KINO MÜNCHEN FILM AKTUELL ARCHIV FORUM LINKS SITEMAP
Venedig 2006 03.09.2006
 
 
Tagebuchnotitzen, 2. Folge
Wenn die Killer Kutten tragen
WHERE THE TRUTH LIES
Tod in der Glamourwelt: Diane Lane und Jeffrey DeMunn in HOLLYWOODLAND
 
 
 
 

Widersprüche zum Auftakt am Lido

"Es muss sich alles verändern, damit alles so bleibt, wie es ist." - der berühmteste Satz aus Lampedusas "Il Gattopardo" gilt für Venedig noch mehr, als für jede andere italienische Stadt, Rom vielleicht ausgenommen. Und auch in Venedig, wo die Dinge - in der Stadt, aber auch beim Festival - in der Regel so bleiben, wie sie schon immer waren, sorgen alljährlich kleine Veränderungen dafür, dass man das nicht bemerkt.

+++

Dieses Jahr ist das uralte "CINZANO"-Reklameschild, das einen immer vom Dach des "Hotel Riviera", direkt hinter der Anlegestelle des Lido schon von weitem begrüßte, verschwunden. Auch sonst glaubt man in diesem Jahr noch deutlichere Veränderungen zu bemerken als schon im Vorjahr. Hektische Betriebsamkeit herrscht überall, die Preise sind noch unverschämter, die Bedienungen noch frecher, als 2005, doch das alles nimmt man in Kauf, weil es hier natürlich auch sehr schön ist und weil die Filme locken.
Die Arbeitsbedingungen bim Festival sind es jedenfalls nicht, wegen denen man hierher kommt. Das freundliche Lächeln der Mitarbeiter übertüncht nur mühsam, wie überfordert sie alle sind, am ersten Tag klappt organisatorisch wie üblich nichts, am zweiten zu wenig, als das man mit einem "kann ja jedem passieren" gern darüber hinwegginge. Unangenehm vor allem die Sicherheitskontrollen, die schärfer sind, als in Cannes, Berlin, San Sebastian und Locarno zusammen und im schlechten Sinne "typisch italienisch" daherkommen, das heißt unglaublich bürokratisch, aber es geht trotzdem chaotisch zu.

+++

Und nach dem Sinn irgendeiner Vorschrift sollte man sowieso nicht fragen. Zum Beispiel muss man im Kino "Palabiennale" (das sowieso schon weitab liegt, und Akkreditierte noch einen extra Umweg gehen müssen, um dann doch im gleichen Eingangsbereich zu landen) Tasche oder Rücksack abgeben, was man nirgendwo sonst muss, und steht dann nachdem Kino stundenlang mit einer Garderobenmarke an, um ihn wieder zurückzubekommen. Durch eine flughafenähnliche Sicherheitsschleuse muss man natürlich trotzdem. Für Verdruss sorgt auch, dass einen die Saalwächter immer nach Ende des Films irgendwo zu einem Extraausgang herausschleusen möchten, was in erster Linie Riesenumwege zur Folge hat. Das regt dann vor allem die Phantasie der Kritiker an, Gründe zu finden, warum man doch zum normalen Ausgang raus muss. In der Regel tut es ein "Ich will auf die Toilette."

+++

Aber genug mit dem Gemeckere (über die diesjährigen lustigen Einfälle der Blödmänner im Presseraum schreiben wir morgen), bevor wir zu den Filmen kommen, wollen wir das Festival auch mal loben: Die Programmierung, der Rhythmus der Aufeinanderfolge der Vorführungen scheint diesmal von Festivalleiter Marco Müller jedenfalls mit ganz besonderem Bedacht vorgenommen worden zu sein, so gut korrespondieren die Filme eines jeweiligen Tages bisher thematisch miteinander - und Venedig präsentierte sich zum Auftakt der Jagd um den "Goldenen Löwen" als ein Festival der Widersprüche: Zweimal die Geschichte Hollywoods, zweimal die Gegenwart der US-Politik, Stories, Helden und Realitäten zwischen Moral und Amoral. Und vor allem stand, so oder so, an den ersten Tagen des Filmfestivals von Venedig wieder einmal Amerika im Mittelpunkt, mit seinen Schattenseiten, wie mit seinem Glanz.

+++

Auf die überaus gelungene Eröffnung mit Brian DePalmas Thriller-Meisterwerk THE BLACK DAHLIA (auf den wir demnächst noch einmal genauer zurückkommen werden) folgte HOLLYWOODLAND, das Kinodebüt des mit TV-Arbeiten bekannt gewordenen Allan Coulter - ein Werk, das fast wie eine Fortsetzung von DePalmas düster-beklemmendem Neo-Noir-Portrait der Filmszene von Los Angeles im Jahr 1947 wirkt: Angesiedelt zehn Jahre später, erzählt HOLLYWOODLAND gleichfalls von einem spektakulären Tod inmitten der Glamourwelt von Hollywoods Glanzzeit. Und wie bei DePalma geht es um eine Person, die tatsächlich existierte: 1959 wurde George Reeves - er hieß wirklich so -, der landesweit bekannte Star der TV-Serie "Superman" tot aufgefunden. Hier nun beginnt die Fiktion: Während die Polizei von Selbstmord spricht, schöpft ein Privatdetektiv Verdacht, stößt schnell auf Merkwürdigkeiten und dringt im Zuge seiner Recherchen immer tiefer in ein Netzwerk voller Geheimnisse vor - die dunkle Wahrheit des Showbiz. Elegant und voller Nostalgie inszeniert, getragen von seinen wunderbaren Darstellern Diane Lane, Adrien Brody, Bob Hoskins und Ben Affleck gelingt Coulter ein überzeugendes Zeitportrait voller Charme und Verstand, auch wenn ihm die letzte Vielschichtigkeit und Abgründigkeit DePalmas fehlt.

+++

Genug der Abgründe gibt es dafür in den beiden neuen Filmen der Kinomoralisten Spike Lee und Oliver Stone. Stones WORLD TRADE CENTER verwandelt die Tragödie in ein tränendrüsiges Drama und erzählt das Schicksal der beiden letzten Überlebenden der Rettungsmannschaften des 11.9.2001 als eindimensionale Heldensaga, voll plumpster und undifferenziertester Ideologie. Von Venedig-Besuchern schnell in "World Tear Center" umbenannt zeigt der Film zunächst einmal alle Tugenden Stones, der das Chaos zu inszenieren vermag wie nur wenige sonst: Ein packender Beginn, Dramatik pur, schnelle Schnitte prägen den bombastischen Auftakt. Doch sobald das WTC zusammengebrochen ist, wird der Film zum stillen Kammerspiel. Zwei Menschen liegen schwer verletzt und unfähig, sich zu bewegen unter tonnenschweren Trümmern, mit der Außenwelt können sie nicht kommunizieren, nur miteinander. Gegengeschnitten werden die Familien. Lauter heile Welt, viel Liebe, Kindersegen, anständige Suburb-Werte und Applepie backende propere Mütter. Die Männer im WTC sagen Dinge wie "We're gonna make it" und die Mütter draußen "I feel, they are alive." Zu hören bekommen sie "Everything will be alright." Das Obszönste daran ist, dass es ja wirklich bestimmt viele Leute gegeben hat, die genau das zu hören bekamen, und ihre Angehörigen nie wieder sahen. Stones Film versucht den ein wenig plumpen und aus europäischer Sicht naiven "urmerikanischen" Individualismus gerade an einem Beispiel zu bestätigen, wo ihm von der Wirklichkeit die Grenzen aufgezeigt wurden - ein Unternehmen das schief gehen muss. So bleibt nach diesem Wahnsinnskitsch außer der Überraschung darüber, dass ein so intelligenter Regisseur so einen dummen Film drehen kann vor allem der Gedanke: Er brauchte wohl nach den ganzen Flops wieder einen Kassenerfolg und ging daher auf Nummer Sicher. Doch alle Differenziertheit früherer Stone-Werke fehlt diesmal.

+++

Davon bietet dafür Spike Lee genug. Seine monumentale, über vier Stunden lange Dokumentation WHEN THE LEAVES BROKE trägt den Untertitel "Ein Requiem in vier Akten." Die Totenerinnerung gilt der Stadt New Orleans, die vor genau einem Jahr im Sturm und den Fluten des Hurrikan "Katrina" unterging. Neben den Ereignissen beschreibt Lee detailliert die kulturelle Katastrophe die folgte, Plünderungen und Gewalt, der Zusammenbruch fast jeder Ordnung, sowie die politischen und sozialen Geschehnisse und Auswirkungen. Hierzu gehören erschreckend planlose Hilfsmaßnahmen, sowie das Missmanagement der Politik, die das Geschehen zuerst ignorierte, sich dann stritt, um es schließlich vor allem zur Selbstdarstellung zu instrumentalisieren. Erschütternde, oft beklemmende Bilder, die die Vorgänge in allen Details, gespickt mit Zeitzeugen darlegen, und denen Lee mit Montage und Musik ein filmisches Gesicht gibt. Lee wäre nicht der, der er ist, wäre sein Blick nicht zutiefst human, am Schicksal der einfachen Menschen interessiert, würde er aber nicht zugleich auch die offizielle Version infrage stellen: Überflutete man gar bestimmte Viertel mit Absicht, um sie den Spekulanten preiszugeben?

+++

Ein Verschwörungsszenario, das auch zu Oliver Stone gepasst hätte, entwickelt auch ein europäischer Film: Santiago Amgorenas portugiesisch-französische Produktion QUELQUES JOURS EN SEPTEMBRE. Rund um das Attentat aufs "Word Trade Center" entfaltet Amigorena einen virtuosen Geheimdienstthriller um arabische Spekulanten und CIA-Komplotte. Das alles spielt größtenteils in Venedig, und der alte Spruch "Venedig sehen und sterben" wird sich gleich für mehrere Figuren wahr. Ein kurzweiliger Blick auf 9/11, interessanter und weniger zynisch als der von Stone, der den Anschlag für plumpen Patriotismus instrumentalisiert. Besonders gefallen die Darsteller, allen voran Juliette Binoche als überaus kampfbereite Agentin und John Turturro als Killer in Mönchskutte.

Rüdiger Suchsland

  top
   
 
 
[KINO MÜNCHEN] [FILM AKTUELL] [ARCHIV] [FORUM] [LINKS] [SITEMAP] [HOME]