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Venedig 2006 10.09.2006
 
 
Tagebuchnotitzen, 5. Folge
Mademoiselle Deneuve und die Biedermänner
WHERE THE TRUTH LIES
Festivalsieger: Regisseur Jia Zhang-kedes erhält für STILL LIFE den Löwen
 
 
 
 

Ein chinesischer Doppeltriumph, Harndrang und vorletzte Filme

"Soll ich vielleicht ein Gedicht aufsagen?" - Catherine Deneuve ist, anders kann man das gar nicht ausdrücken, einfach ziemlich cool. Wie sie so dasitzt bei der traditionellen Abschlußpressekonferenz der Wettbewerbsjury und vor der schäumenden Glamourriege, fassungslosen Hollywoodreportern und wie immer übererregten Italienern die gerade verkündeten Entscheidungen rechtfertigt, das hat Stil, Eleganz und vor allem eine wunderbare Lässigkeit. Es ist die souveräne Lässigkeit eines Schlachtrosses - Pardon Mademoiselle! - das schon ganz andere Dinge überstanden hat, einer Dame, die weiß, was sie will und dass sie mit jeder Situation im Zweifel besser umgehen kann, als ihre Umgebung. Hätte sie diese Fähigkeit nicht, wäre sie nicht in diesem Geschäft, und man muss gar nicht die französischen Kultur-Talkshows gesehen haben, in denen sie ebenso lässig und souverän über Bücher und Geschichte und zur Not sogar über ihr Facelifting parlieren kann, es genügt hinzugucken, ihren Blicken zu folgen und dem gelegentlichen Zucken der Mundwinkel, um zu sehen, dass Catherine Deneuve auch intelligenter ist, als ihr manche der Kollegen zutrauen.

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"Ich liebe die einfachen Geschichten", wird sie später sagen, das asiatische Kino sei "magnifique", "innovativ" und überhaupt "sehr stark bei diesem Festival". Gerade hat Catherine Deneuve und die von ihr geleitete Jury die diesjährigen Filmfestspiele von Venedig gerettet, mit überraschenden, zum Teil innovativen Preisentscheidungen und einem klaren Statement fürs Autorenkino, vor allem mit dem Goldenen Löwen für SANXIA HAOREN (STILL LIFE) des erst 36-jährigen Chinesen Jia Zhang-ke, einem Wettbewerb spätes Gewicht und Kontur gegeben, der stark anfing und dann stark nachließ, der zwar viele achtbare Filme zeigte, doch kaum Herausragendes zu bieten hatte, oder filmkünstlerisches Neuland betrat.

Einer der ganz wenigen echten Höhepunkte war allerdings dieser STILL LIFE. Erst kurz vor Festivalstart war er noch als "Überraschungsfilm" in den Wettbewerb geschoben worden. Den Titel hatte man erst am Tag der Filmvorführung bekannt gegeben - "aus offenkundigen diplomatischen Gründen", so Deneuve am Ende, sprich: Weil das Regime in Peking sonst aller Erfahrung nach gegen den Film interveniert hätte. Denn STILL LIFE erzählt seine Handlung rund um das gegenwärtige Leben in der Fengjie-Provinz, wo derzeit der megalomane "Drei-Schluchten-Staudamm", das größte Staudammprojekt der Welt gebaut wird - und für Unruhe bei Umweltschützern und Bürgerrechtlern sorgt. Die Regierung schlägt deren Proteste oft brutal und unter Missachtung auch chinesischen Rechts nieder. Ohne platte Parteinahmen, ohne bitteren Sozialrealismus, aber auch ohne Veredelung ins Epische zeigt Jia ein Stück Gegenwart seiner Heimat, das in dieser Form Peking nicht gefallen kann. Zugleich entwickelt er eine originelle Form, um fast dokumentarische Darstellung und Erzählung poetisch zu verbinden. Vor allem die Bilder von Jias Stammkameramann Yu Lik-wai (selbst auch ein Regisseur, von LOVE WILL TEAR US APART und ALL TOMORROW'S PARTYS) bohren sich ins Gedächtnis.

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"Wir waren uns alle einig, wir mussten nicht viel diskutieren", sagte die Deneuve, "STILL LIFE hat alles, was wir an einem Film mögen: Die Schönheit der Fotografie..., die Stärke der Geschichte, wir waren sehr bewegt, der Film erzählt eine Menge, das ist ein sehr sehr spezieller Film."

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Manche, vor allem unter den professionellen Beobachtern, reagierten auf die Entscheidung angesäuert. Nicht, weil ihnen STILL LIFE etwa nicht gefallen hätte - insgesamt war der Film gut bei der Kritik angekommen, und nicht wenige hatten ihm zumindest Außenseiterchancen auf einen der Hauptpreise gegeben.
Aber wieder einmal hatte sich die Regel bestätigt, dass wer als klarer Favorit auf den Filmkritikerspiegeln der Zeitungen in die Zielgerade geht, selten gewinnt. Zuletzt war es in Cannes Almodovars VOLVER so ergangen, diesmal passierte es mit THE QUEEN, der seit einer Woche das Feld sehr eindeutig angeführt hatte - als wäre hier die Filmkunst neu erfunden worden. So war denn auch ausgerechnet die internationale Kritikerjury die einzige, die THE QUEEN den Hauptpreis gab - und damit ihre Aufgabe klar verfehlte, auf Filme aufmerksam zu machen, die ohne FIPRESCI-Preis untergegangen wären.

Eher schon versteht man die Kritik an der Präsentation des Films als "Überraschungsfilm". Diese Einrichtung gehört zu den Marotten des an Marotten reichen Festivalchefs Marco Müller. In jedem seiner drei Jahre gab es einen "Überraschungsfilm", in jedem Jahr kam der aus Asien: BINJIP von Kim Ki-duk 2004, TAKESCHI'S von Kitano 2005. Die Kollegen hätten also gewarnt sein können, und die Pressevorführungen des Films - nicht ganz glücklich auf 23 bzw. 24 Uhr gelegt, waren auch gut besucht - aber einige hatten ihn offenbar doch versäumt und schimpften nun entsprechend. Dabei regten sich die lauten Amerikaner wohl eher über die fehlende Mainstreamtauglichkeit sämtlicher Hauptpreise auf.

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Vor Erregung rot wie ein Feuermelder beschimpfte auch Freund Josef Schnelle am letzten Abend alle, die etwas Gutes über STILL LIFE und etwas Schlechtes über THE QUEEN zu sagen hatten, und witterte, wie manche Italiener, eine gleichgeschaltete Jury - "Wie alle bei der Preisverleihung zuerst Marco Müller gedankt haben." - und "Verschwörung" und "Intrige". Hatte nicht Marco Müller vor Jahren einen Film von Jia Zhang-ke produziert?

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Fans von THE QUEEN konnten sich aber auch nicht wirklich beklagen, immerhin gab es für den Film als einzigen zwei Preise. Da der Film schon in der ersten Einstellung nach einem Schauspielpreis schreit, hat er ihn auch bekommen, und auch der Preis für bestes Drehbuch geht in Ordnung: Witzige Dialoge und gutes Schauspiel, aber wenig filmische Innovation - auf die Formel kann man den Film bringen.
Bei der Pressekonferenz setzte sich dann Helen Mirren sehr fotobewußt neben Catherine Deneuve und sagte den überraschenden Satz: "Ich wollte auf keinen Fall wie die Queen aussehen."
Übrigens hatten sich zur Premiere des Films vor einer Woche angeblich acht Anwälte von Königin Elisabeth in der Vorführung befunden, um eine eventuelle strafrechtliche Relevanz des Films zu prüfen.

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Auch sonst verstand "Mademoiselle Deneuve" - auf dieser Anrede besteht die 62-jährige, die auch mit Roger Vadim und Marcello Mastroianni, den Vätern ihrer beiden Kinder, nie verheiratet war - zu überraschen: Sie begann die Preisverleihung mit einem "special mention"-Lob von David Lynchs magisch-komplexen Albtraumthriller INLAND EMPIRE, der gar nicht im Wettbewerb lief, von manchen Beobachtern aber mit Unkenntnis und Verständnislosigkeit aufgenommen wurde - schon das ein listiges Signal gegen die Biedermänner.

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Konsequent gab es dann Preise für sperriges, nicht in jedem Fall gefälliges Autorenkino, das mutig und experimentell ist, das etwas wagt. Dem entsprachen auch die Entscheidungen der vom deutschen Regisseur Philip Gröning geleiteten "Horizonte"-Jury: Den Dokumentarpreis bekam der Amerikaner Spike Lee für den auch filmisch singulären vierstündigen WHEN THE LEAVES BROKE über die Auswirkungen des Hurrikans "Katrina" vor einem Jahr. Und mit dem Spielfilmpreis für Liu Jie war der chinesische Doppeltriumph perfekt: MABEI SHANG DE FATING DI (COURTHOUSE ON A HORSEBACK) dreht sich rund um ein dreiköpfiges Gericht, das den Staat in einer einsamen Bergregion vertritt, die nur mit Pferden zugänglich ist und dort dann mit der Not der Bauern, Naturglauben und Familienfehden konfrontiert wird. Starre Paragraphenreiterei muss sich zu geschmeidigem Pragmatismus wandeln - ein glänzend fotografiertes Lehrstück über die Natur der Gerechtigkeit.

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Schon wahr: Einige künstlerisch radikale Filme jüngerer Regisseure, wie der thailändische SYNDROMES AND A CENTURY von Apichatpong Weerasetakul und FALLEN von der Österreicherin Barbara Albert, denen man Preise gegönnt hätte, gingen im Wettbewerb leer aus. Mit den Löwen für Resnais und Straub ehrte die Jury dagegen zwei Altmeister, die ihre künstlerische Glanzzeit lange hinter sich haben, an deren Ruhm die Preise nichts ändern werden.

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Darüber kann man mit guten Gründen streiten. Zu Resnais' neuem Film muss man vor allem sagen: Er langweilt! Und wenn er überrascht, dann negativ: COEURS nach einem Stück von Alan Ayckbourn wirkt, als wolle der Regisseur von NACHT & NEBEL und HIROSHIMA MON AMOUR im hohen Alter all das machen, was er in den 60er-Jahren nicht gemacht und eigentlich verachtet hat. Ein Alterswerk voller Nostalgie, eher an die niederen intellektuellen Instinkte appellierend, darin sehr ähnlich wie ON CONNAIT LA CHANSON, und ganz anders als SMOKING/NO SMOKING.
Bei Straub liegen die Dinge anders. Sein neuer Film QUEI LORO INCONTRI besteht aus Schauspielern, die mit dem Rücken zu starr montierten Kamera in freier Natur stehen und einen Text von Cesare Pavese eigentlich nicht lesen, sondern möglichst tonlos herunterleiern. Nichts Neues vom Grammatiklehrer Straub also. Pavese, so viel darf man sagen, hätte den Film gehasst. Den meisten Kritikern ging es nicht anders, und so verschmolz das ununterbrochene rhythmische Stühleklappern mit den Rhythmus der tonlosen Stimmen. Wer drin blieb, tat das, so mein Eindruck, mit der selben Haltung, mit der man eine Messe besucht: Bei wenigen Inbrunst und inniger Glaube, bei einigen der Versuch sich meditativ zu leeren, beim Rest eine Mischung aus Pflichtübung und der Sehnsucht nach einem ruhigen Pol inmitten des Festivalhurrikan, nach der Möglichkeit, einmal an alles zu denken, außer an Kino. Wenn das der Sinn des Kinos ist...
Der Sinn des Löwen fürs Lebenswerk liegt daher wohl eher in politischer Solidarität. Straub war der Premiere seines Films ferngeblieben und hatte gegen übertriebene Sicherheitsvorkehrungen und Terroristenangst protestiert: "Der Terrorist bin ich", schrieb Straub.

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Warum gibt es keine Filme mehr, die 85 oder 88 oder gepflegte 90 Minuten lang sind? Drei Stunden Filmlänge, das zeigt jedenfalls fast immer - auch bei Lynch, nicht in Spike Lees Dokumentation - eine Unfähigkeit zu Selbstbeschränkung, ein eitles Festhalten an jeder gedrehten Sekunde.

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Der Zusammenhang zwischen Harndrang und Filmrezeption, jedem Kinozuschauer evident, gehört zu jenen Dingen, die noch genauerer Erforschung harren. Während das Thema des Kritikerschlafs durch Michael Althen - zuletzt erst in seinem FAZ-Text zu INLAND EMPIRE - und ein paar unfreiwillige Probanden recht gut präsent ist. Man geht ja unter anderem womöglich ins Kino, um seinen Körper zu vergessen. Man meidet das Stinkekino Sala Perla, man setzt sich in die erste Reihe um seine Beine ausstrecken zu können, aber nicht im Perla, weil man da dann die englischen Untertitel nicht mehr lesen kann, und im Pala Lido nicht in die jeweils erste Reihe nach den beiden Zwischengängen, weil man dann mit ausgestreckten Beinen - dies ist der empirische Beweis, dass Italiener eben kürzere Beine haben - die Stufe irgendwo schmerzhaft auf die Unterschenkeln drücken spürt. Darum sitzt man hier am Reihenrand, aber natürlich bitte nur an den linken Begrenzungen, damit man dann mit ausgestreckten Beinen nach innen hin, zur Leinwand, blicken kann, und sich nicht den Oberkörper verdreht. Wem solche Überlegungen - die wir alle hier, bis auf die ganz Stumpfen, irgendwie anstellen, übertrieben und lächerlich erscheinen, oder wer das Schreiben hier nur für den üblichen Kritikernarzismus hält, dem kann man empfehlen, einfach mal an zehn Tagen 40 Filme unter hiesigen Bedingungen anzugucken.

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Pressekonferenz. Lindsay Lohan und Christian Slater. Keine einzige Frage an Slater, eine beantwortet er trotzdem. An Lohan: "Do you think, Venice is a wonderful city?"

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Ist Venedig 2006 nun ein gutes Festival? Schwer zu sagen. Denkt man 2005 zurück, das uns damals wie heute als eher durchschnittlich erscheint, erinnern wir uns immerhin noch an die Filme von Park Chan-wook, George Clooney und Ang Lee, an VERS LE SUD, PERPETOUUS MOTION und die Retro zu chinesischen Filmen. Ähnliches gibt es diesmal nicht, und schon gar nicht gibt es einen Film, der einen so aus allem Verdruß herausriß, wie vor zwei Jahren L'INTRUS von Claire Denis.
Der Berliner Verleiher Thorsten Frehse, zum ersten Mal hier, findet alles miserabel. Das könne doch mit der Berlinale nicht einmal ansatzweise mithalten, findet er - und trifft zumindest die Stimmung. Die Fakten, jedenfalls abseits des Wettbewerbs, wohl auch. Nachdem Venedig den Kampf mit Cannes bereits vor Jahren verloren hat, verliert es unter dem immer schwarzgekleideten Marco Müller jetzt den mit Berlin. Besucht man dann in den Räumen des Arsenale auf der anderen Seite der Lagune noch die Freitag eröffnete Architekturbiennale, stellen sich noch ganz andere Fragen: Hier ist das Publikum sexy und jung, hier werden wichtige Fragen in neuen Stilen und Formen verhandelt. Bei der Mostra gibt es zu viele Alte und Vulgäre, "da hängen die ganzen Nerds rum", so Josef Schnelle, "Man muss sich fragen, ob das Kino nicht seine Funktion verliert."

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Man soll derartige Auszeichnungen auch nicht überschätzen. Aber indem Publikumsfavoriten wie Alfonso Cuarons Science-Fiction CHILDREN OF MAN und Stephen Frears gefälliges Königsdrama nur - klug gewählte und berechtigte - Trostpreise blieben, gab die Jury insgesamt jedenfalls ein eindeutiges Signal: Aufgabe eines Festivals ist es, den Blick vom Markt abzulenken, Filmen, Haltungen und Themen ein Forum zu bieten, die anderenorts untergingen. Und es im Zweifelsfall nicht mit den Biedermännern zu halten, sondern mit den Brandstiftern. Weil das zu oft vergessen wird, kann man mit dem durchschnittlichen Jahr Venedig 2006 doch noch zufrieden sein.

Rüdiger Suchsland

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