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14.02.2007
 
 
     
Berlinale 2007
Die Berlinale-Hülse
 
Reich an Brüll- und Jammerszenen:
der Eröffnungsfilm LA MÔME
 
 
 
 
 

Aaaahh... - dieser Moment kurz vor Beginn eines jeden Filmfestivals, wenn sich die Tage voller jungfräulicher Filme vor einem erstrecken wie ein traumhafter Pool an einem heißen Sommertag, und man kurz davor ist, aus dem realen Leben ab- und in diese unzähligen Schein- und Parallellwelten einzutauchen, und man schon meint, die Erfrischung und Ergötzung und Erquickung zu verspüren, die einem diese Immersion der Imagination verschaffen wird.

Um dann meistens nach drei, vier Tagen festzustellen, dass das Wasser nicht so kristallen und kühl ist, wie es an der Oberfläche aussah. Dass da allerlei Hornhautpflaster und Badekappen-Gummiblüten von behäbigen Rentnerinnen, Sonnenölschlieren von eitlen Midlifecrisis-Tangaträgern und verdächtig warme, gelbliche Stellen von unreifen Gören mit herumtreiben.

Die diesjährige Berlinale aber ließ sich eher an, als hätte, just war man elegant vom Beckenrand abgehoben, um einen genussvollen Köpfer hinein ins falsche Leben zu tun, jemand flux das Wasser abgelassen und durch feuchten Sand ersetzt.

Nun sind Filmfestivals immer seltsame Erlebnisse auf der Kippe zwischen Euphorie und Depression - zwei, drei recht belanglose Filme hintereinander reichen meist aus, um einen aus cineastischem Höhenrausch in die Sinnkrise zu stürzen und sich fragen zu lassen, was man da eigentlich grade macht mit seinem Leben. Wo man doch statt belangloser Filme daheim im Fernsehen Biathlon- oder Snooker-Übertragungen gucken könnte.

Aber selten habe ich erlebt, dass so eine Tief-Phase so früh eingesetzt, so lang angedauert und vor allem so sehr den Eindruck eines allgemeinen Phänomens statt nur einer persönlichen Pechsträhne gemacht hat wie dieses Jahr in Berlin.
Los ging's nämlich schon mit dem Eröffnungsfilm, LA MÔME (dt. Titel: LA VIE EN ROSE), einem französischen Edith Piaf-Porträt, das alle Unsäglichkeiten des Genres Biopic vereint: Da wird ganz viel gelitten und geweint und getobt und doch durch die Kunst über das Leben triumphiert - dabei aber nie greifbar, was das Besondere, das Eigentliche, das Bedeutsame dieser Kunst ausmachte. Wie überhaupt das Individuelle und Außergewöhnliche eines Lebens zu einer zweistündigen Aneinanderreihung typischer Genre-Bilder und -Szenen reduziert wird. Wobei sich Marion Cotillard als Piaf die Seele aus dem Leib spielt (und manchmal wirkt es genau danach - nach einer Schauspielerin, die sich müht, wie sie nur kann -, und manchmal ist sie tatsächlich drin in der Rolle und verschwindet hinter ihr). Aber der Film das wie Selbstzweck wirken lässt: Er ist begeistert vom "Wir spielen jetzt Piaf!" an sich, aber er macht nicht plausibel, was da an sonstigem Interesse dahinter- und drinsteckt.

LA MÔME ist, als an Brüll- und Jammerszenen reiches Biografie-Bild einer nationalen Ikone, ein Film von der Art, mit der man Oscars gewinnt. (Und nur um sicher zu gehen: Nein, das ist alles andere als ein Kompliment). Oder, genauer: Es ist ein Film, der wie die DARSTELLUNG eines typischen Oscar-Films wirkt. Das bloße Surrogat einer ohnehin schon fragwürdigen Gattung.

Damit war LA MÔME dann doch zumindest ein sehr passender, fast programmatischer Eröffnungsfilm: Die Berlinale 2007 wirkt zur Halbzeit wie ein Festival der Platzhalter und Platzfüller. Ein Festival der Filme, die vor allem eine gewisse Rolle zu spielen haben.
Freilich: Die Konkurrenz unter den großen Festivals um die üblicherweise raren großartigen Filme ist hart. Freilich: Kein Festival hat mehr den selben selbstbewussten Stand gegenüber Verleihern und Produzenten wie früher, als Festival-Teilnahmen und -Siege als Ritterschlag sich noch wirklich merklich in späteren Zuschauerzahlen niederschlug. Freilich: Es ist ein sehr sensibles und komplexes Geflecht der Interessen, die bedient werden müssen bei einem solchen Wettbewerb.
Aber die diesjährige Berlinale hinterlässt bisher den Eindruck, als wäre dieses Gehäuse, diese Hülse, die sich aus all den Zwängen und Erwartungen und Notwendigkeiten ergibt, inzwischen fast das einzige, was bei der Filmauswahl noch den Ausschlag gibt.
Man braucht US-Starkino, um was über den Roten Teppich treiben und die Boulevard- und Mainstreammedien anlocken zu können. Man braucht ein bisschen jungen deutschen Film. Ein bisschen Asien. Ein bisschen Betroffenheits-Weltkino. Was von französischen Altmeistern.
Und so wird gebucht, was in diesen Kategorien irgend zu kriegen ist, zur Not auch zweite Wahl; und so sind dann die üblichen Verdächtigen versammelt, die schon oft da waren und immer wieder gerne kommen, und die Neulinge, die das Glück hatten, grad eine noch freie Nische zu besetzen. Aber was bei alldem dieses Jahr noch kaum gesichtet wurde, das sind Filme, die offensichtlich laufen, weil sie packend, begeisternd, innovativ, kontrovers sind.

Freilich sind solche Pauschalaussagen immer mit Vorsicht zu genießen - zu ausschnitthaft, zufällig, subjektiv ist doch jeder Blick eines Einzelnen auf gerade so ein riesiges Festival. Aber wie gesagt: Es fühlt sich diesmal wirklich nicht so an, als handele es sich um ein bloß persönliches Problem.
Vielleicht kann dies, wenn nicht als Beweis, so zumindest als starkes Indiz dienen: Im "Tagesspiegel" vergeben täglich sechs Kritiker Kästchenwertungen für die Wettbewerbsfilme. Nach elf Filmen, und somit 66 Wertungen, zeigt die Tabelle nur viermal die Höchstwertung (dreimal davon für Robert De Niros CIA-Drama THE GOOD SHEPERD). So wenig Begeisterung war nie. Umgekehrt aber hat es dabei aber auch nur dreimal zum Negativ-Extrem gereicht. Und das ist das wirkliche Problem: Bisher steht man vor einem leidenschaftslosen Festival, dessen Filme einen schlicht lauwarm zurücklassen. Kaum einem kann man böse sein. Von kaum einem wird nach zwei Wochen noch viel in der Erinnerung übrig sein.

Gut: Man kann es keinem Festival verübeln, wenn es einen neuen Soderbergh-Film zeigt, oder den aktuellen Park Chan-wook - wer würde da im Zweifelsfall nicht auch blind zugreifen?
Dass sich dann das Experiment, den im Nachkriegsdeutschland spielenden THE GOOD GERMAN in der Ästhetik des '40er-Jahre Hollywoodkinos zu inszenieren, als hübsches Futter für Seminararbeiten rausstellt, aber ein sehr kühles und trockenes Filmerlebnis - wer wollte das ahnen? Und dass Park Chan-wook, dem wir daheim schon dabei waren, einen kleinen Anbetungsschrein einzurichten, mit seinem I'M A CYBORG, BUT THAT'S OKAY einen Film hinlegen würde, den wir über zwei Drittel hinweg ziemlich mühsam, albern und gewollt empfinden würden, das hätten wir ja selbst nie und nimmer geglaubt, solange wir's nicht am eigenen Sitzfleisch erlebt hätten.
Insofern leidet die Berlinale diesmal halt einfach auch an den Unwägbarkeiten eines Filmjahrgangs - nicht jeder bringt eine gleich hervorragende Ernte.

Und: An dies oder jenen tollen Film wegen verleih- oder festivalpolitischer Gründe nicht ranzukommen, ist Pech. Aber wo ein Festival dann Größe und Rückgrat zeigen müsste, wäre zumindest darin, im richtigen Moment auch mal "Nein" zu sagen zu etwas, das zu haben ist.
Dass die Berlinale in ihrer Gier danach, IRGENDWAS als Weltpremiere zeigen zu können, was nach Hollywood aussieht, sich dazu hat hinreißen lassen, 300 ins Programm zu nehmen (in den Wettbewerb, aber außer Konkurrenz), ist unverzeihlich. (Und der wohl beste Beweis unserer These.)
Hier zieht ja noch nicht einmal das Rote-Teppich-Argument: Zack Snyder (DAWN OF THE DEAD-Remake) ist wahrlich kein so bekannter und bedeutender Regisseur, Gerard Butler nun wirklich kein so großer Star, dass man um ihrer Anwesenheit willen auch mal einen Drecksfilm zur Diskussion stellen könnte.

Dann aber kann man nur hoffen, dass die Berlinale den Film vorher nicht zu Gesicht, sondern vom Studio aufgedrückt bekommen hat. Das wäre immer noch die weniger peinliche Variante, als dass sich das Festival mit diesem im antiken Sparta angesiedelten, lächerlich unbeholfenen Irakkriegs-Durchhalte-Propagandastreifen (oder Irankriegs-Vorbereitungs-Propagandastreifen) identifizieren kann. Das Ding wirkt in etwa, als hätte Veit Harlan ein zweistündiges Man'o'War-Video inszeniert, eine unheilige Allianz aus faschistoider Geisteshaltung und peinlich pubertärer Ästhetik. Deren einziger Vorzug ist, nun wirklich derart plump daherzukommen, dass jegliche Gefahr einer beeinflussenden Wirkung auf ein resthirnbesitzendes Publikum beruhigt auszuschließen ist.

Jetzt war der Wettbewerb in den letzten Jahren zugegebenermaßen regelmäßig nur noch nominell und nicht mehr qualitativ das Aushängeschild der Berlinale. Die Glücksgefühle holte man sich als Cineast schon länger lieber in den "Nebenreihen".
Das Seltsame und langsam Frustrierende an dieser Berlinale ist aber, dass diesmal auch auf diese Reihen die Lust- und Lieblosigkeit auszustrahlen scheint. Auch in Forum und Panorama sieht man beispielsweise Filme wie AD LIB NIGHT, FACES OF A FIG TREE oder KAIN'S DESCENDANT, die brav die Rolle des etwas eigenwilligen, etwas poetischen asiatischen Films spielen - und darin fast ununterscheidbar von Dutzenden anderen Festival-Futter-Filmen aus Korea und Japan sind, ohne dass sie etwas herausheben würde, im Herz oder im Gedächtnis verankern würde.
Die Berlinale 2007 ist bisher ein Festival auf der Suche nach einem Gesicht, einem Profil. Sie ist ein gut geölter, ordentlich laufender Betrieb ohne besondere Vorkommnisse. Eine sauber gefüllte äußere Struktur, deren Inhalt weitgehend blass und indifferent bleibt.

Bevor jetzt aber die Daheimgebliebenen, die geregelten Tätigkeiten nachgehen anstatt anderthalb Wochen im Kino zu sitzen, anfangen Spendenkonten einzurichten für uns aaaaarme Berlinale-Besucher: Noch sind dann immer wieder genug Perlen dabei, um den Durchhaltewillen besser zu stärken, als es jedes "Freedom and Honor"-Gebrülle spartanischer (spartakanischer? spartianischer? gesparter?) Hauptmänner könnte. Und um der Sinnfrage ein entschiedenes "Darum!" ins hinterhältige Gesicht schleudern zu können, bevor sie einem zu sehr aufs Gemüt schlagen kann.
Von all den schönen Filmen soll dann aber das nächste Mal die Rede sein. Da haben wir dann alle was, worauf wir uns freuen können...

Thomas Willmann

 

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