von zwei russischen Nonnen besucht. Oder vielleicht besser: Heimgesucht. Denn die Schenkung hat so ihre Tücken, das Anwesen ist dringendst und umfassend renovierungsbedürftig und die Nonnen in Dingen wie Funktionieren der Heizung oder Wasserundurchlässigkeit des Dachs nicht zur bedingungslosen Askese bereit.
Vor allem aber wird der arme Herr Vig mit zwei Dingen konfrontiert: Mit seiner Einsamkeit und seiner Vergänglichkeit. Vig, der zunächst nur als Catweazel-hafter Kauz erscheint, wird zur tragischen Figur, sobald man kurze, aber beklemmende Einblicke erhält in seine lebenslange Absage an Zweisamkeit und Liebe (bei der ein Vaterkomplex und eine seltsame, möglicherweise auch damit zusammenhängende Phobie vor nicht wohlgeformten Nasen eine nicht unerhebliche Rolle zu spielen scheinen). Und nun also plötzlich diese Frau im Haus, Schwester Amvrosija, beide durch ihr Interesse an der Klostergründung aufeinander angewiesen, aber mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Zielen. Auch wenn Erotik in dieser Konstellation sowieso außen vor bleibt, und wenn vermutlich keiner der beiden es so nennen würde: Es entspinnt sich zwischen ihnen etwas, das in gewisser Hinsicht durchaus den Namen "Beziehung" verdient hätte, und zumindest eine Hassliebe.
In dem Erlebnis, wie das so ist, wenn man plötzlich alltäglich und in großer Nähe mit der Eigenheit und Andersartigkeit eines anderen Menschen umgehen muss, stößt Vig aber zugleich an etwas anderes: Den Kontrollverlust, die Erkenntnis, dass man nicht alle Dinge immer fest in der Hand halten kann. Ja, sein Schloss wird zum Kloster, aber alles läuft irgendwie anders, als er sich das vorgestellt hat, er kann nicht alle Bedingungen diktieren.
Und das ist existentiell schmerzhaft für Vig, nicht einfach weil er ein Sturkopf ist. Sondern weil das Kloster eigentlich sein bisschen Unsterblichkeit hätte sein sollen, weil in seinen Mauern und seiner Organisation wenigstens der Wille von Vig hätte weiterleben sollen, wo sein leibliches Leben nuneinmal endlich ist. Es geht bei den Punkten, die Vig durchdrücken will, nicht um Rechthaberei - mit jedem davon, wo er nachgeben muss, stirbt ein bisschen von seinem Plan und damit von ihm selbst.
Zugleich kann man in THE MONASTERY aber auch verfolgen, wie banal und alltäglich, wie ganz allein menschengemacht die Verrichtungen und Rituale sind, die aus einem verfallenden Gemäuer einen spirituellen, geheiligten Ort machen sollen. Dieses doppelte, in sich verschlungene Ringen um Transzendenz, um ein Reich der Seele jenseits des sterblichen Menschenkörpers, macht aus Pernille Rose Grønkjærs wunderbar unprätentiöser, warmherziger aber unnachgiebiger Doku einen großen Film über die Vergänglichkeit.

Dabei behält THE MONASTERY immerhin einen erklecklichen Rest an Tröstlichkeit: Weil man das Gefühl hat, dass Herr Vig spät, aber immerhin, doch noch einen gewissen Erkenntnisprozess durchmacht, weil sein großer Wunsch zwar im Detail anders als geplant, aber wenigstens generell in Erfüllung geht.
Nach einer solchen Tröstlichkeit sucht man in ELLE S'APPELLE SABINE lange und weitgehendst vergeblich. Wenn überhaupt, dann ist sie nur darin zu sehen, dass es Menschen gibt, die lieben und helfen und sich hingeben auch da, wo wenig bis keine Hoffnung auf Besserung besteht.
ELLE S'APPELLE SABINE ist ein dokumentarisches Porträt ihrer autistischen Schwester von der berühmten französischen Schauspielerin Sandrine Bonnaire. Es hat den Vorzug eines sehr persönlichen, nahen Blicks ohne den Nachteil einer reinen individuellen Betroffenheits-Schau, es wird zum wahrhaft großen Film durch die ergreifende Balance zwischen Schonungslosigkeit der Nähe und Schonungslosigkeit der Distanz: Bonnaire behält im Bewusstsein, dass Sabine eben auch ein Beispiel unter vielen ist, dass ihr Schicksal ganz konkrete Fragen aufwirft an Gesundheitspolitik, Pharmaindustrie, Psychiatrie. Aber Sabine wird ihr selbstverständlich nie zum reinen Exempel, es geht um sie als Mensch.
Oder als Rest von Mensch: Obwohl Sabine schon in jungen Jahren auffälliges Verhalten an den Tag legte, war sie da noch ein waches, lebendiges, lebensfrohes, hübsches, strahlendes Mädchen. Erst im Laufe der Zeit wurden die Symptome stärker, erst nach einer Familienkrise und vor allem nach einem dreijährigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik mit Anfang 20 wurden sie verheerend massiv - und vermutlich unumkehrbar.
Die heutige Sabine ist ein unförmiger, sabbernder, schlurfender Kloß von Mensch, mit verloschendem, verzweifeltem Blick, kaum fähig, ohne ihre Betreuer in einer kleinen Wohnanstalt für Behinderte etwas auf die Reihe zu bekommen.
Wieviel Schuld daran Behandlungsfehler in der Psychiatrie haben und die pharmakologischen Bomben, mit denen die nach außen störenderen Symptome zugedröhnt werden, das lässt sich nicht sicher beantworten. Allein der Verdacht, dass das jetzige Resultat zumindest teilweise vermeidbar gewesen sein könnte, reicht.
So oder so: Sandrine Bonnaire schneidet alte Heimvideos von Sabine gegen heutige Aufnahmen - und Worte können schwer beschreiben, wie erschütternd evident der fast völlige Verfall eines Menschen, eines Geists, einer Persönlichkeit in diesen Bildern wird.
Wenn Bonnaire nur erzählt, was ihre Schwester früher alles konnte, hat man noch den Schutzfilter, eine geschönte Erinnerung vermuten zu können. Wenn man die Teenagerin am Klavier ein Bach-Präludium spielen sieht und hört, nicht bühnenreif, aber zusammenhängend, geformt, Bewusstsein und Kontrolle verratend, und wenn man dann im Wechsel erlebt, wie die Frau vergeblich versucht, sich die selben Töne wieder zusammenzustoppeln, ein zerfasernder, halt- und kraftloser Versuch, der keine einende Mitte mehr erkennen lässt - dann hat man keine Fluchtmöglichkeit mehr vor dem schrecklichen Eingeständnis, dass ein Mensch KAPUTT GEHEN kann.
Und das, wie gesagt, ohne dass am Ende die überzeugende Hoffnung stünde, dass da je nochmal was wieder gut wird. Und nicht einmal diese Tür bleibt einem offen: Davon auszugehen, dass Sabine selbst nicht mitbekommt, was mit ihr los ist. In einer Szene führt ihr Sandrine ein altes Video von der Amerikareise vor, die sie einst - als Sabines Krankheit schon unübersehbar, aber noch beherrschbar war - gemeinsam unternommen hatten. Sabine fängt an zu weinen, Sandrine will das Video ausschalten. Nein, wehrt Sabine ab - es seien Tränen der Freude.
Nicht so, muss man sagen, beim Zuschauer.

Wenn es nach ELLE S'APPELLE SABINE - der ohne Zweifel der stärkste Eindruck von diesen zweieinhalb Tagen Viennale bleiben wird - noch einen Film gab, der einem den Glauben zumindest an die Möglichkeit des Sinns von Hoffnung zurückgeben konnte, dann AI NO YOKAN. Grade, weil sich an dessen Ende alles nur um ein paar Millimeter in Richtung einer Besserung, einer Heilung bewegt hat, und weil selbst dieser minimale Fortschritt so beharrlich errungen ist.
Kobayashi Masahiros Film handelt von der Mutter einer Mörderin und dem Vater des Mordopfers - die sich ein Jahr nach der Tat in der japanischen Provinz wiederfinden, er als Stahlarbeiter, sie als Köchin in der Kantine des Wohnheims, in dem er haust. Dort kreuzen sich ihre Wege täglich, und der Film - der die beiden Figuren anfangs in Verhörsituationen eingeführt hat, nun aber für lange Zeit der Sprache völlig verlustig geht - folgt schlicht ihren immer wiederkehrenden Alltags-Verrichtungen. Wie er zur Arbeit geht, wie er in den Speisesaal kommt und von dem gebotenen Menu nichts anrührt außer Reis mit rohem Ei, wie sie die Schüsseln sammelt und spült, wieder und wieder. Gelegentlich macht einer der beiden zaghafte Anstalten zur Aufnahme von Kommunikation, aber die werden vom anderen jeweils abgeblockt. Es bleibt bei: Die Arbeit, der Reis, die Schüsseln. Bis es schon zum Ereignis wird, wenn einmal die Sojaflasche am Tisch um ein paar Zentimeter verrückt steht.
Als Vergleich drängt sich scheinbar Chantal Akermans JEANNE DIELMAN, 23 QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES auf, aber was der Bezug auf diesen vor allem sichtbar macht ist, wie ganz anders AI NO YOKAN ist. Denn die Wiederkehr hier hat nichts Strenges, Zwanghaftes, Bedrückendes. Kobayashi Masahiro verfährt bei seinen Wiederholungen mit Variationen sehr frei und musikalisch, sie gehorchen keinem starren Prinzip, man hat das Gefühl - und das bewahrt den Film auch erstaunlicherweise, so ennervierend man ihn sich anhand einer bloßen Beschreibung vorstellen mag, davor, nervig, langweilig, gewollt zu wirken - das Gefühl also, dass sich die Kamera das Geschehen jedesmal von Neuem mit Neugier und Interesse anschaut.
Diese Routine ist nicht Zwang, sie ist Stütze - sie gibt den äußeren Halt, der erst die innere Bewegung erlaubt. Welche eben so ihre Zeit braucht. Und das ist das Schöne an AI NO YOKAN - dass er ihr frag- und klaglos diese Zeit gibt. Dass er, entgegen dem, was Filmdramaturgien uns normalerweise weis machen wollen, eben die Bewältigung einer Katastrophe nicht selbst als quasi katastrophisches, kathartisches EREIGNIS schildert, sondern als langen und stummen Prozess.

AI NO YOKAN war damit auch das genaue, aber irgendwie heilsame Gegenbild zum diesjährigen Viennale-Erlebnis: Denn Zeit und Muße waren, wie eingangs ausführlich dargelegt, genau nicht vorhanden. Immerhin, die Bilanz kann zwar nicht lauten "Mission Accomplished", aber der Teilerfolg kann sich sehen lassen: Rund ein Dutzend Filme geguckt. Fünf von sechs Festivalkinos aufgesucht. Von sieben Reihen gekostet.
Wozu es leider gar nicht gereicht hat: Das Drumrum, die Musik- und Diskussionsveranstaltungen, die Feiern. Die Kaffees oder Biere zwischendurch im Café Prückl. (Nicht, dass ich in zweieinhalb Tagen Wien ganz ohne Kaffeehausbesuch, Feiern und Bier darben musste, aber das ergab sich Viennale-unabhängig.)
Und das ist insofern schade, weil eben gerade das auch die Viennale ausmacht: Dass sie ein überschaubares, gemütliches Filmfest ist, das eine Mitte hat statt nur eines ausuferndes, zerfransenden Betriebs.
Sprich: Cineastisch lässt sich, dank der Qualitätsdichte, auf der Viennale auch in extrem kurzer Zeit viel mitnehmen. In der Hinsicht war die selbstgestellte Aufgabe recht zufriedenstellend gelöst. Das eigentliche Viennale-ERLEBNIS aber, das ist seiner Natur nach nicht in einen Schnelldurchlauf zu pressen.
Ein Ritual lebt nicht davon, dass man es nur einmal kurz und pro forma verrichtet. Es lebt von der hingebungsvollen Wiederholung. Die Viennale 2007 war für mich also eher wie ein nebenher hingemurmelter Rosenkranz denn wie ein ordentliches Hochamt: Denn eine wahre Viennale, wie ein wahres Ritual, die will nicht absolviert werden - sondern zelebriert.

Thomas Willmann

 

 
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