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Widersprüche zum Auftakt am Lido
"Es muss sich alles verändern, damit alles so bleibt,
wie es ist." - der berühmteste Satz aus Lampedusas
"Il Gattopardo" gilt für Venedig noch mehr,
als für jede andere italienische Stadt, Rom vielleicht
ausgenommen. Und auch in Venedig, wo die Dinge - in der Stadt,
aber auch beim Festival - in der Regel so bleiben, wie sie
schon immer waren, sorgen alljährlich kleine Veränderungen
dafür, dass man das nicht bemerkt.
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Dieses Jahr ist das uralte "CINZANO"-Reklameschild,
das einen immer vom Dach des "Hotel Riviera", direkt
hinter der Anlegestelle des Lido schon von weitem begrüßte,
verschwunden. Auch sonst glaubt man in diesem Jahr noch deutlichere
Veränderungen zu bemerken als schon im Vorjahr. Hektische
Betriebsamkeit herrscht überall, die Preise sind noch
unverschämter, die Bedienungen noch frecher, als 2005,
doch das alles nimmt man in Kauf, weil es hier natürlich
auch sehr schön ist und weil die Filme locken.
Die Arbeitsbedingungen bim Festival sind es jedenfalls nicht,
wegen denen man hierher kommt. Das freundliche Lächeln
der Mitarbeiter übertüncht nur mühsam, wie
überfordert sie alle sind, am ersten Tag klappt organisatorisch
wie üblich nichts, am zweiten zu wenig, als das man mit
einem "kann ja jedem passieren" gern darüber
hinwegginge. Unangenehm vor allem die Sicherheitskontrollen,
die schärfer sind, als in Cannes, Berlin, San Sebastian
und Locarno zusammen und im schlechten Sinne "typisch
italienisch" daherkommen, das heißt unglaublich
bürokratisch, aber es geht trotzdem chaotisch zu.
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Und nach dem Sinn irgendeiner Vorschrift sollte man sowieso
nicht fragen. Zum Beispiel muss man im Kino "Palabiennale"
(das sowieso schon weitab liegt, und Akkreditierte noch einen
extra Umweg gehen müssen, um dann doch im gleichen Eingangsbereich
zu landen) Tasche oder Rücksack abgeben, was man nirgendwo
sonst muss, und steht dann nachdem Kino stundenlang mit einer
Garderobenmarke an, um ihn wieder zurückzubekommen. Durch
eine flughafenähnliche Sicherheitsschleuse muss man natürlich
trotzdem. Für Verdruss sorgt auch, dass einen die Saalwächter
immer nach Ende des Films irgendwo zu einem Extraausgang herausschleusen
möchten, was in erster Linie Riesenumwege zur Folge hat.
Das regt dann vor allem die Phantasie der Kritiker an, Gründe
zu finden, warum man doch zum normalen Ausgang raus muss.
In der Regel tut es ein "Ich will auf die Toilette."
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Aber genug mit dem Gemeckere (über die diesjährigen
lustigen Einfälle der Blödmänner im Presseraum
schreiben wir morgen), bevor wir zu den Filmen kommen, wollen
wir das Festival auch mal loben: Die Programmierung, der Rhythmus
der Aufeinanderfolge der Vorführungen scheint diesmal
von Festivalleiter Marco Müller jedenfalls mit ganz besonderem
Bedacht vorgenommen worden zu sein, so gut korrespondieren
die Filme eines jeweiligen Tages bisher thematisch miteinander
- und Venedig präsentierte sich zum Auftakt der Jagd
um den "Goldenen Löwen" als ein Festival der
Widersprüche: Zweimal die Geschichte Hollywoods, zweimal
die Gegenwart der US-Politik, Stories, Helden und Realitäten
zwischen Moral und Amoral. Und vor allem stand, so oder so,
an den ersten Tagen des Filmfestivals von Venedig wieder einmal
Amerika im Mittelpunkt, mit seinen Schattenseiten, wie mit
seinem Glanz.
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Auf die überaus gelungene Eröffnung mit Brian DePalmas
Thriller-Meisterwerk THE BLACK DAHLIA (auf den wir demnächst
noch einmal genauer zurückkommen werden) folgte HOLLYWOODLAND,
das Kinodebüt des mit TV-Arbeiten bekannt gewordenen
Allan Coulter - ein Werk, das fast wie eine Fortsetzung von
DePalmas düster-beklemmendem Neo-Noir-Portrait der Filmszene
von Los Angeles im Jahr 1947 wirkt: Angesiedelt zehn Jahre
später, erzählt HOLLYWOODLAND gleichfalls von einem
spektakulären Tod inmitten der Glamourwelt von Hollywoods
Glanzzeit. Und wie bei DePalma geht es um eine Person, die
tatsächlich existierte: 1959 wurde George Reeves - er
hieß wirklich so -, der landesweit bekannte Star der
TV-Serie "Superman" tot aufgefunden. Hier nun beginnt
die Fiktion: Während die Polizei von Selbstmord spricht,
schöpft ein Privatdetektiv Verdacht, stößt
schnell auf Merkwürdigkeiten und dringt im Zuge seiner
Recherchen immer tiefer in ein Netzwerk voller Geheimnisse
vor - die dunkle Wahrheit des Showbiz. Elegant und voller
Nostalgie inszeniert, getragen von seinen wunderbaren Darstellern
Diane Lane, Adrien Brody, Bob Hoskins und Ben Affleck gelingt
Coulter ein überzeugendes Zeitportrait voller Charme
und Verstand, auch wenn ihm die letzte Vielschichtigkeit und
Abgründigkeit DePalmas fehlt.
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Genug der Abgründe gibt es dafür in den beiden
neuen Filmen der Kinomoralisten Spike Lee und Oliver Stone.
Stones WORLD TRADE CENTER verwandelt die Tragödie in
ein tränendrüsiges Drama und erzählt das Schicksal
der beiden letzten Überlebenden der Rettungsmannschaften
des 11.9.2001 als eindimensionale Heldensaga, voll plumpster
und undifferenziertester Ideologie. Von Venedig-Besuchern
schnell in "World Tear Center" umbenannt zeigt der
Film zunächst einmal alle Tugenden Stones, der das Chaos
zu inszenieren vermag wie nur wenige sonst: Ein packender
Beginn, Dramatik pur, schnelle Schnitte prägen den bombastischen
Auftakt. Doch sobald das WTC zusammengebrochen ist, wird der
Film zum stillen Kammerspiel. Zwei Menschen liegen schwer
verletzt und unfähig, sich zu bewegen unter tonnenschweren
Trümmern, mit der Außenwelt können sie nicht
kommunizieren, nur miteinander. Gegengeschnitten werden die
Familien. Lauter heile Welt, viel Liebe, Kindersegen, anständige
Suburb-Werte und Applepie backende propere Mütter. Die
Männer im WTC sagen Dinge wie "We're gonna make
it" und die Mütter draußen "I feel, they
are alive." Zu hören bekommen sie "Everything
will be alright." Das Obszönste daran ist, dass
es ja wirklich bestimmt viele Leute gegeben hat, die genau
das zu hören bekamen, und ihre Angehörigen nie wieder
sahen. Stones Film versucht den ein wenig plumpen und aus
europäischer Sicht naiven "urmerikanischen"
Individualismus gerade an einem Beispiel zu bestätigen,
wo ihm von der Wirklichkeit die Grenzen aufgezeigt wurden
- ein Unternehmen das schief gehen muss. So bleibt nach diesem
Wahnsinnskitsch außer der Überraschung darüber,
dass ein so intelligenter Regisseur so einen dummen Film drehen
kann vor allem der Gedanke: Er brauchte wohl nach den ganzen
Flops wieder einen Kassenerfolg und ging daher auf Nummer
Sicher. Doch alle Differenziertheit früherer Stone-Werke
fehlt diesmal.
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Davon bietet dafür Spike Lee genug. Seine monumentale,
über vier Stunden lange Dokumentation WHEN THE LEAVES
BROKE trägt den Untertitel "Ein Requiem in vier
Akten." Die Totenerinnerung gilt der Stadt New Orleans,
die vor genau einem Jahr im Sturm und den Fluten des Hurrikan
"Katrina" unterging. Neben den Ereignissen beschreibt
Lee detailliert die kulturelle Katastrophe die folgte, Plünderungen
und Gewalt, der Zusammenbruch fast jeder Ordnung, sowie die
politischen und sozialen Geschehnisse und Auswirkungen. Hierzu
gehören erschreckend planlose Hilfsmaßnahmen, sowie
das Missmanagement der Politik, die das Geschehen zuerst ignorierte,
sich dann stritt, um es schließlich vor allem zur Selbstdarstellung
zu instrumentalisieren. Erschütternde, oft beklemmende
Bilder, die die Vorgänge in allen Details, gespickt mit
Zeitzeugen darlegen, und denen Lee mit Montage und Musik ein
filmisches Gesicht gibt. Lee wäre nicht der, der er ist,
wäre sein Blick nicht zutiefst human, am Schicksal der
einfachen Menschen interessiert, würde er aber nicht
zugleich auch die offizielle Version infrage stellen: Überflutete
man gar bestimmte Viertel mit Absicht, um sie den Spekulanten
preiszugeben?
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Ein Verschwörungsszenario, das auch zu Oliver Stone
gepasst hätte, entwickelt auch ein europäischer
Film: Santiago Amgorenas portugiesisch-französische Produktion
QUELQUES JOURS EN SEPTEMBRE. Rund um das Attentat aufs "Word
Trade Center" entfaltet Amigorena einen virtuosen Geheimdienstthriller
um arabische Spekulanten und CIA-Komplotte. Das alles spielt
größtenteils in Venedig, und der alte Spruch "Venedig
sehen und sterben" wird sich gleich für mehrere
Figuren wahr. Ein kurzweiliger Blick auf 9/11, interessanter
und weniger zynisch als der von Stone, der den Anschlag für
plumpen Patriotismus instrumentalisiert. Besonders gefallen
die Darsteller, allen voran Juliette Binoche als überaus
kampfbereite Agentin und John Turturro als Killer in Mönchskutte.
Rüdiger Suchsland
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