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02.11.2006
 
 
     

Viennale 2006
Geschichten aus dem Viennale-Dschungel

  DANS PARIS von Romain Duris  
 
 
 
 

Paradise Lost - Geschichten aus dem Viennale-Dschungel

Kein anderes Publikumsfestival ist mit so hohen Erwartungen an das Filmprogramm verknüpft wie die Viennale. Im Vorfeld der diesjährigen 44. Ausgabe gab es freilich einige überraschende Statements und auch Gerüchte, die in Folge der Parlamentswahlen in Österreich in Umlauf gebracht wurden, und die Viennale plötzlich als ein Festival zeigte, das genauso sich verändern oder Brüche, gute oder schlechte, erleben kann wie andere Veranstaltungen. Hans Hurch, der seit zehn Jahren das bei Branche, Presse und Publikum immer beliebter werdende Festival prägt, erklärte kurz vor Festivalbeginn in einem Interview mit dem österreichischen „Falter“, dass er den Geschmack der sogenannten „Bobos“, den bourgeoisen Bohemiens, nicht mehr bedienen wolle, obwohl ihm durchaus bewusst schien, dass sich das Viennale-Publikum vor allem aus diesen Bobos zusammensetzt. Dazu kam das Gerücht, Hurch könne als, wie es in Österreich so schön heißt, Kunstminister der neuzubildenden Regierung in die österreichische Politik gerufen werden, was Anlass gab zu Spekulationen um seinen möglichen Nachfolger (W. W.) oder Nachfolgerinnen (K. W.). Hurch fände es durchaus als Anerkennung für die Viennale, wenn er nun auch der österreichischen Gesamtkultur den Stempel aufdrücken könne. Aber mehr auch nicht.

Persönlicher Gusto und Kompromisslosigkeit machen Hurch zu einem wagemutigen Festivalleiter, der ohne Zugeständnisse an die Vorlieben seines Publikums auskommen will. Nicht nur hat sich Hurch für dieses Jahr „Bobo-Bashing“ auf die Fahnen geschrieben, auch laufen viele der Produktionen, die man sich im Hauptprogramm gewünscht hätte und deren Regisseure langjährige Stammgäste der Viennale sind, in einem Nachschlag zum Festival als sogenannte „New Crowned Hope“-Filme. Hurch lässt es sich auch nicht nehmen, in der Kategorie „Überraschungsfilm“ alle Erwartungen und Spekulationen um den präsentierten Film zu durchkreuzen und kredenzte dieses Jahr dem gut gefüllten Gartenbaukino mit seinen an die 800 Sitzplätzen den nicht gerade publikumsträchtigen SICILIA! von Straub/Huillet, im Andenken an die kürzlich verstorbene Danièle Huillet. Das ist, mit Hurch gesprochen, ein schöner Lausbubenstreich.

Hohe Erwartungen also an das Programm, die, wenn es das eigene „Bobo“-Sein betraf, bewusst durchkreuzt wurden, und dann auch Neuorientierung beim Viennale-Fan erforderten. So lief der neue Achitapong Weerasethakul, SANG SATTAWAT, nicht im Hauptprogramm, sondern wurde in die Viennale-Verlängerung auf den 21.11. geschoben, ebenso wurde mit dem Stammgast Tsai Ming-Liang verfahren, dessen HEI YAN QUAN (I DON’T WANT TO SLEEP) man erst am 22.11. sehen kann. Auch Bahman Ghobadis NIWEMANG (HALF MOON) hätte man sich für das Hauptprogramm gewünscht, er läuft jetzt am 18.11. Streng genommen aber hat man nichts verpasst, der November ist schließlich noch nicht rum und Wien immer eine Reise wert. Mag sich auch der Programmierer gedacht haben.

Die Viennale konnte trotz der ungewohnten Unberechenbarkeit des Programms auch dieses Jahr wieder mehr Zuschauer für sich verbuchen, was sich wohl auch den vielen österreichischen Produktionen, einer bestens ausgestatteten Dokumentarfilmsektion und der äußerst attraktiven und publikumsfreundlichen Retrospektive zu dem Cineastenpaar Jacques Demy und Agnès Varda verdankte. Der Auftakt des eigenen Festivalbesuchs ließ sich großartig an, mit dem Wiedersehen von Pedro Costa, den Hurch letztes Jahr durch eine umfassende Werkschau für Wien etabliert hat.

Pedro Costas neuer Film JUVENTUDE EM MARCHA (COLOSSAL YOUTH) war auch ein Wiedersehen mit den Laiendarstellern aus CASA DE LAVA (1994), OSSOS (1997) und NO QUARTO DA VANDA (2000), deren Lebensschicksale Costa in seine Fiktionen einbettet. Die Umsiedelung in neu errichtete Wohnsiedlungen der in den Slums von Lissabon lebenden Einwanderer der Kapverdischen Inseln ist der rote Faden seiner fast schon zynischen Geschichte von der „kolossalen“ Jugend, in der Costa seine Figuren selbst von ihrem Leben erzählen lässt. Vanda berichtet in einer langen ungeschnittenen Einstellung von der Geburt ihrer Tochter, erzählt von ihrer Heroinabhängigkeit und davon, wie sie jetzt mit dem Methadon zurechtkommt. Eine unbewegte Kamera filmt sie, wie sie in ihrem engen Zimmer auf ihrem Bett sitzt, vor ihr läuft der Fernseher, Ventura, ein älterer Einwanderer, teilt mit ihr Zigaretten und Bier, während sie erzählt. Diese Einstellung ist eines der Video-Tableaus Costas, die seinen Film auszeichnen. Wenn Ventura in den Außenraum gelangt, schiebt sich sein dunkler Schädel vor die strahlend weißen Fassaden der frisch gekalkten Hochhaussiedlung. Die Architektur der portugiesischen Siedlung wird hier gezeigt als strukturlose Fassade, die gleißendes Licht abstrahlt, ganz anders als die expressionistischen Schattenwürfe vor den letzten bewohnten Hütten des Slums. Costas Film wartet mit stilistischer Kamerastrenge auf, die den Figuren umso mehr Platz für ihre Erzählungen und ihre physische Präsenz gibt. Die fotografischen Einstellungen entwickeln einen wahren Bildersog, bleiben dabei unwirklich und fremd und sind von eigenartiger Faszination für das Unbehagliche.

Fernab von eurozentrischem Denken waren auch die Filme in der Dschungelreihe, die als Special Program Filme zeigte, die sich in die tropische Wildnis begeben. Eine unerwartete Entdeckung war EN DJUNGELSAGA, 1957 von dem Schwedischen Naturfilmer Arne Sucksdorff gedreht. Halbdokumentarisch entwirft der Film die Saga vom Erlegen eines Leoparden, der im Glauben der Eingeborenen das Böse in sich trägt. Sucksdorff dokumentiert in seinen magisch-bunten Aufnahmen das alltägliche und rituelle Leben eines indischen Urwaldstammes. Er schafft authentischen Raum für die Dialoge der Einheimischen, die er unübersetzt lässt, taucht in breitem AgaScope in die Welt des Dschungels ein, durchforscht mit seiner Kamera die Tiefe der Wildnis, erspäht wie seine kindlichen Protagonisten einen Leoparden, einen Tiger. Darüber legt sich eine schwedisch sprechende Stimme mit ihren Erklärungen, was zur eigentlichen Exotik des Filmes gerät, dem man seine Erzählung durchaus abnimmt und was einen ratlos über den Grad der Fiktionalisierung werden lässt.

LA VALLÉE, 1972 in Neuguinea von Barbet Schroeder gedreht, war das modisch-hippe Gegenteil zur DJUNGELSAGA. Eine Gruppe promiskuitiver europäischer Aussteiger nehmen in Mondritualen bewusstseinserweiternde Substanzen zu sich und müssen sich um nichts weiter kümmern als um ihre reich ausgestattete Garderobe (die tatsächlich von Christian Dior gestellt wurde). Sie machen sich in ein unerforschtes Tal auf, wo sie das Paradies wähnen und sie für immer bleiben wollen. Die Diplomatenehefrau Viviane, gespielt von Bulle Ogier, der die ungewohnte Rolle der Frau von Welt beunruhigend gut steht, schließt sich den Hippies an, zunächst aus rein ökonomischen Gründen, verliebt sich dann aber in den blonden Olivier (Michael Gothard) und mit ihm in das freie Leben der Vagabundierenden in der wilden Natur. Es folgt eine lange Expedition in das Ungewisse, zunächst komfortabel in einem Jeep, dann auf Pferden, schließlich zu Fuß bis zur völligen Erschöpfung. Am Ende teilen sie sich noch einen letzten trockenen Keks, bevor sie ihren Traum mit dem Leben bezahlen und in einer Jenseitsvision endlich das ersehnte paradiesische Tal erblicken.

Die Filme aus der Dschungelreihe ließen als unmittelbare Filmzeugnisse die Faszination an der Wildnis noch einmal aufleben; gerne ließ man sich von dem zusammengestellten Programm in die üppig wuchernde Vegetation mit den wilden Tieren verführen, zumal wenn die Protagonisten so gut aussehend waren wie in LA VALLÉE. Eine ganz andere Art der Hinwendung an Wildnis erfuhr man in THE JOURNALS OF KNUD RASMUSSEN des in Kanada lebenden Inuit Zacharias Kunuk. Er wendet sich den 20er Jahren zu, als es im Zuge der ersten Expeditionen, die die Europäer am nördlichen Polarkreis unternahmen, Begegnungen mit der Eingeborenenkultur gab. Knud Rasmussen ist einer der ethnologisch arbeitenden Forscher, der sich auf die fremden Riten einlassen möchte; aus seiner Warte erfährt man vom Schicksal der Familie um den Schamanen Avva und seiner Tochter, der rebellischen Apak. Der Film versucht, die spirituellen, rituellen und realen Bedingungen eines Lebens am nördlichen Polarkreis nachzuzeichnen, gelangt zu intimen Inszenierungen, in denen das Stammesleben im ewigen Eis Geborgenheit und Verlässlichkeit ausstrahlt, es funktioniert als Herd sozialer und existentieller Wärme. Von einer Hungersnot angetrieben, muss der Stamm aber schließlich seine Iglusiedlung verlassen und gelangt zu einer größeren Gemeinschaft anderer Inuit, die stark von europäischen Forschern beeinflusst wurde. Eine lange Schlusssequenz, in der die Geister der Eskimos mit christlichen Gesängen vertrieben werden und die Schamanenfähigkeit dem Hunger geopfert wird, beschließt die Vergeblichkeit der Eingeborenenkultur. Der Fortschritt, den die Europäer brachten, bedeutete den Verlust der eigenen Religion, übrig bleibt am Ende nur noch die Verheißung des himmlischen Paradieses. Vielleicht versuchte der Film sich am Schluss, wenn die Gesänge der christianisierten Inuit allzu sehr zu nerven beginnen, an einem filmisch umgesetzten ethnologischen Statement über die Unerträglichkeit der christlichen Vereinnahmung, und es war gut gemeint, wenn sich das Unbehagen an der Kultur dann doch auf den Film übertrug.

Eine humorvolle Vertreibung aus dem Paradies einer bestens funktionierenden Lebenslüge inszenierte der in Cannes mit der Goldenen Kamera ausgezeichnete Erstlingsfilm A FOST SAU N-A FOST? (12:08 EAST OF BUKAREST) des Rumänen Corneliu Porumboiu. Der Film lässt sich als durchaus aberwitzige Kleinstadtstudie über den Alltag des postrevolutionären Rumänien an. Die Protagonisten verfallen zusehends dem fahrlässigem Alkoholkonsum mit einhergehenden Erinnerungslücken und Kraftmeierei. Eben diese Erinnerungslücken und Selbstheroisierungen werden virulent, als sich die absurden Protagonisten des Films, ein Geschichtslehrer und ein schrulliger Pensionär, in ein Fernsehstudio begeben, um die Geschehnisse der Revolution, die zum Abdanken Ceausescus führten, noch einmal nachzuzeichnen. Die Kernfrage in dem Sendungswirrwarr lautet: Gab es in der Kleinstadt revolutionäre Umtriebe, ja oder nein? Das fast die Hälfte des Films umfassende Fernsehstudio-Kammerspiel in Form einer Live-Sendung führt zur Demaskierung des ortsbekannten Geschichtslehrers als Alkoholiker, und lässt den einfachen Mann links liegen. Das ist Kabarett im Kino, nicht vom Feinsten, aber durchaus unterhaltend und, im Geiste von GOOD-BYE LENIN, auf den kleinsten gemeinsamen Humornenner der Situationskomödie heruntergebrochen.

DANS PARIS schließlich von Christophe Honoré, der vor zwei Jahren mit der düster-exzessiven Verfilmung des Romans „Ma mère“ von Georges Bataille auf sich aufmerksam machte, zeigte, dass auch Leichtigkeit überzeugen kann, wenn sie virtuos und ohne Rücksicht auf die Paradigmen eines gut gemeinten Realismus vollzogen wird.
Der Film hebt an mit dem Bild einer Menage à trois, die, wenn sie funktioniert, erzählerischen Lustgewinn verheißt. Aus der Idylle einer zu Dritt geteilten Matratze erhebt sich Jonathan, gespielt von Louis Garrel, der seit seinen jüngsten Auftritten in zwei 68er-Filme, in Philippe Garrels LES AMANTS REGULIERS und Bernardo Bertoluccis DREAMERS, für jugendliche Rebellion und gedankenlosen Leichtsinn einsteht. Regisseur Christophe Honoré lässt seine Figur Jonathan den Handlungsraum der Fiktion übertreten und ihn auf dem winterlichen Balkon direkt in die Kamera zum Zuschauer sprechen. Er gibt sich als Erzähler zu erkennen, nicht seiner eigenen, sondern der Geschichte seines Bruders, die er entgegen aller Möglichkeiten allwissend überblickt. Die Geschichte, die er dann erzählt, ist ein an sich hanebüchenes Konstrukt; die Stilmittel, die der Film auffährt sind die der Übertreibung, deren gesteigerte Zeichensprache sich bis zur Screwball-Komödie hinaufschraubt.

Romain Duris (L’AUBERGE ESPAGNOLE, DE BATTRE MON COEUR S’EST ARRÊTÉ) spielt Jonathans depressiven Bruder Paul, der sich nach seinem gescheiterten Eheleben auf dem Land, von einem Fünftagesbart gezeichnet, im Zimmer seines Bruders verkriecht. Sein Vater versucht unterdessen, ihn mit allerhand naiven Rezepturen aus seiner tiefen Depression zu locken. Das wiederkehrende Zuschlagen der Tür vor der Nase des gutmeinenden Vaters ist an sich schon ein deutliches Zeichen dafür, dass die Erzählung einen leichtfertigen Umgang mit der Zwischenmenschlichkeit pflegt, und zugleich komödiantisches Signal dafür, dass das, was schwermütig zu Boden liegt, immer noch genug Widerstand in sich birgt, um ganz dem Tragischen zu verfallen. Jonathan versucht als Zeremonienmeister der Erzählung auf seine Weise, den Bruder ins Leben zurückzuholen. Er schließt die Wette ab, es in einer halben Stunde von der Wohnung im 16. Arrondissement zu den Galeries Lafayette zu Fuß zu schaffen, mit dem Versprechen, dass Paul ihm bei Gelingen folgen solle. Es folgt eine temporeiche Durchquerung von Paris, die stark an Louis Malles ZAZIE DANS LE METRO erinnert. Ähnlich wie das kleine Mädchen in den späten 50er Jahren die autoritären Hüter der Ordnung bluffte, narrt hier Jonathan als erzählende Figur die Konventionen des Spannungsaufbaus, verliert sich in dem Figuren-Labyrinth der Großstadt, die ihm in der Gestalt dreier paarungswilliger Mädchen begegnet. Eines davon wird sich am Ende der Geschichte in die Wohnung verirren und Paul begegnen; seine erotische Genesung kündigt sich an. Schließlich winkt auch noch das amouröse Heil von Jonathan, der sich zwischen seinen drei Abenteuern entscheidet und sich mit seiner Ex am Telefon Jacques Demy-mäßig singend versöhnt.

Die Balance zwischen der ernst gemeinten Depressionsschwere von Paul, der immerhin einen Selbstmordversuch unternimmt, und der leicht genommenen Unzuverlässigkeit des Erzählers Jonathan, die sich in den stilistischen Film-Eskapaden niederschlägt, macht aus der Komödie einen vergnüglich-nachdenklichen Parisfilm, der die Stadt nicht nur als topographischen Raum durchquert, sondern auch deutlich Bezug nimmt auf die Experimentierfreudigkeit der Nouvelle Vague, die Paris als filmischen Raum entdeckte. DANS PARIS ist damit auch eine Abkehr von den in den letzten Jahren boomenden Filmen, die in der französischen Provinz Realismus nachzeichneten, was der Titel „Dans Paris“ fast schon programmatisch betont. Das Wunderbare an dem Film ist, dass bei all dieser Deutlichkeit der Rezeption möglicher Vorgängerfilme die stilistische Mixtur mitreißen kann. Der Film ist ein selten gewordenes Wagnis, den Parametern des Realistischen zu entsagen, Film wieder deutlich zu machen als einen erzählerisch weit gefassten Raum, weiter gefasst als ihn die Maßstäbe von Plausibilität oder Wahrscheinlichkeit definieren könnten. Ein Moment paradiesischer Erzählfreude machte sich da mitten in Wien auf, vielleicht ein letzter Seufzer des französischen Kinos abseits des Arthouse-Mainstreams, in dem es mittlerweile so gerne mitschwimmt.

Dunja Bialas

 
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