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Cannes 2006 25.05.2006
 
 
Tagebuchnotizen, 5. Folge
"Girls just wanna have fun"

MARIE ATOINETTE von Sofia Coppola

 
 
 
 

Die Grammatik der Kälte und der Karneval der Tiere: Sofia Coppola rockt Versailles und Bruno Dumont seziert das Leben und die Kulturgeschichte

Heute war wieder so ein Tag, wie man ihn nur in Cannes erleben kann - die Sonne scheint und das Festival kocht. Endlich hat der Wettbewerb die drögen Eigenzitate der selbstverliebten "Cannes-Familie" um Almodóvar, Kaurismäki und Loach hinter sich gelassen und das Niveau erreicht, das man von diesem Festival verlangen muss.

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Dabei hatte es ganz furchtbar angefangen: Um 7.25 aus dem Bett gequält um pünktlich zu BABEL von AMORRES PERROS-Regisseur Alejandro González Inárritu zu kommen, doch der Saal war schon eine Viertelstunde vorher "complet", und selbst mein Pidgin-Französisch, das mich immerhin gegenüber dem Pidgin-Englisch der Asiaten und dem Amerikanisch der Amerikaner eindeutig für besondere Gefälligkeiten des Festivals qualifiziert, konnte diesmal auch nichts mehr bewirken. Also schnell herübergeeilt, ins Lumière zur anderen Pressevorführung. Aber auch Sofia Coppola war "complet". Offenbar ist ganz Cannes eine Stunde als früher aufgestanden, um sich zwischen diesen beiden Filmen aufzuteilen - eine Erklärung immerhin für das gestern um Mitternacht schon verdächtig leere "Petit Majestic".
Was für ein Tagesanfang. Da saß ich dann um 5 nach halb 9 und hatte nichts zu tun. Erst um 9 öffnen die Presseräume, erst um halb 10 der Markt, die Fächer waren noch leer, und selbst das Festivalbüro öffnet erst nach 9 - keine Chance also, sich jetzt mal kurz über die Idiotie zu beschweren, diese beiden Filme zusammen zu legen, und so seinen Zorn (und kleinere Selbstvorwürfe) wieder auf Normalmaß herunterzufahren.

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Also erstmal noch ein Kaffee, dann ein Wasser, dann Zeitunglesen - Momente der Leere, in denen man wieder einen Blick für die Umgebung bekommt, für Menschen, Palmen, das Wetter und das Meer. Dann in den Presseraum zum Schreiben und um 11 in GUISI von Su Chao Pin. Ein mäßiger Thriller, der hier außer Konkurrenz läuft, und sich nicht zwischen Mysteryhorror und Polizeifilm entscheiden kann - und gerade darum vielleicht manchen als cineastisch gilt?

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Mit Coppola muss es jetzt um 14.30 Uhr klappen. Die nette Pressefrau meint, dass ich früh da sein sollte, "am besten vor 14 Uhr". So bin ich um 13.40 da, bekomme einen Superplatz, warte 50 Minuten im Saal auf den Film, und sehe - ein Meisterwerk!

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MARIE ANTOINETTE ist das Gegenteil einer BBC-Doku, obwohl das Portrait von Ludwig XVI. als bemühter, aber spoileder Nerd vermutlich ziemlich treffend ist. Coppola zeigt, wie es sich anfühlt, erst Prinzessin und dann selbst eine Königin zu sein, wie es ist, wenn man berühmt ist und von allen und immerzu angeguckt wird. Sie zeigt aber ebenso, dass es auch Spaß macht, Königin von Frankreich zu sein, dass es schön sein kann, reich und im Luxus zu leben. Man muss hier keine biografischen Parallelen zur Regisseurin ziehen - die sie erwartungsgemäß auch weit von sich weißt, um zu spüren, dass hier eine kennt, was sie zeigt.
Modern daran ist, dass es Coppola gelingt, im Schicksal einer vielleicht nicht einmal besonders sympathischen oder interessanten Frau das Zeitlose zu entdecken, und nebenbei noch etwas vom "Celebrity Kult" unserer Tage zu erzählen. Sie zeigt ein Bild des 18. Jahrhunderts, das weder Kubrick noch Renoir wiederholt, MARIE ANTOINETTE zeigt keine Tragödie, noch bietet sie Systemanalyse. Ihre Königin, von Kirsten Dunst nuanciert gespielt, ist ein Teenager voller Sehnsüchte und Unsicherheit, später ein einsamer, verletzlicher Mensch, der erst dem Hof, dann der Yellow Press und am Ende der Masse ausgesetzt ist, eine junge Frau, die in die Kälte kam. Da ist ihr Blick dann doch Kubrick-haft kühl, aber er richtet sich aufs Private und nimmt dann wieder Anteil, identifiziert sich mit der Figur im Zentrum.
Die Erfahrungen einer jungen Frau mögen zu allen Zeiten gleich sein. Insofern könnte ein zweites Ansehen des Films, durch die Brille des Feminismus hier wohl auch fündig werden, besonders wenn es um das Rollenspiel und das aus der Rolle fallen geht. Sofort begreift man, dass MARIE ANTOINETTE ein Little Girl Lost ist, wie Coppola es in ihrem ersten, vom Vater verfilmten Kurzfilmscript LIFE WITHOUT ZOE schon beschrieb, dass der Film vor allem von Einsamkeit handelt, und man darf sicher sein, dass viele Kritiken später mit "Lost in Versailles" überschrieben sein werden - tatsächlich sind Ähnlichkeiten zu Coppolas letztem Vorgänger unübersehbar.

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Trotzdem erweckte der Film gespaltene Reaktionen, denn er vergrault all jene, die LOST IN TRANSLATION vor allem lustig fanden. Das ist MARIE ANTOINETTE nämlich kaum. Allenfalls wo die Absurdität des Hof-Zeremoniells aufs Korn genommen wird. Aber wenn dann Dialogsätze fallen wie "This is rediculous." - "This Madame is Versailles" dann lachen zwar die Leute erleichtert auf, aber der Fim verrät seine differenzierte Atmosphäre einen von Unverständnis geprägten amerikanischen Blick. Denn dieser Dialog wäre nur dann klug, wenn er keine Lacher beim Publikum provozierte, sondern diesem irgendwie vorher klargemacht wäre, was Versailles eigentlich damals war, dass dieser Satz für seinen Sprecher einen Sinn machte, über den nur diejenigen höhnisch lachten, die der Königin später den Kopf abschlugen.

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Ich würde eher "Rocking Versailles" titeln. Denn der Hof ist in Coppolas Augen vor allem ein Glam-Paradies. Der Vorspann des Films zeigt pinkrosa Schrift auf schwarzem Grund, der weitere Verlauf bietet ein Popmärchen, dass immer wieder die scheinbar vorgegeben Formen überschreitet, und nicht akzeptieren will, wie "man von Marie Antoinette zu erzählen hat." Drei Bilder überragen alle anderen: Im ersten, in den Vorspann eingeschnittenen liegt Marie Antoinette im Nachthemds auf einem Sofa. Eine Dienerin pedikürt sie, und im Raum in beigen Pastellfarben stehen lauter rosafarbene Torten. Kirsten Dunst schaut direkt, verführerisch und ironisch lächelnd in die Kamera, so als wolle sie sagen: "Das mit dem 'dann sollen sie doch Kuchen essen'-Spruch wäre dann schon mal erledigt."
Das zweite Bild ist ein Maskenball. Die Gesellschaft tanzt zu moderner Popmusik, fast wirkt es wie ein Rave. Plötzlich ist der Film wilder geschnitten, bekommt die schon zuvor immer präsente Ekstase durch die Bilder Luft. Da zeigt der Film deutlicher, dass es ihm auch um Leidenschaft geht, darum, dass auch im 18. Jahrhundert Girls manchmal einfach fun haben und eine Nacht durchmachen wollten.
Das dritte Bild ist ein schneller Zusammenschnitt von Luxusgütern, vor allem Schuhen. Mitten in den ganzen kostbaren 18-Jahrhundert-Schuhen sieht man einen kurzen Sekundenbruchteil lang ein hellblaues Paar Converse-Schuhe. Auch wenn sich so ein Moment - sofern ich nichts übersehen habe - nicht wiederholt, sagt er alles über die Haltung der Regisseurin.
MARIE ANTOINETTE ist, wie von Coppola gewohnt, nicht sehr plottig. Sie erzählt nach seltsam zögerlichem Beginn lässig, driftet durchs 18. Jahrhundert, reiht Szenenfragmente aneinander ohne die von Dramaturgen gern verlangten Emotionskurven und Höhepunkte. Sie verwendet fast nur moderne Musik, und für ihre Vorliebe für Pastellfarben gibt die Epoche reichlich Nahrung.

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Wie gesagt, die Reaktion ist gespalten. Aber das ist besser, als die früher erwähnte Gemeindebildung oder das lauwarme Einverständnis, das hier viele Filme erfahren. "Da versteht man wenigstens, warum es eine Revolution gegeben hat." sagt zum Beispiel Knut Elstermann nach dem Film, ein völliges Missverständnis, denn die Dekadenz, die Coppola natürlich mit dieser Versailler Überflussgesellschaft auch beschreibt, ist unsere eigene. Mit Pop meint Knut könnte man natürlich alles entschuldigen. Stimmt, aber mit so einem Satz kann man sich auch alles vom Leib halten. Und um Gefühle müsste es doch gehen, so etwas wie Erschütterung, Wonne, oder meinetwegen eben auch Ekel. Hauptsache nicht lauwarm.

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Im Wettbewerb gab es auch noch Lucas Belvaux' LA RAISON DU PLUS FAIBLE ("Das Recht der Schwachen"). Von Belvaux hatte man vielleicht etwas mehr erwartet, als das. Es beginnt zwar hervorragend, fast als Dokumentarfilm: Ein Riesenmagnet hebt tonnenschwere Stahlplatten in einen LKW. Dann werden Arbeitsverhältnisse gezeigt, das Leben von vier Menschen, Geldnöte, Arbeiterstolz, als Kartenspieler in der Kneipe lernen sie sich kennen. Eine Situation wird beschrieben - hier zeigt sich die Meisterschaft dieses Regisseurs. Zum running gag wird, dass Maschinen nicht funktionieren. Der Vater hilft dem Sohn, lehrt ihn Psalme. Aber zu klein, zu neckisch und zu niedlich ist das Glück der Arbeiter, als dass wir es wirklich glauben können (und wollen). Pathetisch, sozialmoralisch, pädagogisch fließt der Film dahin und mutiert zum Genrestoff, den man zwar gern sieht, den aber so die Asiaten 1000mal besser inszenieren. Denn das Recht der Schwachen ist die Freiheit zu einem Raubüberfall, der vorhersehbar schief läuft. Der letzte Räuber wirft das Geld von einem Hochhaus den Schaulustigen zu, und wird dann von Scharfschützen der Polizei wie ein Wild abgeknallt, und die Kamera reißt auf und fliegt über die Stadt - so ist alles hier, heißt das wohl - die Welt ist böse, das Kapital erst recht.

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Das Gegenteil solcher Herzenswärme garantiert schon der Name Bruno Dumont. Bisher mein persönlicher Favorit. FLANDRES ist eine Ehrenrettung des europäischen Autorenfilms, gerade weil er unter anderem auch ein Gegenkino ist zu allem, was man bisher hier gesehen hatte: Keine bloße Selbstwiederholung und keine Niedlichkeit der reinen guten Menschen in einer bösen, bösen Welt. Und keine wiederauferstehenden Mütter. Dumont zeigt ganz nebenbei, wie unbedeutend diese Luxusprobleme und Luxuskonflikte im Grunde sind, die die anderen Filme beschäftigen. Und dass man den Krieg auch ganz anders zeigen kann, als Ken Loach.

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Denn um den Krieg geht es, unter anderem. Dumont, der sich bereits mit LA VIE DE JESUS, L'HUMANITÉ und 29 PALMS um die Nachfolge von Michael Haneke bemüht hat, zeigt Reflexionen über die Gewalt und Desastres de la Guerra. Vielleicht heißt der Film auch schon darum FLANDRES, weil man an den Ersten Weltkrieg denken soll, und an die gefürchteten flandrischen Landsknechte aus dem 30jährigen Krieg. Später wird man auch Soldaten sehen, die reiten, wie die Soldaten auf Bildern des Barock. Dumont beginnt mit Szenen aus dem Bauerleben in Nordfrankreich. Tatsächlich erinnern sie in Komposition und Farbumgang auch an niederländische Landschaftsmalerei. Das Leben ist primitiv und stupide. Es ist kalt, es ist feucht, die Leute sitzen im Matsch, am Feuer. Man sieht André, einen jungen Bauern. Er füttert die Schweine, fährt Traktor, putzt den Stall und schläft ab und zu mit Barbe, seiner Freundin aus der Jugendzeit. Er liebt Barbe, die aussieht, wie die Mädchen bei Vermeer, kann das aber nicht sagen, wie er sowieso nicht viel sagt. Und wenn ihn die Leute darauf ansprechen - "Ich denke ihr seid ein Paar" - leugnet er seine Liebe. Barbe liebt auch André, aber weil er es nicht sagen kann, und sie sein Schweigen nicht erträgt, schläft sie auch mit anderen Männern, und im Dorf sagt man, sie eine Schlampe. Dabei ist sie eigentlich das Gegenteil, ganz unschuldig.

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Dann werden André und Blondel, Barbes neuer Lover, zum Militär eingezogen. Am letzten Abend sitzt sie zwischen den zweien und knutscht mit beiden: "I don't want you to leave, I don't want you to leave."
Am nächsten Morgen singen sie die Marseillaise. Dann dienen sie in irgendeinem schmutzigen Krieg - den die amerikanischen Zeitungen als Golfkrieg identifizieren, aber da kämpfen die Franzosen nicht - als Kavallerie in der Wüste. Man erinnert sich an Claire Denis' BEAU TRAVAIL, so verloren sieht der Haufen in der Landschaft aus. Es könnte all das im 19. Jahrhundert spielen, man assoziiert Koloniales, Imperiales, ein Hauch von Malicks THE NEW WORLD auch, der Film benutzt diese Impressionen, um sie zu brechen.
Denn er zeigt kurz und lakonisch den Krieg gegen Kindersoldaten, einen Hinterhalt, französische Soldaten, die töten und morden und vergewaltigen - wie im Roman "Blood Meridian" ein sinnloses gewalttätiges Dasein aus Zufälligkeit und Amoral; Facetten der Brutalität, wie vorher Facetten der Weißtöne in der flandrischen Winterlandschaft. Jetzt werden sie gefangen, viele getötet, gefoltert, André und Blondel entkommen, Blondel verwundet, André lässt ihn zurück. Barbe zuhause hat derweil auf beide gewartet. Als sie André sieht ruft sie: " I hab gesehen, was Du getan hast. Du hadt Zivilisten getötet und hast ihn zurückgelassen." Er leugnet. Dann gibt er zu: "You were right, I am a bastard." Sie umarmt ihn. Er: "Je t'aime." - "Moi aussi." Und der Film ist aus.

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Man muss es sehen, hier mehr noch als sowieso. Eine Geschichte über die Unschuld am Anfang. Den Sündenfall. Die Beichte am Ende, die Befreiung und Liebe zur Folge hat - ein Film, der von Bresson stammen könnte, aber eigentlich noch besser ist. Das alles in Dumonts Stil, aber atmosphärisch dichter denn je, traumwandlerisch und emotional, mit Anspielungen und Verweisen souverän spielend, ein Film, den man lässig nennen müsste, wäre er nicht so streng. Ein Meisterwerk und eine logische Goldene Palme.

Rüdiger Suchsland

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