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02.11.2006
 
 
     

Viennale 2006

  Dünne Membran zwischen Film
und wirklicher Welt
 
 
 
 
 

Expeditionen ins Zwischenreich

"Viele blede Filme sehn vahindert eigenes Nochdenken," hat jemand mit rotem Filzstift und krakeliger Schrift auf die weiße Viennale-Werbesäule vor dem zentralen Ticketverkauf am Stubentor geschrieben.
Das passt einerseits sehr gut zur Viennale: Die altrevolutionäre Besorgnis, die Angst vor Volksopiaten, der implizierte Glaube an die Notwendigkeit des Aufstands atmet etwas vom ebenso unverkennbaren wie ungezwungenen politischen Geist des Festivals. Nur paranoid verkürzt und, äh, ästhetisch eher unreflektiert.
Andererseits passt es auch wieder gar nicht: Weil die Viennale wirklich nicht das Filmfest ist, wo besonders viel "blede" Filme liefen. Weil hier meist das beliebte Deutsch-Schulaufsatz-Fazit passt, dass der Autor den Leser (respektive Regisseur das Publikum) "zum Nachdenken anregen" wolle.
Die Filzstift-Botschaft schrammt trotzdem knapp an etwas Treffendem vorbei: Zumindest für die Lauflänge des Gezeigten "vahindert" Kinogehen tatsächlich Aktion in der Realität. Filmeschauen, stilles Sitzen im dunklen Raum, ist und bleibt erstmal Weltflucht. Egal, womit man sich inhaltlich dabei konfrontiert. Der Besuch eines Filmfestivals ist - selbst (oder gerade) wenn man ihn vorgeblich professionell betreibt - nicht zuletzt ein kleiner Urlaub von der Realität. Ein Abtauchen von einer Scheinwelt in die nächste, mit nur kurzem Luftholen in der Alltagswirklichkeit.

DOPPELBELICHTUNG #1: DIE STADT UND DER FILM

Aber auf der Viennale scheint die Membran zwischen Film und wirklicher Welt dünner als auf anderen Festivals. Da gibt es viel mehr Schnittmenge, viel mehr Bereiche, wo (in beide Richtungen) das eine in das andere überstrahlt.
Hier hockt man nicht vorwiegend isoliert in einem Multiplex, abgeschottet von der Außenwelt. Die fünf Festivalleinwände (bzw. sechs, mit dem ganz der Retro gewidmeten und sich etwas separatistisch gebärdenden Filmmuseum) sind auf ebensoviele Kinos verteilt, und diese quer durch die Innenstadt verstreut. Eine Viertelstundendosis wahres Leben bekommt man also meist selbst bei eng kalkulierten Filmkalender zwischen zwei Vorführungen ab, während man von Spielstätte zu Spielstätte hastet, quer durch das Treiben der Stadt.
Und die Viennale ist frei von Markt- und Branchengeschwurle. Es gibt keine eigenen Vorführungen für Akkreditierte, es gibt keinen Filmmarkt, es gibt kaum Filmemacher auf der Suche nach Produzenten. Das Ganze ist wirklich viel mehr ein Fest als ein Betrieb. Gefeiert wird hier nicht auf Verleihempfängen oder Premierenpartys, sondern (fast) allabendlich bei (im doppelten Sinne) freiem Eintritt für jedermann in der Viennale-Zentrale.
(Nebenbemerkung: Wenn ein Verbesserungsvorschlag gestattet ist an unser Lieblingsfestival, dann sei es bitte der, in dieser Viennale-Zentrale doch wieder richtiges, trinkbares Bier zum Verkauf anzubieten und nicht nur dieses ganz und gar greislige Ottakringer-Gerstenlimo "UO". Dann kommen und bleiben wir auch wieder öfters und gern zu den Veranstaltungen dort. Versprochen.)
Vor allem aber ist das Publikum hier zugleich so viel normaler UND experimentierfreudiger als anderswo: Verblüffend hoch der Anteil junger, attraktiver Menschen, die wirken, als hätten sie auch ein Leben außerhalb des Kinos. Die aber trotzdem zu Hunderten in oft echt schwierigen, abseitigen Streifen hocken. Und diese aufgeschlossen betrachten. Manchmal wundert's einen da selbst als Cineast, was da alles ausverkauft ist. (Nur zum Vergleich: Die Viennale hat von den Besucherzahlen her - dieses Jahr knapp 90.000 - etwa die gleiche Größenordnung wie das Münchner Filmfest - aber wie gesagt nur fünf(einhalb) Leinwände...)
Wien und Viennale, Stadt und Festival, Film und Leben geben sich viel stärker die Hand als Filmfeste andernorts. Und das ganz ohne roten Teppich und durchreisenden Hollywoodstars. Dafür wehen vom Wiener Rathaus die Viennale-Banner.

ZWISCHENBERICHT 1: WIE DIE TIERE
Den eigentlichen roten Faden dröseln wir gleich aus dem diesjährigen Festival heraus. Daneben spann sich aber noch ein heimlicher durch das Filmangebot: Coole Tiere. Der uneimliche weiße Makake in CHANG, das schöne Pferd in ÇA BRULE, der fette, von einem Stuhl herabplautzende Hund in HIS BIG WHITE SELF, der verteufelte, aber eigentlich tragische Leopard in EN DJUNGELSAGA...
Wie zum Beweis aber, dass Film und Leben hier nahtloser ineinander übergehen als anderswo, spazierte im Pressezentrum, das im Hilton untergebracht war, ein Hund durch die Korridore, der jederzeit als Lassie-Double durchgegangen wäre. Weil aber sein Frauli die Protokollchefin der Viennale war, hatte das Wauli (bürgerlichen namens Harald, wenn wir uns richtig erinnern) eine Akkreditierung am Halsband - die ihn als den "Protocollie" auswies.
Neidlos ziehen wir tief den Hut vor dieser Wortspielgroßtat.

DOPPELBELICHTUNG #2: WEIßER RIESE

Es mag ein klassischer Fall des Roten-Opel-Syndroms sein (kauf' Dir einen roten Opel, und plötzlich siehst Du auf den Straßen scheinbar überall rote Opel). Also eine Wahrnehmung, die durch eine plötzlich erlangte Aufmersamkeit überall etwas entdeckt, was vorher genauso, nur unbeachtet da war. Aber wenn diese Viennale für mich ein unterschwelliges Thema hatte, dann war es eben das des Zwischenreichs, des Grenzlands: Zwischen Film und Welt, zwischen Film und Film, zwischen dem Gezeigten und dem Ungesagten.
Siehe ein frühes Highlight des Programms: Nick Broomfields HIS BIG WHITE SELF. Als Doku ja sowieso zwangsläufig mit Realität und deren Abbild, Abbildbarkeit befasst. Aber auch ein Dialog mit einem älteren Werk Broomfields, THE LEADER, HIS DRIVER AND THE DRIVER'S WIFE. 1991 hatte er darin Eugene Terre'Blanche porträtiert, den Anführer einer faschistoiden (und zunehmend gewaltbereiten) Widerstandsbewegung weißer Afrikaaner gegen das Ende der Apartheid in Südafrika.
Was sich seither nicht geändert zu haben scheint: Terre'Blanche und die Seinen sind immer noch paranoide, ultrabornierte, rabiat religiöse, schmerbäuchige Männer, persönlichkeitsgestörte Kleinbürger mit zutiefst verunsichertem Selbstwertgefühl, die aus ihrer Begeisterung für Pfadfinderabenteuer nicht herausgewachsen sind. Nur können sie aus ihren kruden Militärspielchen jetzt keinen blutigen Ernst mehr machen, und ihre wirre Ideologie hat in Südafrika ausgedient.
Die rund 15 Jahre zwischen damals und heute erzählt Broomfield, meist mittels Archivaufnahmen, von außen, als historisch-politische Geschichte des Landes. Die Anfangs- und Endstation aber sind private Psychogramme. In den Ausschnitten aus THE LEADER... sind Menschen zu sehen, die ihre verqueren Fantasien ausleben dürfen in einer Welt, die sich weit genug ihren Vorstellungen beugt. In HIS BIG WHITE SELF erlebt man Menschen, denen man gleichsam den Boden unter den Füßen weggezogen hat, die aber von ihrem offiziell abmontierten Weltbild nicht lassen wollen, können.

Der "Führer" bleibt in HIS BIG WHITE SELF eine schwer zu greifende Figur - er sträubt sich lange gegen ein Interview. Hauptperson ist sein (ehemaliger) Chauffeur. Das große Rätsel ist, warum der - obwohl er schwer im Verdacht steht, nach dem ersten Film Bombendrohungen auf Broomfields Anrufbeantworter hinterlassen zu haben - sich dem Filmemacher jetzt erneut öffnet, als Beobachtungsobjekt vor die Kamera stellt. Die beste Vermutung: Weil er insgeheim ungeheuer gefallssüchtig ist. Und Broomfield doch noch auf seine Seite ziehen, oder ihm zumindest sympathisch werden möchte. Wie ein kleiner Lausbub guckt der dickliche, alternde Mann den Dokumentaristen nach fast jedem Satz an: Nimmst Du mir diese Flunkerei ab? War das jetzt ein gutes Statement? Bitte, lobe mich dafür! Oder sag' wenigstens: Da warst Du aber frech, Du Schlingel!
Das wirkt oft komisch - bis dann wieder klar wird, dass dieser Mann Bomben gebaut, Leute getötet hat. Und auch dies ihm noch immer wie ein gelungener Bubenstreich scheint. Und er vermutlich bereit wäre, es wieder zu tun. Wenn er sich trauen dürfte. Selten hat man das Klischee von der "Banalität des Bösen" so erschreckend evident vorgeführt bekommen.

Seltsamerweise beschleicht einem im Laufe von HIS BIG WHITE SELF das Gefühl, dass die radikale Veränderung der äußeren Umstände gar nicht soviel Unterschied macht für die Protagonisten. Terre'Blanche hat jetzt weniger Publikum und Macht, klar, und er hat eine langjährige Gefängnisstrafe abgesessen. Aber um so besser kann er es sich in seiner Rolle des Märtyrers für die große Sache bequem machen, kann sich verfolgt und missverstanden fühlen. Der Chauffeur aber war und bleibt, so hat's den Eindruck, ein unsicherer Mitläufer, der sein Fähnchen nach dem Wind hängt.
Seine Festigkeit im Leben nimmt er sich von Autoritäten - und glaubt sich mit seinem Rassismus dank einer eigenwilligen Bibelauslegung auf der richtigen Seite. Denn nichts beschwichtigt solch einen armseligen Erdenwichtel so sehr, wie wenn er seine ultimative Legitimation aufs Transzendente schieben kann.
Was der Film aber auch schön zeigt: Wie abgeschottet gegen die Realität solche Glaubenssysteme bleiben müssen, weil sie eben zugleich felsenfest und ultrafragil sind. Die jetzige Frau des Chauffeurs kriegt fast einen psychischen Zusammenbruch, als im Gespräch klar wird, dass Broomfield keineswegs von der wortwörtlichen Wahrheit der Bibel überzeugt ist - es ist für sie weltbilderschütternd undenkbar, dass es solche Leute überhaupt gibt.

Die "DRIVER'S (inzwischen: Ex-)WIFE" aus dem ersten Film wird am Ende zur unerwarteten Verkörperungs eines reichlich unromantischen Prinzips Hoffnung: Dass sie die Welt wieder gern zurück hätte wie früher, daran lässt sie keine Zweifel. Dass sie die Schwarzen nicht als gleichartige, gleichwertige Menschen ansieht klingt bei ihr zwischen den Zeilen mehr als deutlich durch. Aber im Gegensatz zu den Männern scheint sie keinen Hass in sich zu haben. Und sie passt sich an. Ganz zum Schluss erfährt man, dass sie Krankenschwester ist. Man sieht, wie sie in der Notaufnahmen einem kleinen schwarzen Buben eine Wunde im Fuß näht. Freundlich und professionell. Weil es ihr Job ist. Eine schwache, sicher nicht ethisch-moralisch hochstehende Basis für Menschlichkeit. Aber besser als keine.

ZWISCHENBERICHT 2: VON DER ROLLE
Fundstück auf dem Herrenklo des Gartenbaukinos: Da prangte in einer der Kabinen ein kleiner Aufkleber "filmtipps.at - und Hollywood kann schei... gehen."
Ich finde das zeigt sehr schön, wie trefflich in Wien die Cinephilie eine Abwendung vom Mainstream dennoch mit Volkstümlichkeit einher gehen lassen kann.

DOPPELBELICHTUNG #3: SCHWESTER, SCHWESTER

Den Blick auf das "Dazwischen" lenken, das kann jede Filmreihe. Fast automatisch wird man da verleitet, die Werke nicht isoliert zu sehen, sondern die Ähnlichkeiten und Differenzen, die Entwicklungen und Brüche vom einen zum anderen wahrzunehmen.
Die Viennale wäre nicht die Viennale, wenn sie da nicht einen zusätzlichen Dreh fände. "Sisters Act" war ein Tribut an gleich zwei Schauspielerinnen, die Schwestern Joan Fontaine und Olivia de Havilland, und so spannte das Programm gleich ein ganzes Koordinatensystem auf, in dem man Verbindungslinien ziehen konnte.

Parallell zur naheliegenden Ebene des Vergleichs der beiden Schwestern verlief eine chronologische Achse: In der (gemessen an den umfangreichen Filmografien der beiden Stars) kleinen, aber ungemein gelungenen Auswahl konnte man sowohl zwei Frauen beim Reifen und Altern zusehen, als auch ein ganzes System und eine Ästhetik des Filmemachens im Umbruch erleben. Denn die Reihe war auch eine Geschichte Hollywoods in Miniatur.
Zwei der am weitesten entfernten Stationen als Beispiel: Im Errol Flynn-Klassiker THE ADVENTURES OF ROBIN HOOD (1938), einem Triumph aus der Hochphase des klassischen Studiosystems, ist de Havilland noch ganz ein dekoratives Element. Das frühe Technicolor lässt ohnehin alles unwirklich werden, macht Menschen zu bunten Traumfiguren. Und das Makeup tut sein Übriges dazu, dass de Havillands Gesicht zu einer glatten, bleichen Fläche wird, aus der nur ein wie aufgemalt wirkender, knallroter Mund hervorleuchtet und zwei fast grafisch schwarz-weiße Augen blicken.
Am anderen Ende des Spektrums Anatol Litvaks THE SNAKE PIT von 1948. Hier wird die Menschlichkeit von de Havillands Gesicht zum Spektakel. Es ist ein schwer oscarheischendes Drama um eine psychisch kranke Frau, aus einer Phase, als in Hollywood der Freudianismus Mode war. Und als offenbar einige Regisseure schon vage Wind bekommen hatten vom Neorealismus, der durchs europäische Kino fegte. De Havilland agiert (scheinbar) ungeschminkt, sieht nicht nach den Anfang 30 aus, die sie damals tatsächlich war, sondern gut zehn Jahre älter. Die Kamera ist fasziniert davon, was sie nun alles an Spuren, Dimensionen, Beweglichkeit entdecken kann in diesem Gesicht, nachdem der Glamour abgebeizt wurde.
Es ist ein Schock des "Hässlichen" (das Normale empfindet Hollywood gemeinhin als schrecklich unattraktiv), der einen da ergreift. Dieser ist nicht minder bewusst auf einen Oscar hin kalkuliert und künstlich inszeniert als beispielsweise Charlize Therons Auftritt in MONSTER. Aber in ihm kündigt sich dennoch schon mehr an: Der dräuende Aufbruch einer neuen Ästhetik auch im US-Kino, die ihre Aufgabe nicht mehr im Erschaffen von Traum- und Parallellwelten sah.

Damit war auch noch mindestens eine dritte Achse durch diese Filmreihe gespannt: Eine der Ferne und Nähe zur wirklichen Welt.
Joan Fontaine ließ dabei, scheint mir, von Haus aus eher den Menschen hinter den Masken erahnen. (Zwei Masken sind es mindestens in jedem Film - die der Rolle, und die des Stars, ihres Images.) Da gibt es in den meisten ihrer Filme zumindest ein paar Einstellungen, wo man glaubt sich vorstellen zu können, wie diese Frau ohne Make-up, ohne Studiolicht, ohne Kamerafilter aussieht, wenn sie privat morgens aufwacht.
Das machte sie so geeignet für einen Film wie FROM THIS DAY FORWARD (USA 1946, Regie: John Berry): Eine echte Entdeckung, ein verblüffendes Stück "Sozialrealismus" made in Hollywood, wie es wohl nur kurz nach dem Krieg möglich war. Offensichtlich ist das Ding ein als Melodram verpackter Werbefilm für die US-Arbeitsvermittlung, ein Lehr-, Rühr- und Beruhigstück über einen heimgekehrten Soldaten, der - ohne eigenes Verschulden, durch diverse widrige Umstände - nun ohne Job dasteht und deshalb so langsam sein Leben und seine Ehe den Bach runtergehen sieht. Da wird er dann schon auch mal ungehalten, wenn er bei der Arbeitsvermittlung noch und noch ein Formular ausfüllen soll, oder seine Vita und die Komplexität seiner Schicksalsschläge einfach nicht konform in deren paar Felder gestutzt kriegt. Klar, am Ende kann dem Manne geholfen werden und alles wird gut. Aber wie schön der Film bis dahin alles erzählt, da kann man nur sagen: Bundesagentur für Arbeit, sieh' und neide!
Was FROM THIS DAY FORWARD so stark wirken lässt ist, dass er an sich ganz die Ästhetik eines typischen Hollywood-Studio B-Pictures der '40er hat - er aber Sachen zeigt, die man in dieser Ästhetik nicht zu sehen gewohnt ist. Das geht schon mit den Titeln los - alles deutet auf ein gewöhnliches Melo hin, aber hinter der Vorspann-Schrift und zur schmalzigen Musik ist ein Stadtpanorama zu sehen, das da nicht hinzugehören scheint: Es ist die Bronx - damals ein Viertel der Arbeiter, Einwanderer, unteren Mittelschicht.
Und dann entspinnt sich da eine Liebesgeschichte, die ständig bedrängt und behindert und geplagt ist von Sorgen um Geld und Wohnraum, wo die Zeit für die Zweisamkeit und der Ort für Intimitäten erst einmal erworben werden müssen. In einem europäischen Film der 1960er würde einen nichts davon verblüffen. Aber es mit Semi-Starbesetzung und dem "Look & Feel"-eines klassischen Hollywood-B-Films zu erleben, das lässt es plötzlich frisch und aufregend erscheinen.

Überhaupt war in dieser Reihe öfter zu spüren, dass Kino nicht unbedingt da am spannendsten ist, wo es komplett eigene Fantasie-Welten schafft oder versucht, die reale möglichst getreu abzubilden. Sondern da, wo das eine in das andere eindringt, wo es Schnitt- und Reibungsfläche zwischen diesen beiden scheinbar unvereinbaren Konzepten gibt.
Wie eben in FROM THIS DAY FORWARD oder Ida Lupinos THE BIGAMIST (1953), der auch für einen Hollywoodfilm seiner Ära ungewohnt viel unglamouröses, echtes Leben einließ. Aber auch Nicholas Rays BORN TO BE BAD (1950), bei dem es eher das unterschwellige Gefühl von etwas Dunklem, Bitterem ist, das sich in ein eigentlich recht konstruiertes High Society-Drama einschleicht. Da spürt man schon, dass all das, wovon Zensur und Konventionen noch nicht offen reden lassen, kurz vor dem Ausbruch auf die Leinwände steht.
Wobei das Gefühl von... "Realismus"? "Authentizität"? "Wahrheit"? Nun, wie immer man es auch nennen mag - es jedenfalls unabhängig vom narrativen Inhalt der Filme ist: HOLD BACK THE DAWN (1941, Regie: Mitchell Leisen, Drehbuch: Charles Brackett & Billy Wilder!) handelt vom Versuch europäischer Emmigranten, über die mexikanische Grenze in die USA zu kommen. Aber wie viele Hollywood-Filme, die sich bewusst real aktuellen Themen der Zeit annehmen, war das gerade einer der hermetisch künstlichsten Werke der ganzen Reihe. Das typische Phänomen bei Filmen mit einer Botschaft, einem Anliegen: Die Automatismen des Erzählens, die Konventionen der Darstellung, die Mechanik der Emotionalisierung überrollen, übertönen alle Wahrhaftigkeit.
Was jetzt nicht heißen soll, dass klassisches, künstliches, manipulatives Erzählkino nicht auch ein großer Genuss sein kann: Nur zu gern habe ich mich Mitchell Leisens Mutter-Melodram TO EACH HIS OWN (1946, mit de Havilland) hingegeben und am Ende das Taschentuch gezückt. Und THE STRAWBERRY BLONDE (1941, ebenfalls mit de Havilland), eine entzückende und dank Raoul Walsh als Regisseur nie zu zuckrige Fantasie vom New York der Jahrhundertwende, eine Ode an eine Gute Alte Zeit, die es freilich nie gab, war einer der glücklichmachendsten Filme der ganzen Viennale.

ZWISCHENBERICHT 3: GEBIRGS-EXKURSION
Als wäre die Viennale selbst noch nicht Beweis genug dafür, was für eine beneidenswerte Kinokultur in Wien (noch) herrscht: Ganz unbeeindruckt von der großen Sause zeigten die Breitenseer Lichtspiele weiter eine der unglaublichsten, phänomenalsten, großartigsten Reihen, die je ein Kino zu programmieren wagte. Und zwar eine rund fünfmonatige Gesamtschau der deutschen Unterhaltungsfilmserien der '60er, '70er. Alle Edgar Wallace-Filme, alle Karl May-Verfilmungen, der komplette Jerry Cotton, Report-Filme, Lümmel-von-der-ersten-Bank, Report-Softsex, Erich von Däniken, Johannes Mario Simmel, Ganghofer - einfach alles, inklusive einer Harald Reinl Werkschau.
Die Breitenseer Lichtspiele sind das älteste Kino Wiens, und sie sehen innen auch wirklich noch so aus, wie man sich Dorfkinos vor 50 oder 100 Jahren vorstellt. Betrieben werden sie von einer älteren Dame, deren Begeisterung für Film und deren Schneid offenbar alles in den Schatten stellen, was man von Kinematheken-Chefs kennt.
Denn das Tragische an der Sache: Die Breitenseer Lichtspiele haben kaum Publikum. Und selbst eine Großtat wie die hier präsentierte, eine solche Wahnsinns-Reihe, die in ihrem Umfang alles verblassen lässt, an was sich ein gewöhnliches Filmmuseum wagen würde, und die an anderem Spielort ein gewichtiger Beitrag zur langsam mal überfälligen Neubewertung der deutschen Nachkriegs-Filmgeschichte darstellen würde - tja, selbst die findet kaum Zuspruch.
"Ich wollt' nur sagen: Wir haben Leute," wird hochtelefoniert, wenn sich Zuschauer eingefunden haben - so unselbstverständlich ist das offenbar.
Gemeinsam mit dem verehrten Herrn Knepperges habe ich mir eine Auszeit von der Viennale gegönnt und eine Exkursion in die Breitenseer Lichtspiele unternommen. Wir beide haben die Publikumszahlen glatt verdoppelt.
Aber gelohnt hat sich's - Harald Reinls SCHLOSS HUBERTUS-Verfilmung stand auf dem Programm. Und die ist einer der rasendst erzählten Filme, der mir je unter die Augen gekommen ist. In rund 90 Minuten wird da der enorm personen- und handlungsreiche Ganghofer-Roman durchgehechelt - alles ist aufs Nötigste verknappte Information; etliche der Neben-Charaktere haben gerade mal Zeit für einen Auftritt, indem sie sich und ihr Problem einführen können, und einen zweiten, indem sie dahinscheiden.
Nur wenn der alte, manische Graf auf die wacklige, sich gefährlich durchbiegende 60-Meter-Leiter steigt, um das Adlernest auszuheben, da lässt sich der Film Zeit für Action und Spannung als Selbstzweck.
Übrigens: Auch hier viele Tiere. Vor allem Gemsen. Welche - Tierfreunde bitte kurz weglesen - eindrucksvoll vor laufender Kamera waidmännisch zur Strecke gebracht werden und die Berghänge herabkrachen. Ethisch nicht einwandfrei, klar, aber als Spektakel dennoch atemberaubend. "No animals were harmed..."-Hinweise im Abspann kannte man damals noch nicht...

HEART OF DARKNESS: DSCHUNGELBRUCH
Einer der nach außen hin sichtbarsten Bestandteile der diesjährigen Viennale war die "Tales from the Jungle"-Reihe: Nicht nur wegen der Lichtinstallationen, die an verschiedenen Orten in Wien passend zum Dschungelthema zu sehen waren, sondern auch, weil die diesjährige Viennale-Tasche anläßlich dieser Reihe im gefakten Reptilienleder-Look daherkam. (Dafür gab's von dem begehrten Kultobjekt diesmal nur ganze 100 Stück, mehr wollte der Sponsor nicht rausrücken, was schon am zweiten Festivaltag zu herzzerreißenden Szenen der Enttäuschung bei den leer ausgehenden Akkreditierten führte.)
Leider trat dieses Special dann den Beweis an, dass eine Ansammlung guter (bis hervorragender) Filme noch keine gelungene Reihe ergeben. Das Thema - der Mythos Dschungel im Film - war einfach zu umfassend gewählt, um bei nur einem guten Dutzend gezeigten Werken nicht fast zwangsläufig den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit aufkommen zu lassen. Grade die Vielfältigkeit innerhalb des kleinen Angebots machte da einen Strich durch die Rechnung - zu verstreut über Nationen, Jahrzehnte, Genres, Stilrichtungen war das, um die Werke untereinander quasi über den Austausch von Allgemeinplätzen hinaus ins Gespräch zu bringen: Der Dschungel ist ein Ort von Mythen, Sex, Gefahr und Fremdheit. Je nun.

Das ändert aber nichts daran, dass in dieser Reihe einige der für sich allein genommen großartigsten Filmerlebnisse des Festivals zu finden waren. Und zwei davon waren "inszenierte Dokumentationen", oder "ethnografische Spielfilme", oder wie immer man es nennen mag, wenn Filmemacher in "exotische" Länder aufbrechen, um das Leben dort festzuhalten, sie aber dazu mit den dortigen Menschen in (meist) deren tatsächlichen Alltagsumgebungen Geschichten in Szene setzen, die sich die abendländischen Expediteure hübsch ausgedacht haben.
Aus heutiger Sicht sollte man das freilich alles ganz bäh und unmöglich finden, und ideologisch unter aller Sau. Bilder-Imperialismus der übelsten Sorte. Und so weiter und so fort. Was ja stimmt - es gibt gute Gründe, warum heute solche Vorgehensweisen verpönt sind und sich Dokumentarfilme in andere Richtungen entwickelt haben.
Aber, holla die (Ur-)Waldfee: Was sind CHANG und EN DJUNGELSAGA für umwerfende Filmerlebnisse! CHANG (1927) zeigt Merian Cooper und Ernest Schoedsack, die später durch KING KONG legendär wurden, noch ganz als Mischung aus Abenteurer, Filmpioniere und Show-Impressarios. Mit einer phänomenalen Beherztheit haben sie sich im damaligen Siam breitgemacht und unter anderem ein ganzes Dschungeldörfchen bauen lassen, nur damit es zum Höhepunkt des Films von einer Elefantenherde in Grund und Boden gestampft werden konnte.
Es ist die Verbindung von inszenierter Story und realer Gefahr, von menschgemachtem Drama und "natürlicher" Aktion der Tiere, die den Film so atemberaubend macht. Freilich steckt viel Skrupellosigkeit darin, wie hier mit dem Dschungelwild umgegangen und wohl manchmal auch die leibliche Unversehrtheit der Einheimischen aufs Spiel gesetzt wurde. Aber das Ergebnis hat eine überwältigende Kraft, die anders nicht erreichbar gewesen wäre. Und seltsamerweise lässt das alte, schwarzweiße Stummfilmmaterial die geisterhaften Geschöpfe auf der Leinwand viel realer wirken, als es heutigen Tierfilmen gelingt.

EN DJUNGELSAGA, dreißig Jahre später entstanden, hat einen weniger spekulativen Tonfall, atmet mehr etwas von beflissen-bürgerlichem Bildungsanspruch. Was einfach auch an dem schwedischen Voice-over von Arne Sucksdorff Film liegt, der bedächtig und etwas possierlich klingt und nach einer Zeit, als redliche Filmexpediteure noch an die völlige Erklärbarkeit der Welt und die gottgegebene Unhinterfragbarkeit ihres eigenen Blicks glaubten. (Die Einheimischen reden zwar in diesem Film, aber nie wird direkt übersetzt, was sie sagen - sie haben keine eigene Stimme.)
Hier ist es quasi umgekehrt wie in CHANG: Das Agascope-Breitwandformat und das wunderschöne, aber wenig wirklichkeitstreue Farbverfahren verleihen allem eine berückende Irrealität. Noch der dokumentarischste Moment wirkt wie ein Traum, eine Fantasie. Und haben Tod und Zerstörung in CHANG einen spontan aufregenden, grandios plakativen Effekt, stechen sie in EN DJUNGELSAGA zwar auch aus der Grund-Behutsamkeit hervor, haben aber einen traurigeren, poetischeren Beigeschmack.
Beides sind Filme über den permanenten Überlebenskampf der Menschen in einer Umgebung, die ihnen keinen Moment der Sicherheit gönnt. Aber CHANG lebt von der heimlichen Lust am Untergang und erzählt von der letztlich stets siegreichen List der Menschen, vom steten hoffnungsvollen Neuanfang. EN DJUNGELSAGA handelt dagegen vom Ausgestoßensein und vom Opfer, und zeigt Jäger und Gejagten als tragische Schicksalsgemeinschaft.

ZWISCHENBERICHT 4: LOOK BACK WITH ANGER
Das ziemlich exakte Gegenteil zu CHANG und der DJUNGELSAGA war in der Dschungel-Reihe COBRA WOMAN (USA 1944, Regie: Robert Siodmak). Alles, aber wirklich alles war hier künstlich bis zum Dorthinaus. Jeder Palmwedel ein Studiogewächs. Und jedes Restgefühl von realer Stofflichkeit zuverlässig von der kunterbunten Tünche eines unglaublichen Technicolor überdeckt.
Das einzige, was da den Reiz des Realen hatte war, dass der Film von niemand geringerem vorgestellt wurde als Kenneth Anger, dem legendären Avantgarde-Filmer und Hollywood-Skandalchronisten ("Hollywood Babylon"). Er trat auf in einem phänomenal geschmacksverirrten Strickpullover mit bunten Planeten drauf (die aber, da Anger ja ein Kenner satanistischer Esoterik ist, bestimmt irgendeine okkulte Bedeutung hatten, doch, doch...). Und gab Horroranekdoten über die Hauptdarstellerin María Montez zum Besten: Denn bei Anger reicht es selbstverständlich nicht, dass diese Camp-Ikone in der Badewanne (wohl nach einem Herzinfarkt)ertrunken ist. Da muss sie noch im Sterben aus Versehen den Heißwasserhahn betätigen und ihre Leiche deshalb gargekocht werden. Dass beim Versuch, sie aus der Wanne zu heben, das rosa Fleisch von den Knochen glitscht.
Wieviel davon wirklich wahr ist, war wurscht - beim Anschauen des Films bekam man das jedenfalls nicht mehr aus dem Kopf. Das gab der ohnehin schon latent tragischkomischen Gestalt der Montez - eine dominikanische Schönheit, die gänzlich unbeschwert von schauspielerischem, sängerischem oder tänzerischem Talent, mit unfreiwillig lächerlichem Akzent und anscheinend in der völlig unbeirrten Überzeugung, ein großer Star zu sein, in diversen B-Pictures agierte - eine noch zugleich bizarrere und melancholischere Note.

DOPPELBELICHTUNG #4: HEIMAT FILM

Die Überlappung zweier Welten, das Reich dazwischen ist ein Hauptinteresse im Werk von Patric Chiha - wenn man bei drei Filmen mit einer Laufzeit von zusammengenommen unter zwei Stunden schon von einem Werk sprechen mag. Aber der junge, austro-französische (zwischen zwei Ländern, Reichen auch in dieser Hinsicht...) Filmemacher war für mich am ehesten die große Neuentdeckung auf der Viennale. Auch von ihm war nichts zu sehen, was mich völlig begeistert hätte - aber insgesamt hinterließ die quasi zufällige Retro, die sich ergab, weil die drei bisherigen Arbeiten alle auf der Viennale aufgeführt wurden, deutlich den Eindruck, dass sich hier nicht nur ein Talent angekündigt und bewiesen hat, sondern dass da eine ganz eigene künstlerische Stimme ihre ersten Äußerungen getan hat.
Oder so: Würde mich alles andere als wundern, wenn Chiha in den nächsten Jahren einen Film raushauen würde, der größer von sich reden macht.
Der 20-Minüter CASA UGALDE legte über Bilder aus einem alten, (angeblich) gefundenen Fotoalbum eine frei fantasierte Geschichte; DIE HERREN dokumentierte einige der psychisch kranken Künstler aus Gugging - stellte ins Zentrum jedoch nicht deren Bilder, sondern von ihnen geschriebene Texte.
Am gelungensten aber arbeitete Chiha in HOME mit der Spannung zwischen Bildern und gesprochenem Wort: Zwei französische Geschäftsleute sollen in der österreichischen Provinz (um genauer zu sein: der steirischen Ramsau) eine Loden-Firma aufsuchen. Der ältere von beiden (Alain Libolt) macht die Reise aber in Wirklichkeit zu einer Rückkehr in seine eigene Vergangenheit. Ewig spaziert er mit seinem jungen (und latent genervten) Kollegen durch die Wälder, hockt in Gasthöfen - und monologisiert. Über Österreich zieht er her (Thomas Bernhard ist nie fern in HOME) und über die seltsamen Qualitäten und Wirkungen der frischen Luft theoretisiert er - vor allem aber erzählt er die Liebesgeschichte seiner Eltern, einer Wiener Tänzerin und einem Beiruter (wenn ich mich korrekt erinnere) Geschäftsmann. Und während man da also zwei französische Herren in Anzügen durch österreichische Landschaften von ungeheurem (un-heimlichem?) Grün laufen und staksen sieht, läuft parallell im Kopf ein zweiter, ganz anderer Film ab - ein großes Melodram in exotischen Schauplätzen.
Was HOME dabei auszeichnet ist das exakte Maßhalten mit der Distanz. Durch die Figur des jungen Geschäftsmannes, der von seinem älteren Kollegen so gnadenlos zugetextet wird, hält der Film eine Außenperspektive bereit, die immer dann rettend ist, wenn der Monolog zu sehr ins Prätentiöse, Larmoyante oder Wichtigtuerische driften könnte.
Ein weiteres sehr schätzbares Merkmal ist übrigens, dass der Film sich mit genau jener Länge bescheidet, über die hinweg er auch etwas zu sagen hat: Nach 50 Minuten ist Schluss. Aber nachdem man in dem Zeitraum quasi zwei Filme gleichzeitig gesehen hat, ergibt das ja eine prima Spielfilm-Laufzeit...

ZWISCHENBERICHT 5: ALL EMPLOYEES MUST WASH HANDS
Da soll noch einmal einer behaupten, artechock sei kein Fachorgan für investigativen Journalismus! Unter Einsatz raffiniertester Undercover-Methoden konnten wir folgende Skandal-Nachricht zu Tage fördern: Alain Libolt, Hauptdarsteller aus HOME, ist zweifelsohne ein bedeutender französischer Schauspieler. Aber: Nach dem Klogehen wäscht er sich nicht die Hände!
Igitt und pfuibäh, sagen wir da, und finden nicht nur gleich alle Filme, in denen er auftritt, ein klein wenig schlechter, jawoll, sondern empfehlen fürderhin allen artechock-Lesern, die sich auf einer Premierenfeier mit Monsieur Libolt wiederfinden sollten, an der anderen Buffet-Seite als dieser zuzugreifen und gemeinsame Schälchen mit Nüssen oder Gebäck gänzlich zu meiden.

DOPPELBELICHTUNG #6: THE MOST DANGEROUS FILM

"Die wahren Abenteuer sind im Kopf," hat's mal in einem eher gräusligen Liedermacher-Lied geheißen. Auf den radikalsten Film der Viennale traf das jedenfalls zu: Ein Film, so anders und pervers und ungeheuerlich, dass er das Publikum in die Raserei treibt, bei seiner bisher einzigen Aufführung zu tödlichen Ausschreitungen im Kino führte. LE FIN ABSOLUE DU MONDE heißt der Streifen - und wenn Sie von dem noch nie was gehört haben, brauchen Sie sich nicht schämen.
Er ist eine Erfindung der John Carpenter-Episode "Cigarette Burns" aus der MASTERS OF HORROR-TV-Reihe. Mithin noch so ein Ding, das in einem Zwischenreich existierte. Von dem man träumen konnte, das man sich zusammenfantasieren durfte, das sich im Kopf zunehmend über das legte, was man konkret auf der Leinwand zu sehen bekam.
Denn von radikaler Ästhetik ist Carpenter selbst freilich weit entfernt (was prinzipiell okay ist, oft lieben wir ihn dafür) - in dieser Fernsehproduktion allemal. Anfangs hatte das seinen Charme, diese extreme Diskrepanz zwischen dem Film - und dem Film im Film, von dem immer nur geredet wird. Aber wenn die TV-Episode dann selbst glaubt, böse und krass werden zu müssen, dann fällt ihr leider nur altbackenes Splatter-Kasperltheater ein.
Na ja, immerhin kam Udo Kier so zu einer seiner schönsten Sterbeszenen, seit in ANDY WARHOL'S FRANKENSTEIN seine Innereien dekorativ am Enterhaken in 3-D in den Kinosaal baumelten: Hier darf er am Ende seinen Darm in den Filmprojektor fädeln. (Was übrigens vom Bildergebnis wohl nicht groß zu unterscheiden sein dürfte von der auf der Viennale zu sehenden niederauflösenden Digitalmatsch-Projektion von Apichatpong Weerasethakuls WORLDLY DESIRES.)

Und alles immer noch große Kunst gegen Dario Argentos "Jenifer" aus der selben Reihe, der im Double Feature mit der Carpenter-Episode dargeboten wurde. Eine etwas ausgefallene Einstellung ganz zu Beginn, ein halbgares FRANKENSTEIN-Zitat in der Mitte waren die einzigen vagen Anzeichen dafür, dass da überhaupt ein Regisseur am Werk war und man nicht einfach nur die Crew alles brav nach dem kleinen Handbuch der 08/15-Fernsehregie hat machen lassen. Und dazu ein Geschichtlein, das als Füllmaterial in einer '80er-Jahre Horror-Anthologie vielleicht noch irgendwen unterhalten hätte. Eine müde, abgenutzte, bis ins Detail vorhersehbare Story vom dramaturgischen Gewicht eines gespielten Witzes aus "Nonstop Nonsense" selig. Argento bietet sie die Chance, mal wieder seine tiefsitzenden Probleme mit dem weiblichen Geschlecht durchzuexerzieren, aber diesmal endgültig auf so öde, fade, kalte und uninspirierte Weise, dass es nur noch traurig ist. Zu SUSPIRIA verhält sich das in etwa wie Phil Collins' TARZAN-Soundtrack zu Genesis' "Selling England By The Pound".

ZWISCHENBERICHT 6: LAND DER DVD-BERGE
"Felix Austria" kann man nicht nur in Hinblick auf die Wiener Kinoszene proklamieren: Nix gegen die SZ-Cinemathek - aber die ist doch eher was für Leute, die auch in einfachsten filmischen Geschmacksfragen noch Hilfestellung benötigen und/oder noch überhaupt nicht begonnen haben, auf eigene Faust DVDs zu sammeln.
"Der Standard", eine der Viennale als Sponsor verbundene Wiener Tageszeitung, hat sich jetzt daran gemacht, ein österreichisches Pendant zu der (Süd)deutschen Reihe zu veröffentlichen. Mit 50 der besten österreichischen Filmen.
Und nicht nur ist die Auswahl da viel wagemutiger (unter anderem findet sich in der Liste z.B. eine Anthologie mit avantgardistischen Kurzfilmen, oder ein Werk des großen österreichischen Exploitation-Schundmeisters Eddy Saller): Hier werden auch nicht einfach nur ohnehin erhältliche DVDs ihres Bonusmaterials beraubt und lediglich in neuer, einheitlicher Verpackung verscherbelt. Hier werden vielmehr etliche Filme überhaupt erstmals auf DVD zugänglich gemacht.
Das ist eine Reihe, die auch dem Cineasten noch echte Entdeckungen und Überraschungen bescheren kann. Wie der auch auf der Viennale präsentierte DIE VERWUNDBAREN von Leo Tichat - der in Österreich noch nicht einmal in die Kinos gekommen war. Zwar ist's wirklich vermessen, ihn als einen der 50 BESTEN österreichischen Filmen zu etikettieren. Aber einer der unglaublichsten österreichischen Filme ist's allemal: Da spielt ein Haufen junger Menschen im Wien des Jahres 1967 ein bisschen Godard, versucht sich an einer Austro-Variante von À BOUT DE SOUFFLE und BANDE À PART. Kunstwillen trieft aus jeder Pore, schafft's mit seinen Mühen aber selten weiter als bis zum großen Trash.
Sicher kein übersehener Meilenstein der Filmgeschichte. (Bei der nächtlichen Vorführung im Künstlerhauskino wurde auch anscheinend aus Versehen eine Rolle ausgelassen; jedenfalls war die tatsächliche Laufzeit rund eine Viertelstunde kürzer als angegeben, und zwischendrin gab's mal einen Handlungs- und Anschlusssprung, der auch mit "jump cuts" nicht mehr zu erkären war. Und irgendwie war ich gar nicht sooooo traurig darüber, auf diese Weise wenigstens meine letzte Tram noch zu erwischen; hatte das Gefühl, eigentlich einen hinreichenden Eindruck von dem Film bekommen zu haben.)
Aber halt ein schön obskur-verrücktes Stück Treibgut aus dem Meer der vergessenen Filme, ein Stück "Was wäre gewesen, wenn..." aus einem filmhistorischen Parallelluniversum, eine fruchtlos gebliebene Möglichkeit einer Kino-Alternative. Und somit eben genau die Art von Ausgrabung, die eine solche DVD-Reihe selbst und gerade für den Kenner und Liebhaber des Mediums zur Schatztruhe werden lässt.

DOPPELBELICHTUNG #7: KÖNIG DES DSCHUNGELS

Ein Biest blieb im Dschungel des Programms verborgen. Ich habe es gehetzt und verfolgt und mich an seine Spur geheftet, habe meine Ohren gespitzt nach Gerüchten, dass es irgendwo gesichtet worden sein soll. Und doch habe ich es nicht zur Strecke gebracht. Diese begehrteste Trophäe jeder Festival-Safari: Der eine neue, radikale, alles in seinen Schatten stellende, lebensverändernde Film.

Was nicht daran lag, dass es viele enttäuschende Filme gegeben hätte. Die blieben überschaubar: John Turturros Alltags-Melo-Musical ROMANCE & CIGARETTES war viel zu bemüht damit beschäftigt, verrückt und absonderlich zu sein, und so sehr man sich über die schrägen Auftritte einer phänomenalen Darsteller-Riege (James Gandolfini, Susan Sarandon, Christopher Walken, Steve Buscemi, Kate Winslet und, of all people, Barbara Sukowa) zu freuen versuchte, blieb das doch alles zu gewollt. Bis der Film im letzten Viertel plötzlich unerwartet das Ruder rumreißt, seine stilisierte Überdrehtheit weitgehend über Bord schmeißt, sich dem Boden der Tatsachen nähert und auf einmal emotional zu funktionieren beginnt.
Über THE JOURNALS OF KNUD RASMUSEN von den ATANARJUAT-Machern Norman Cohn und Zacharias Kunuk sage ich etwas, das ich nie dachte, je über einen Film zu sagen: Der hätte davon profitiert, wenn er konventioneller erzählt gewesen wäre. Der Film ist eine Art semi-dokumentarische Nachstellung von Aufzeichnungen des titelgebenden dänischen Ethnographen, der in den 1920ern mit einem Inuit-Stamm lebte. Aber so faszinierend die nebenher zu erhaschenden Blicke auf das Alltagsleben der Inuit sind - darauf wie die Kleidung beschaffen ist, wie die Lampen funktionieren, was man isst, wie man Iglus baut: Durch die elliptische Erzählweise braucht man zu lang, mitzubekommen wer jetzt eigentlich wer ist und was von wem will, und das hält einen unnötig lang sehr auf Distanz. Ein bisschen handfeste Exposition hätte da echt geholfen, dass man seine geistige Energie auf Wesentlicheres konzentrieren hätte können als auf das Entwirren des Figurenpersonals und der Ansätze von Handlung.
Und TOI ET MOI VON Julie Lopes-Curval, ein süßes, buntes Liebesgeschichtlein um eine Autorin von Foto-Romanzen, war so nett und nur nett, dass dann nachher leider auch nicht viel mehr hängen blieb als nach der Lektüre einer Foto-Lovestory.
(Alles drei übrigens auch wieder Filme, in denen das Verhältnis von Fiktion, Fantasie und Realität ein zentrales Thema war.)

Aber wie gesagt: Solche Enttäuschungen waren dünn gesät, und waren auch viel zu milde, um den gewohnt starken Gesamteindruck des Festivals zu trüben. Bei keinem der drei genannten Filme hat's mich nachher komplett um die Zeit gereut, die das Anschauen gekostet hat.
Und dass der vorher mit großer Fanfare als wiederentdecktes Genie von filmhistorisch gewichtiger Bedeutung angekündigte Peter Whitehead sich dann doch als vielleicht nicht ganz zu Unrecht vergessenes, weil immens selbstverliebtes Kind seiner Zeit entpuppte...? Nun, trotzdem profitierte er von der historischen Ferne seiner Schaffensjahre. Bei aller Eitelkeit, bei allen nur vermeintlich revolutionären formalen Spielereien (man stelle sich vor: Einstellungen vom Filmemacher am Schneidetisch inszenieren die Subjektivität seiner Perspektive, weil nämlich auch Dokumentarfilme nie einfach nur eine objektive Wirklichkeit abbilden! Ach was!): Sein angebliches magnum opus THE FALL war halt trotzdem (und zum Teil auch explizit deswegen) ein faszinierendes Dokument vom New York der späten '60er Jahre und brachte einem die Zeit - inklusive ihrer Verquastheiten und Überheblichkeiten - ungeheuer nah.
Das war wieder einer dieser Dopplungseffekte: Einerseits hatte das Material selbst die Aura des Authentischen, zeigte unmittelbar die Straßen, Räume, Menschen der Ära. Andererseits hatte auch die Art der Transformation dieses Materials zum (vermeintlichen) Kunstwerk schon etwas Historisches, sagte gerade in ihren Zumutungen auch einiges über die (heut gern nur idealisierten) jungen, intellektuellen Leute damals, die sich unerschrocken, aber oft auch rücksichtslos an den Versuch wagten, die Welt zu verändern.

Wie gesagt also - so richtig große, nutzlose Enttäuschungen gab's kaum. Aber eben auch nicht den EINEN Knaller und Knüller. Klar, in den Retros und Tributes waren dafür diverse Kandidaten - neben den oben genannten, gefeierten CHANG, EN DJUNGELSAGA, TO EACH HIS OWN oder FROM THIS DAY FORWARD auch in der Varda/Demy-Werkschau Jacques Demys grandioser Spielerfilm LA BAIE DES ANGES, der einen wie kein anderer die Achterbahn des Gewinnens und Verlierens durchrasen lässt.
Aber so richtig zählen Retros nicht, wenn's um die umwerfende Neuentdeckung geht, die ein Filmfestival erst perfekt macht. Und es gehört auch das Element des Unerwarteten dazu - weshalb der wohl schönste neue Filme dieser Viennale für mich die Kategorie nicht erfüllte: Aki Kaurismäkis LAITAKAUPUNGIN VALOT (dt. Verleihtitel: LICHTER DER VORSTADT).
Wieder ein Film über einen stolzen Verlierer, über einen Mann, der tun muss, was er tun muss, auch wenn er weiß, dass er keine Chance hat. Dazu ein bisschen ein film noir. Und insgesamt herber, (noch?) weniger optimistisch als Kaurismäkis letzten beiden Werke. Selbstverständlich in seinem gewohnten, perfektionierten Stil: Einer Art Kino zu machen, die alles an Mitteln, was gewöhnlich dazu dient, Emotionen zu erzeugen, radikal reduziert oder distanziert. Und gerade dadurch Gefühl entstehen lässt. Allein die Einstellung, wo in einem einzigen langen, traurigen, wortlosen Blick klar wird, dass die unscheinbare Imbissbudenbesitzerin heimlich in den Protagonisten verliebt ist und für sie eine Welt zusammenbricht, als der eine Freundin gefunden hat - allein diese Einstellung ist mal wieder größer und stärker und herzzerreißender und schöner als das Gesamtwerk manch anderer Regisseure.
Aber wie, frage ich, sollte das bei Aki Kaurismäki eine unerwartete Überraschung und Entdeckung sein?

ABSPANN: BACK TO LIFE, BACK TO REALITY
Nach über einer Woche Tiefseetauchen in einem solchen Meer von Filmen braucht man immer etwas Dekompression, bevor man wieder ganz an die Oberfläche der Realität zurückkehrt. Auch wenn man, wie bei dieser Viennale, die schimmernde Grenze zu dieser Oberfläche nie ganz aus den Augen verloren hatte.

Unter der "Viele blede Filme sehn vahindert eigenes Nochdenken"-Filzstiftschrift stand auch eine Handynummer, und ich habe eine Weile überlegt, ob es nicht abschließend eine spannende Konfrontation mit der Wirklichkeit sein könnte, die mal anzurufen. Aber man hat ja so seine Vorstellungen, wie Leute drauf sein müssen, die solche Botschaften im öffentlichen Raum hinterlassen. Und bei aller Neugier: Es gibt dann doch Dinge, die muss man nicht auch noch in Echt haben. Da reicht's vollkommen aus, wenn sie Vorstellung bleiben.

Thomas Willmann

 

 
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