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04.01.2007
 
 
     
Fünf Höhepunkte aus dem zurückliegenden Kinojahr
 
Kaurismäkis LICHTER DER GROSSSTADT
 
 
 
 
 

Auf einen der größten Filme des Jahres mußte man bis zum Ende warten: Aki Kaurismäki hat mit LICHTER DER VORSTADT einen seiner kompromißlosesten und dichtesten Filme gemacht. Seit seiner „Schuld und Sühne“-Verfilmung aus dem Jahr 1984 hat man seine Amalgamierung des poetischen Realismus mit der formalen Konsequenz Bressons sowie mit Motiven aus dem Film Noir noch nie so wuchtig und überzeugend sehen können. Und eins sollte endgültig klar sein: Kaurismäki ist kein Humorist, sondern ein gnadenloser Dekonstruktivist von Heroismen aller Art, insbesondere eines postexistentialistischen Heroismus des Scheiterns. Die leeren Hülsen, die davon übrigbleiben, bekam man selten so klar und unnachgiebig vorgeführt wie hier.

Ein Film, den man leider so schnell nicht sehen wird in hiesigen Kinos und der nur auf Festivals lief: JUVENTUD EM MARCHA von Pedro Costa, das monumentale Werk eines kolossalen poetischen Materialismus, ein krudes, rohes Arbeiten mit dem Hell-Dunkel der digital aufgenommenen Bilder, die auf 35-mm-Kopie gezogen wurden – die Irrgänge eines Verlorenen durch das niedergerissene Elendsviertel der Kapverdianer in Lissabon und durch das klinisch wirkende Neubauviertel, in das einige der Slumbewohner umgesiedelt wurden – die wie zwischen Leben und Tod herumgeisternden Gestalten, die mit ihrer nicht von der Hand zu weisenden, ihrer nicht abzuweisenden physischen Existenz gleichwohl nur noch spukhaft wie Entseelte ihre Lebensgeschichten vermitteln können.

Ein Film vom Anfang des Jahres, ebenfalls von einer schroffen Unbedingtheit der Kinosprache geprägt, die sehr eigenwillige Verfilmung einer Joseph-Conrad-Novelle: GABRIELLE von Patrice Chéreau, eruptiv-dramatisch, den Film – wie das Chéreau immer macht – aufladend mit in schiere Körperhaftigkeit übersetzten Gefühlen und diese umsetzend mit scheinbar willkürlichen formalen Mitteln, die aber in ihrer geradezu gestischen, heftigen Ausdruckhaftigkeit eine Entsprechung zum Physischen bieten.

Ein Film, der kaum zu sehen war, da er nur sehr kurz im Kino lief: THE NEW WORLD von Terrence Malick, diese großartige Schilderung nicht des Naturzustands, sondern des immer schon kulturell kodierten Blicks auf den Naturzustand und der von dort ausgehenden Geschichte, ja des Dramas der Individuierung, dessen Endpunkt man wiederum in Sofia Coppolas etwas geschichtsvergessenem MARIE ANTOINETTE sehen könnte, wo man aber aus den Hohlformen des höfischen Zeremoniells bereits die romantischen (Un)Tiefen der bürgerlichen Subjektivität sich herausarbeiten sehen kann.

Ein Film schließlich, den man unterschätzen könnte: LA VITA CHE VORREI von Giuseppe Piccioni, der mit einer nur noch selten anzutreffenden handwerklichen Meisterschaft und einer im besten Sinne differenzierten Figurenpsychologie die bürgerliche Gefühlswelt des 19. Jahrhunderts als Resonanz- und Echoraum für heutige Beziehungsprobleme auslotet. Was dabei besonders besticht: die Geduld, der Respekt und die – altmodisch gesprochen – Delikatesse im Umgang mit Schauspielern und Figuren und deren Gefühlen. Piccioni versteht das Balancieren zwischen der im 19. Jahrhundert spielenden Film-im-Film-Handlung und der Gegenwartsebene der Dreharbeiten sehr gekonnt und bis ins Kleinste durchdacht in der Schwebe zu halten.

Wolfgang Lasinger

 

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